Dorothea Dieckmann (c) Marcus Hammerschmitt

Dorothea Dieckmann

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Dorothea Dieckmann wurde 1957 geboren. Mit sechs Jahren begann sie, Geschichten in Blindbände zu schreiben. Im Alter von neun Jahren erlebte sie eine Zäsur: Aus den Geschichten verschwand das Geschehen, und zugleich wuchs ihr Umfang sprunghaft an. Ihre Schwester, die auf jeder Doppelseite ein Bild neben die Geschichten malte, hatte keinen Platz mehr. Das Kind hatte das Beschreiben erfunden.

In ihrer Familie, einem freundlichen Irrenhaus, wurden ihre Geschichten veröffentlicht. Sie galt als kleine Schriftstellerin. In der Pubertät fand sie heraus, dass das Schreiben ein Geheimnis ist, und begann, es zu verstecken. Erst nach Studium, Lehreraus­bil­dun­g, Familiengründung und Berufsbeginn gab ein Literaturpreis den Anstoß, die Zeitschrift manuskripte druckte Erzählungen. Dieckmanns erstes Buch Unter Müttern, die satirische Analyse eines Zwangssystems, wurde zum sogenannten Erfolg: Interviews, TV-Talkshows, hohe Verkaufszahlen. Verleger drängten sie weiterzumachen: Sie sollte zur populär-provozierenden sozial-feministischen Sachbuchautorin werden. Sie lehnte ab. Das war die zweite Zäsur.

Sie hatte die Literatur gewählt. So entdeckte sie deren Marktwert: Sie musste wieder ganz unten anfangen. Zugleich quittierte sie den Lehrerberuf und zog für eine Weile nach Rom – Anfang einer Existenz, in der sie ihr Brot und ihr Schreiben mit Tausenden Kritiken für ZEIT, NZZ und Rundfunk finanzierte. Die Personalunion einer Schriftstellerin mit einer Kritikerin, die keine Klappentextsätze verfasst, keine »Feigheit vor dem Freund« zeigt und Autoritäten mit dem Blick des Kindes aus Des Kaisers neue Kleider begegnet, bescherte ihr manche Bisswunden und blaue Flecken. Zwanzig Jahre und acht Bücher später verließ Dorothea Dieckmann ihre Wahlheimat Hamburg und quittierte auch diesen Beruf, dessen Niedergang sie erlebt hatte: die dritte Zäsur.

Einer der Anlässe des neuen Aufbruchs war der Aufenthalt als Stadtschreiberin in Dresden, der viele Verkrustungen kenntlich machte und löste. Die Elbe begann wieder zu fließen und füllte die Zeilen eines Langgedichts. In der Folgezeit beherzigte sie, ohne ihn noch zu kennen, Kierkegaards Satz »Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben muss man es aber vorwärts«: eine Doppelrichtung – allerdings in umgekehrter Form: Leben kann man das Leben nur vorwärts, verstehen muss man es aber rückwärts.

Ein solcher Rückblick aus der Vorwärtsbewegung war, nach langem öffentlichem Schweigen, die Erzählung Kirschenzeit. Dieser Blick ist eingebettet in einen Horizont, der nach rückwärts immer weiter, nach vorwärts immer enger wird. Während die Kritik, so Dieckmann, ihren Namen verspielt und die Literatur zur marktgängigen Zeitdiagnose und Talentshow verdirbt, schaut sie, bei kürzer werdender Lebenszeit, zurück nach vorn auf ein Leben voller Anfänge, die zur Sprache kommen wollen, dem Ort der Belebung und Verwandlung. Dahin will sie schreiben – ins Offene.

Dorothea Dieckmann war Dresdner Stadtschreiberin 2009.

Veröffentlichungen (Auswahl)

  • Kirschenzeit. Faber & Faber, Leipzig 2019.
  • Sommer in Dresden – Ein Gedicht. Langgedicht. Verlag Ulrich Keicher, Warmbronn 2017.
  • Termini. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2009.
  • Harzreise – Eine Erzählung. Weissbooks, Frankfurt am Main 2008.
  • Guantánamo. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2004.
  • Sprachversagen. Essay. Droschl, Graz 2002.
  • Damen & Herren. Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2002.
  • Belice im Männerland – Eine wahre Geschichte. Berlin Verlag, Berlin 1997.
  • Die schwere und die leichte Liebe. Novelle. Berlin Verlag, Berlin 1996.
  • Wie Engel erscheinen. Rotbuch Verlag, Hamburg 1994.
  • Kinder greifen zur Gewalt. Essay. Rotbuch Verlag, Hamburg 1994.
  • Unter Müttern – Eine Schmähschrift. Rowohlt Berlin, Berlin 1993.

Auszeichnungen

  • Arbeitsstipendien im Projekt Salem2Salem, Schloss Salem, Bodensee / Salem Village, New York 2016 und 2017
  • Stipendium des Landes Oberösterreich – Salzamt Linz 2015
  • Dresdner Stadtschreiberin 2009
  • Stipendium des Deutschen Literaturfonds für den Roman Termini 2008
  • Gast beim P.E.N. World Voices Festival of International Literature New York 2007
  • Stipendium der International Writer’s Colony, Ledig House, Ghent/NY 2004
  • Marburger Literaturpreis für Die schwere und die leichte Liebe 1998
  • Stipendienaufenthalt in Schloss Wiepersdorf 1997
  • Hamburger Förderpreis für Literatur 1990