Dinçer Güçyeter © Yavuz Arslan
16.09.2024
Annett Groh

»Alles ohne Melodie macht mir ein wenig Angst«

Im Gespräch mit Dinçer Güçyeter

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Dinçer Güçyeter kommt am 19. September mit seinem autobiographisch grundierten Roman »Unser Deutschlandmärchen« nach Dresden. In dem Buch erzählt er die Geschichte seiner Familie, die in den 60er Jahren als türkische Gastarbeiter nach Nordrhein-Westfalen kamen. Die Eltern arbeiteten viel und siedelten sich dauerhaft in einem Städtchen nahe der niederländischen Grenze an. Dort lebt der gelernte Werkzeugmechaniker Dinçer Güçyeter auch heute noch. Er führt mit dem Elif-Verlag einen der wichtigsten kleinen Verlage für deutsche und internationale Gegenwartslyrik.

 

In deinem Buch »Unser Deutschlandmärchen« hast Du gleich zu Beginn deine Großmutter einen Satz sagen lassen, der es wie ein Schlüssel aufschließt: »Wenn deine Wurzeln nicht derselben Erde angehören, bist du verdammt.«

Dieses Gefühl kann man vielleicht auch »Bruch« nennen. Auch wenn du zu einer jüngeren Generation gehörst und diese Entwurzelung nicht direkt miterlebt hast, wächst du in diesem »Bruch« auf. Das Gefühl überträgt sich, ohne dass du es merkst. Bei mir in der Familie waren es drei Frauen: Ayse (Urgroßmutter), Hanife (Großmutter) und Fatma (Mutter), alle drei mussten auswandern und ein neues Leben aufbauen. Natürlich bin ich von diesem Gefühl nicht unberührt geblieben.
Unabhängig von der geographischen Lage habe ich auch solche Erfahrungen gemacht. Ich betrat 1996 als Lehrling den Werkzeugbau mit über 40 Männern. Für viele war ich der Türke, die Berührungsängste merkst du sofort. Drei Kollegen, die mich sofort angesprochen und in den Pausen zu sich geholt haben, waren Männer, die als Kind während des Zweiten Weltkrieges von ihren Eltern aus Dresden oder Leipzig in einem Zug ohne Begleitung nach NRW zu den Verwandten geschickt wurden. Hier sieht man wieder diesen Bruch.

Du hast mal gesagt: »Nichts kommt aufs Blatt, was auf meiner Haut keine Spuren hinterlassen hat.« Dein Roman verfällt jedoch niemals in einen klagenden Ton.

Weißt du, das Orchester von Goran Bregović nennt sich »Hochzeit und Beerdigung«, das gefällt mir sehr. Ist nicht jede Lebensgeschichte so strukturiert? Neben jedem Leid, jeder Entbehrung blüht wieder Hoffnung auf. Meine Oma Hanife hatte einen ganz starken Humor, der an einigen Stellen im Roman die dramatische Lage auflockert. Allgemein wollte ich die Frauen auch nicht nur als Leidende darstellen, das wäre ein Verrat am Leben. Sie waren stark, haben gearbeitet, haben versucht, ihr eigenes Leben zu leben – das darf nicht vergessen werden.

Ich hätte erwartet, dass der Roman im Ton deiner Facebook-Postings geschrieben ist: pragmatisch mit trockenem Humor. Tatsächlich gleicht er eher deinen Gedichten: Er ist wie eine Vielzahl von Gesängen.

Die erste Idee meiner Verlegerin war, aus meinen Postings ein Buch zu machen. Diese Idee habe ich aber zur Seite gelegt und mit einer Recherche begonnen: Die Orte in der Ägäis, Ionien, Anatolien, Deutschland, am Niederrhein, die große Einwanderung nach Deutschland nach dem Anwerbeabkommen. Die Ghettos, die in Deutschland entstanden sind. So wurde mir klar, dass der Text eine neue Komposition braucht, die Orient und Okzident vereint.
Es entstand eine große Palette mit Zeitdokumenten, Liedern, Märchen, Gesängen, Gebeten. Die Frauen in meinem Leben haben immer gerne gesungen, ob nachts am Bett, in der Küche, in der Fabrik oder auf dem Spargelfeld am Niederrhein. Ich habe versucht, dieses reiche Fundament von eigenen Tönen einzubauen: mal als Chor, als Solo, in einem Rap-Song, in einem Volkslied oder in Gedichten. Auf einmal wurde aus Hanife eine Diva wie Maria Callas, Ayse stand wie Madame Butterfly vor meinen Augen, Fatma wie eine Mischung aus Umm Kulthum und Hildegard Knef. Es war für mich beim Schreiben eine große Freude, diese Figuren auf unterschiedlichen Brettern zu zeigen. Und wie Mikis Theodorakis einmal gesagt hat: »Alles ohne Melodie macht mir ein wenig Angst.« So tickt auch der Dinçer. Melodien sind die Basis meiner literarischen Arbeit.

Hast Du keine Angst vor Kitsch?

Ach, weißt du, in einer Zeit, wo die Hälfte der Welt untergeht, mache ich mir darum keine Gedanken. Mit Demagogie hätte ich ein Problem, das ist aber ein anderes Level. Ich mache, was mir gefällt. Und wenn Kitsch, dann ist es eben so. Hauptsache, es kommt zu einer Berührung. Ich will berühren und berührt werden, alles andere liegt bei mir gar nicht auf der Waage. Ich will mir auf dieser kurzen Reise – meinem Leben – diese Freiheit erlauben. Ein Beispiel aus meinem alltäglichen Leben: Yilmaz, mein Sohn, hat letztens für seine Arbeit im Kunstunterricht eine Fünf bekommen. Er kam nach Hause, legte die Zeichnung auf den Tisch und sagte uns: »Bleibt mal locker, das ist meine Kunst!«

Dein Verlag ist inzwischen hoch angesehen – wie hast Du das geschafft? Und rentiert sich Elif finanziell?

Bei dieser Frage bin ich immer überfordert. Lange Jahre habe ich lange Fahrten in Flixbussen gemacht, Buchhandlungen, Messen, Veranstalter überfallen, um die Bücher aus meinem Programm unter die Leser zu bringen. Es herrschen starke Hierarchien auf dem Buchmarkt – und dann kommt so ein Typ wie ein Marktschreier und versucht, Lyrik zu verticken. Man hat mich vor die Tür gestellt und ich habe nach dem Fenster gesucht – so ging es hin und her. Aber dieses Jahr wird Elif auf der Leipziger Buchmesse mit dem Kurt-Wolff-Förderpreis 2023 ausgezeichnet. Natürlich wäre dieser Erfolg ohne meine Mitarbeiter und ohne die wunderbaren Autoren und Übersetzer nicht möglich gewesen. Wie in jedem guten Betrieb ist es Teamarbeit. Und ob es sich rentiert? Noch steht kein Lamborghini vor der Haustür, und für eine Übernachtung im Burj Al Arab in Dubai braucht es auch noch ein wenig. Ich habe mir 2021 von dem Geld, das nach allen Zahlungen, Steuern usw. für mich blieb, das Gesamtwerk von Thomas Bernhard gekauft. Das ist schöner als Dubai.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Dieses Interview erschien zuerst im DRESDNER Kulturmagazin 3/2023. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.