Katharina Bendixen © Christiane Gundlach | Helge Pfannenschmidt (c) Sascha Kokot
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04.08.2022
Katharina Bendixen mit Helge Pfannenschmidt

»Blickwechsel«

Briefe der Stadtschreiberin

Zurück

Lieber Helge,

die Kinder sind da! Und sie wollen alles gleichzeitig: Hörspiele hören, das Erlebnisbad besuchen, die Bibliothek, das Verkehrsmuseum, das Kindertheater … Kennst du diese harten Wechsel von der familienfreien Zeit zurück in die Familie? Die Freude ist groß, gleichzeitig muss man sich auf das neue Energielevel erst wieder einstellen. Manchmal kommt es mir vor, als gäbe es nur diese zwei Möglichkeiten – entweder mit Kindern und erschöpft oder ohne Kinder und sehnsüchtig. Du hast erzählt, dass du genauso gern Podcasts hörst wie ich. In meinem Lieblingspodcast wird oft über neue Formen des Zusammenlebens nachgedacht, über Häuser mit kleinen Rückzugs- und großen Gemeinschaftsbereiche. Diese Vorstellung finde ich faszinierend, obwohl ich auch unsicher bin, ob das zu mir und meiner Persönlichkeit passt. Könntest du dir ein solches Gemeinschaftsleben vorstellen, oder bist du in der bürgerlichen Kleinfamilie zufrieden? Das habe ich jetzt sehr tendenziös gefragt.

Und schon wieder habe ich als Mutter geschrieben, stelle ich gerade fest, und nicht als Autorin. Oder vielleicht habe ich auch als Mensch geschrieben, ich weiß es nicht. Jedenfalls bringt mich das zurück zu der Frage, über die wir nach meiner Antrittslesung gesprochen haben. Ich war ein wenig irritiert, dass ich eher als Mutter denn als Autorin vorgestellt wurde, und wusste nicht, wie ich mich dazu verhalten soll. »Rollenverwirrung« nennt meine Freundin Sibylla Vricic Hausmann das, und Kirsten Fuchs hat einmal geschrieben, sie werde »vermuttert«. Werden dir solche Rollen auch manchmal übergestülpt? Oder anders gefragt, wärst du manchmal gern mehr Vater, wirst aber als Mann gar nicht so wahrgenommen?

Und eine dritte Frage habe ich noch an dich, denn mein Briefwechsel mit Frauke Angel aus dem Juni endete abrupt. Wir haben über das politische Klima in Dresden und unsere Scheu vor Auseinandersetzungen geschrieben. Was denkst du, woher diese Scheu stammt? Oder empfindest du sie nicht so sehr wie Frauke und ich?

Mit dieser schwierigen Frage endet mein Brief: Die Kinder rufen.

Auf bald

Katharina

PS: Kennst du den Roman Das Loch von Simone Hirth? Darin schreibt sie von einer Mutter, und manchmal brechen die Sätze einfach ab, weil ihr Baby schreit. Ein sehr empfehlenswertes Buch! Und da ich jetzt doch wieder bei den Kindern angekommen bin: Hast du noch einen Geheimtipp für uns vier in Dresden? Am liebsten mag ich Orte in der Natur.

 

Liebe Katharina,

ich kenne das Gefühl der fehlenden Balance, das Du oben beschreibst, nur zu gut. Wir sind ja vergleichsweise spät Eltern geworden, und als es – endlich – so weit war, dachte ich: Du hast Deine Jugend jetzt schon schamlos ins vierte Lebensjahrzehnt ausgedehnt, jetzt reicht’s mit der Selbstverwirklichung. Keine Ich-Zeit mehr zu haben, fand ich fast befreiend. Aber nach ein paar Jahren fiel mir auf: Ich kenne mich gar nicht mehr und ich weiß auch in manchen Fragen nicht, was ich will. Seitdem bin ich alle paar Monate zumindest mal ein Wochenende allein unterwegs, um Kontakt mit mir aufzunehmen. Und sei es nur, um zu merken, dass mir meine Familie schon am zweiten Tag fehlt. Und ich liebe die kleinen Fluchten im Alltag: wenn ich mich früh allein mit ‘nem Kaffee hinsetze, eine Platte auflege, nichts mache, ganz bewusst unnütze.

Auf Deine zweite Frage muss ich Dir eine theoretische und eine praktische Antwort geben: Theoretisch finde ich gemeinschaftliche Lebens- und Familienmodelle extrem spannend, die gegenwärtigen, aber auch die »Experiments in Living« vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Dass die bürgerliche Kleinfamilie fast zwangsläufig Überforderung mit sich bringt, wird kaum noch jemand bestreiten. Aber ich weiß eben auch, dass ich ein Mensch bin, der Abhängigkeiten um jeden Preis vermeidet, und ich habe in meinem Leben neben schönen auch sehr ernüchternde Erfahrungen mit Kollektiven gemacht. Seitdem weiß ich: Privatheit und persönliche Freiheit sind mir, zumindest in meiner jetzigen Lebensphase, wertvoller und wichtiger als Gemeinschaft – was das Wohnen angeht. Mit Blick auf das Arbeiten sieht es anders aus, da habe ich mich ja bewusst vor zwei Jahren entschieden, kein Einzelkämpfer mehr zu sein und meinen Verlag unter ein anderes Dach zu stellen. Ich hatte keine Lust mehr, alles allein zu denken und zu entscheiden. Zudem steht mir mit dem Zentralwerk in Dresden-Pieschen, wo ich mein Büro habe, täglich ein beeindruckendes Beispiel dafür vor Augen, was Kollektive schaffen können. Du musst mal zu Besuch kommen.

Über Deine dritte Frage muss ich, fürchte ich, noch ein wenig nachdenken. Ich kenne die von Dir beschriebene Scheu vor Auseinandersetzungen und ich weiß auch, dass sie dieser Stadt nicht gut tut. Woher sie kommt? Da gibt es so viele Möglichkeiten: eine eher schwach ausgeprägte Zivilgesellschaft, mangelnde Identifikation mit der Stadt und/oder dem Staat … Was jedenfalls nicht der Grund ist: eine ostdeutsch geprägte Erziehung und Sozialisierung. Denn der Befund müsste ja dann auch die andere Seite mit einschließen – und die scheut keine Auseinandersetzung, die sucht sie sogar recht offensiv.

Zum Schluss noch ein Tipp für eine Flucht aus dem Alltag. Als gebürtiger Thüringer suche ich ja immer nach Bergen oder mindestens Hügeln in der Nähe, weil mich nichts so beruhigt wie die Modelleisenbahn-Perspektive auf meine Umgebung. Fahrt mit den Rädern mal auf der Altstadtseite an der Elbe entlang stadtauswärts. Zwischen Ostragehege und Alberthafen erhebt sich ein begrünter Trümmerberg, aufgeschichtet aus dem Schutt der Nachkriegszeit. Hier sitz ich gern, mit freiem Blick in alle Richtungen, und hol mir zurück, was im Alltag so oft und so schnell verlorengeht: den Überblick.

Hab’s gut, genieß die Zeit hier und schreib mal wieder

Helge

 

Lieber Helge,

danke erst einmal für den gemeinsamen Spaziergang zwischen unseren Briefen und für deine Tipps! Die Pizza ist perfekt, der Kaffee auch, die Kletterhalle wollten die Kinder gar nicht mehr verlassen, und das Eselnest steht auf dem Plan für die kommenden Tage, wenn die Hitze etwas nachlässt. Nach sieben Wochen in Dresden setzt sich die Stadt langsam zusammen, ich kenne die Wege, die Straßenbahnlinien, die Supermärkte, die Graffitis … Das Unbekannte ist vertraut geworden, und diese Vertrautheit enthält gleichzeitig den Abschied: Irgendwann werde ich zum letzten Mal einkaufen, zum letzten Mal in das kühle Wasser der Schwimmhalle am Freiberger Platz steigen, zum letzten Mal am Spielplatz sitzen. Und wenn ich dann zurückkehre, werde ich neben diesem Vertrauten Neues vorfinden, das mir dieser Tage nicht aufgefallen ist. Ich mag es, wie der Blick sich verändert.

Die Tatsache, dass sogar mein eigener Blick sich im Laufe von wenigen Wochen ändern kann, bringt mich gleich zu deiner Antwort auf meine dritte Frage. Ich bin vor allem bei der mangelnden Identifikation mit dem Staat hängengeblieben, darüber habe ich gerade etwas in einem Podcast mit einer Friedens- und Konfliktforscherin gehört. Sie meint, dass von dieser mangelnden Identifikation eine Gefahr ausgeht, die gar nicht unterschätzt werden kann. Das hat mich aufgeschreckt. Gleichzeitig frage ich mich, ob ich dir darin zustimme, dass die andere Seite – also »wir«, wer auch immer »wir« ist – die Auseinandersetzung wirklich noch sucht, oder ob »wir« bestimmte gesellschaftliche Gruppen nicht schon aufgegeben haben. Und wenn ja, was das für die Gesellschaft bedeutet. Kannst du dich erinnern, wann du zuletzt mit jemandem diskutiert hast, der in grundlegenden Dingen nicht deiner Meinung war? In meinem Leben gab es in den vergangenen Monaten zwei, höchstens drei solcher Situationen. Einmal ging es um Corona, ein anderes Mal ums Gendern, und jedes Mal habe ich das Gespräch nach kurzer Zeit freundlich umgelenkt, weil bis auf den Austausch unterschiedlicher Haltungen nichts passierte. Aber wohin kann, wohin soll so ein Gespräch eigentlich führen? Natürlich geht es nicht darum, den anderen von etwas zu überzeugen. Aber wenn jeder nur seine Haltung beschreibt, wie viel ist damit gewonnen?

Aber jetzt wird es sehr theoretisch, ebenso theoretisch wie unsere Sympathie für kollektive Wohnformen, bei der ich nicht weiß, ob ich sie amüsant finden oder bedauern soll. Am Ende schreibe ich dir jedenfalls noch zwei ganz bodenständige Eindrücke meiner vergangenen Dresdner Woche: Bei der Klotzscher Literaturwoche habe ich einem sehr bereichernden Gespräch über vier neue Bücher zugehört. Vor allem Jayne-Ann Igel wollte ich sprechen hören, deshalb habe ich auch die Literaturshow von Anaïs Meier verpasst. (Bestimmt warst du dort, wie war es?) In Klotzsche habe ich jedenfalls eine sehr offene Veranstaltung erlebt, ebenso wie im Lesegarten der Buchhandlung LeseZeichen, in dem die neuen Lyrikbände von Patrick Beck, Volker Sielaff und Patrick Wilden vorgestellt wurden. Schade, dass jetzt erst einmal Sommerpause ist.

Eine gute Woche wünsche ich dir. Den Trümmerberg, den du mir empfohlen hast, hebe ich mir für kühleres Wetter auf. In dieser Woche haben wir uns in den Prießnitzgrund verzogen. Auch wenn ich Dresden und Leipzig nicht vergleichen möchte, muss ich in diesen Tagen doch zugeben: Eine solch gute Fluchtmöglichkeit vor der Sommerhitze gibt es in Leipzig meines Wissens nicht.

Auf bald

Katharina

 

Liebe Katharina,

ich liebe Tage, an denen ich schöne neue Wörter kennenlerne – heute war wieder so einer. »Poolscham« heißt es und ich musste es erst mehrmals von verschiedenen Seiten bestaunen, ehe es klick gemacht hat. Ich selbst habe zwar kein Planschbecken, aber das Wort spricht mich an, weil es stellvertretend für die Schwierigkeit steht, sich im Sommer 2022 unschuldig über Sonne und Badewetter zu freuen. An den heißen Tagen der letzten zwei Wochen war das Unwohlsein richtig körperlich zu spüren, als Brennen auf der Haut. Meine 6-jährige Tochter wird andere Sommer erleben als ich. Hoffentlich auch ein paar unbeschwerte.

Du wolltest wissen, wann ich zuletzt mit jemandem diskutiert habe, der in grundlegenden Dingen anderer Meinung ist? Ich glaube, das tue ich relativ häufig, und ich denke auch nicht, dass sich da unweigerlich Haltungen starr gegenüberstehen – vorausgesetzt, beide Seiten sind interessiert an einem Erkenntnisgewinn. Rückblickend waren für mich immer die Gespräche und Bücher am wertvollsten, die mich (zunächst) irritiert haben. Deswegen trat die edition AZUR ja auch mit dem Slogan »Lesen macht unsicher« an, es war der Versuch, einen eher negativ besetzten Begriff positiv zu besetzen. Wer diese Bücher liest, so das Versprechen, riskiert, dass sprachliche, poetische, weltanschauliche Positionen ins Rutschen kommen.

Die entscheidende Frage ist natürlich: Was heißt »in grundlegenden Dingen«? Um Dein Beispiel mit dem Gendern aufzugreifen: Ich halte das nicht für eine grundsätzliche Frage. Grundsätzlich würde es für mich erst werden, wenn jemand nichts mit den dahinter stehenden Ideen (Partizipation, Recht auf ein selbstbestimmtes Leben für alle Menschen, Abbau von Diskriminierung) anfangen kann. Da wäre ich raus. Aber wenn man »nur« über den richtigen Weg dorthin streitet, ist das für mich eben keine grundsätzliche Frage. Dazu kommt: Du kannst ja keinem in den Kopf schauen. Wenn man beim Auseinandergehen noch derselben Meinung ist wie vorher, heißt das nicht, dass die Dinge nicht doch weiter in einem arbeiten. Das dauert ‘ne Weile, bis man das merkt. Und noch länger, bis man es jemandem anderem gegenüber zugibt.

Vielleicht wären die Gräben nicht so tief, wenn wir alle rhetorisch ein wenig abrüsten würden. Und weil du mich nach dem letzten konkreten Mal gefragt hast, bei dem ich mich mit jemandem »gestritten« habe – da ging’s natürlich um den Krieg in der Ukraine, um die Überzeugung, das sei ein Stellvertreterkrieg, und die Amis hätten das Ganze provoziert, u. a. um Russland als Energielieferant für Deutschland zu ersetzen. Was soll ich sagen: Das regt mich wahnsinnig auf. Aber niemals würde ich wegen diesem Dissens eine Freundschaft aufkündigen.

Worüber ich gerade nachdenke: Warum gelingen mir diese Gespräche weit besser mit Menschen, die ich schon lange Zeit kenne? Würde ich einem/einer Fremden genauso offen gegenübertreten wie jemandem, den ich aus der Kindheit kenne? Vermutlich nicht, aber warum kann ich da toleranter sein? Weil ich bei älteren Bekannten zu wissen glaube, woher eine bestimmte Position kommt?

Gestern war ich übrigens in Leipzig, bei einer Lesung der »Tippgemeinschaft« im Hinterhof der tollen Buchhandlung Rotorbooks. Beim ersten Gedicht der ersten Autorin rollte ein Kind so laut mit seinem Bobbycar durch den Hof, dass man kein Wort verstand. Irgendwann wurde es so speziell und DLL-intern, dass ich der Bobbycar-Fahrerin rückblickend sehr dankbar bin für ihre Intervention und diesen Einbruch der Wirklichkeit.

So, jetzt heißt es Sachen einpacken und raus in Richtung Wochenende. Ich würde mich freuen, wenn wir uns demnächst noch mal sehen und hören.

Liebe Grüße

Helge