Katharina Bendixen (c) Christiane Gundlach | Roman Israel (c) Gert Mothes
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01.09.2022
Katharina Bendixen mit Roman Israel

»Blickwechsel«

Briefe der Stadtschreiberin

Zurück

Lieber Roman,

seit drei Tagen bin ich zurück in Leipzig, sortiere den Inhalt der Koffer und mich selbst, schiebe Termine hin und her, treffe Freunde und Familie, plane Reisen, auch nach Dresden – und kann nur schlecht tippen, weil ich heute Morgen um 6 Uhr 30, als ich zum ersten Mal seit mehreren Wochen wieder die Brotdosen für den Kindergarten gefüllt habe, mit dem Messer allzu hastig war und mir eine tiefe Schnittwunde am linken Zeigefinger beigebracht habe.

Wir wollen uns austauschen über das Leben in Leipzig und in Dresden. Zwei Monate habe ich in Dresden gelebt, in den kommenden vier Monaten werde ich gelegentlich zurückkehren, dann wird wieder Leipzig mein Lebensmittelpunkt sein. Du dagegen bist in beiden Städten zu Hause. In welcher Stadt bist du jetzt gerade? Wie geht es dir mit den zwei Haushalten, mit den vielen Zugfahrten? Sind die Bücher, die du lesen willst, nicht immer gerade in der anderen Stadt? Besitzt du zwei Bibliotheksausweise, zwei Kühlschränke, zwei Telefonanschlüsse? Wann empfindest du das Leben in den zwei Städten als Vorteil, wann ist es für dich ein Nachteil? Was vermisst du, wenn du in Leipzig bist, und was vermisst du in Dresden?

Ich habe mir vorgenommen, möglichst wenige Vergleiche zwischen den beiden Städten anzustellen, so wie ich überhaupt viel weniger vergleichen möchte. (Darüber versuche ich gerade, eine neue Kindergeschichte zu schreiben.) Dass ich die Weite der Elbe vermisse, gebe ich aber gern zu, genauso wie die vielen tollen Museen und die wunderbare Zentralbibliothek. Und die Ruhe: Der Schnitt an meinem Zeigefinger ist der Beweis, wie schnell die Alltagshektik wieder Einzug gehalten hat. Aber ich glaube, das hat weniger mit der Stadt zu tun als vielmehr mit meinem freieren Tagesablauf in den vergangenen zwei Monaten. Auch diese Freiheit vermisse ich. Und freue mich gleichzeitig an den vielen Radwegen in Leipzig, am Park, an der Nähe zu Freunden, der Rückkehr zu meiner Familie und alten, bewährten Routinen.

Herzlich durch den Sommer, schreibst du gerade? Oder feierst du noch die Nominierung zur Hotlist? Jetzt würde ich gern noch fragen, wie viel dir solche Auszeichnungen bedeuten, aber der Brief ist schon so lang.

Also: auf bald,

Katharina

 

Liebe Katharina,

ich bin ebenfalls gerade in Leipzig angekommen, packe aus, wasche Wäsche, gehe einkaufen und stelle für die nächsten drei Tage die Routinen von einem Drei-Personen-Haushalt auf einen Ein-Personen-Haushalt um. Natürlich ist vieles bei mir doppelt vorhanden. Mal abgesehen von meinem Notebook. Das und die Bücher, die ich gerade lese, fahren immer mit mir hin und her. Einen Bibliotheksausweis besitze ich nur für eine Stadt. Beim Kauf von Drogerie-Artikeln muss ich stets zwei Zahnpastatuben im Blick haben, die leer sein könnten. Mit dem Zug unterwegs zu sein, bedeutet immer auch, alles im Rucksack transportieren zu müssen. Gewicht minimieren ist bei mir oberstes Gebot.

Auf diese Weise zu leben, empfinde ich dahinhingehend als vorteilhaft, dass sich durch die Nähe beider Städte zueinander berufliche Netzwerke, Kooperationen, auch enge Freundschaften leicht aufbauen und pflegen lassen. In meinem Kopf sind Dresden und Leipzig zu einer Einheit verschmolzen, zu einer einzigen Stadt mit zwei großen Stadtteilen. Ich bin ebenfalls kein Freund von Leipzig-Dresden Vergleichen und würde eher sagen, beide ergänzen sich recht gut. Von Haustür zu Haustür summieren sich Zug-, S-Bahn-Fahrt und Fußweg allerdings am Ende doch auf drei Stunden. Die fehlen dann manchmal beim Arbeiten oder der Freizeitgestaltung. Da ich in Abständen von wenigen Tagen zwischen den Orten hin und herwechsle, kommt es eigentlich nicht vor, dass ich etwas vermisse, was sich gerade in der anderen Stadt befindet. Die Durststrecke ist kurz und ich genieße die Abwechslung, gerade im Hinblick darauf, dass beide Städte ihr urbanes Gesicht auf so unterschiedliche Weise präsentieren; und ich mag es, über den Tellerrand zu schauen. Dazu kommt, dass ich in beiden Städten in jeweils konträren Welten lebe. Hier im Szeneviertel, dort am Stadtrand, hier im Alt-, dort im Neubau. Hier allein, da in Familie. Zugleich Innen- und Außenperspektive zweier Lebenswelten einnehmen zu können, sehe ich als großes Geschenk.

Was du über den freieren Tagesablauf während Deines Aufenthalts als Stadtschreiberin in Dresden schreibst, kann ich gut nachvollziehen. Bei mir ist es ähnlich. In Dresden prägen und strukturieren die Arbeitszeiten meiner Partnerin, frühes Aufstehen, früher Schulbeginn, Hausaufgabenbetreuung und Haushalt meinen Tag. Stets gibt es etwas zu besorgen, zu erledigen, umzudisponieren, und selten stellt sich die nötige Ruhe ein, um kreativ arbeiten zu können. Ich versuche mich in Dresden daher auf die organisatorischen Dinge meiner Arbeit zu konzentrieren und in Leipzig entstehen dann die Texte. Musst du dir auch solche Freiräume im Bezug aufs Schreiben schaffen? Benötigst du einen separaten Raum, wo du die Tür hinter dir schließen kannst? Oder kannst du beim Arbeiten die Welt um dich herum ausblenden? Wie funktionierte das in der Stadtschreiberwohnung in Dresden? Gab es da so etwas wie ein Arbeitszimmer, in welchem du für ein paar Stunden verschwinden konntest, während sich dein Partner um die Kinder gekümmert hat?

Zuletzt noch zu deiner Frage, ob ich gerade schreibe: Ich arbeite momentan am Skript für einen Dokumentarfilm, der zusammen mit Hechtfilm Filmproduktion Dresden entsteht. Dass Nektar Meer Kandidat für die Hotlist ist, ist großartig und bedeutet mir viel – schon deshalb, weil es vom ersten Satz bis zum Erscheinen des Romans unglaubliche acht Jahre gedauert hat. Letztlich war es Teamarbeit, ein großes Gemeinschaftsprojekt, und so können wir uns alle zusammen darüber freuen. Ich habe meinen Part beigesteuert. Bob Sala, der mit seiner Kamera die einzelnen Handlungsorte dieses »Roadmovies« durch Osteuropa ansteuerte, seinen Teil. Und der Verlag, die Edition Überland Leipzig, hat alles gestalterisch und kompositorisch zusammengebracht.

Sommerliche Grüße durch die Stadt,

Roman

 

Lieber Roman,

danke für Deine Antwort! Ich finde es schön, wie du die gemeinschaftliche Arbeit an Nektar Meer beschreibst – es sind immer so viele Menschen, die ihren Anteil an der Entstehung eines Buches haben. Jedenfalls drücke ich dir und deinem schönen Verlag die Daumen! Aber irritieren diese Auszeichnungen dich nicht auch manchmal? Auch ich bin ja in Dresden – wenn auch derzeit nur digital – aufgrund einer Auszeichnung, die mir viel bedeutet und die mich ermutigt weiterzumachen. Und doch habe ich bei diesen Formen der Bedeutungszuweisung auch ein ungutes Gefühl. Einerseits denke ich an die Autor*innen, die gerade nicht als »auszeichnungswürdig« bezeichnet werden, obwohl sie es natürlich trotzdem sind – es gibt so viele, die unter dem Radar laufen! Und ich denke auch an meine eigenen Texte, die weniger wahrgenommen wurden als andere. An meinen Roman Ich sehe alles beispielsweise, den ich selten zu Lesungen mitnehme, als würde die mangelnde Wahrnehmung ihn schlechter machen. Dabei ist er wahrscheinlich gar nicht schlechter als meine Erzählbände, aus denen ich viel lieber lese, weil sie von außen positiver betrachtet wurden.

Aber wir waren ja eigentlich beim Reisen: Ich sehe alles ist durch eine Reise entstanden, oder vielmehr nach mehreren Aufenthalten in Ungarn, die sich zunächst nur zufällig häuften und die ich dann irgendwann bewusst geplant habe. Wie war das bei dir? Du reist ja nicht nur zwischen Dresden und Leipzig, sondern warst und bist auch viel im Osten Europas unterwegs; das spürt man sehr in Nektar Meer. Kamen zuerst die Reisen und dann die Idee? Oder waren das Recherchereisen, nachdem die Idee bereits entstanden war? Wie wichtig ist es für dein Schreiben, nicht nur zwischen den Routinen des Lebens allein und in Familie zu wechseln, sondern auch einmal ganz auszubrechen und Neues zu sehen, zu spüren, zu erleben? Und wie sehr vertragen sich bei dir längere Reisen mit diesen Routinen?

Ich habe in meiner derzeitigen Lebenssituation oft das Gefühl, dass mir der Raum für mich allein wichtiger ist als ausgedehnte Reisen. Aber wenn ich dann doch einmal aufbreche – wie in diesem Sommer nach Dresden –, merke ich, wie sehr die Gedanken sich in der Ferne sortieren können. Wie Dinge sich klären und Neues entsteht. Bei der Rückkehr übrigens auch. Insofern freue ich mich schon, im September wieder nach Dresden zu reisen. Und nach Leipzig zurückzukehren.

Herzlich,

Katharina

 

Liebe Katharina,

ja, ich empfinde es auch so. Dass viele literarisch hochwertige Bücher unter dem Radar laufen, ist traurig. Ich hatte auch schon manchmal das Gefühl, dass Texte von mir nichts wert seien, weil sie nicht wahrgenommen, viele nicht einmal veröffentlicht wurden. Ich tröste mich damit, dass ich mich – egal ob »preiswürdig« oder in anderer Weise ausgezeichnet – dennoch zu den wenigen zählen darf, die Schreiben als Beruf ausüben können.

Nektar Meer ist erst nach den Reisen nach Osteuropa entstanden. Einige Reiseziele inspirierten mich im Nachhinein, die Geschichte, die bereits vorskizziert war, an einen anderen Ort zu verlegen, und haben nachträglich auf den Charakter des Buches eingewirkt. Grundsätzlich begegne ich jedem Reiseziel so, als sei es ein potentieller Handlungsort, und versuche von Anfang an so viel wie möglich darüber herauszufinden, Stimmungen einzufangen, Thesen aufzustellen, als befände ich mich auf einer Forschungsexpedition.

Natürlich fände ich es schön und auch wichtig, in regelmäßigen Abständen aus den Routinen ausbrechen zu können, um mich mit anderen Formen des Schreibens zu beschäftigen und nicht jedes Projekt nach Zeitplan abzuarbeiten. Aber selbst wenn ich mich in Leipzig aufhalte, stehe ich vermittelt über das Handy immer mit einem Fuß in Dresden, wo es permanent etwas abzusprechen, zu entscheiden oder zu organisieren gibt. Ehrlich gesagt sind längere Recherchereisen oder Stipendien mit Residenzpflicht nicht mehr drin bei mir. Ich muss auf Abruf bereitstehen und jederzeit aufbrechen können, wenn ich gebraucht werde. Das verträgt sich nicht mit den recht starren Regeln, denen viele Aufenthaltsstipendien unterliegen. Deshalb halte ich auch an Leipzig als temporären Arbeitsort fest, er hat die ideale Entfernung und ist ein guter Kompromiss, um einen Ruhepol fürs Arbeiten zu schaffen. Aber das verursacht auch hin und wieder Streit, weil sich meine Partnerin, die voll berufstätig ist, manchmal alleingelassen fühlt und sagt, wenn du jetzt hier wärst, könntest du Wäsche waschen, den Müll runterbringen oder einkaufen gehen, so bleibt das alles an mir hängen. Da prallen manchmal zwei Welten aufeinander, weil Schreiben oft so gar nicht nach Arbeit aussieht. Wahrscheinlich ist das anders, wenn beide im selben Beruf tätig sind. Wie ist das denn bei euch?

Herzliche Grüße,

Roman

 

 

Lieber Roman,

eigentlich ist der Briefwechsel ja nach vier Briefen abgeschlossen, aber es stehen noch so viele Fragen im Raum. Außerdem sind wir bei einem meiner Lieblingsthemen angekommen – Schreiben und Familie. Mein Partner schreibt ja auch und hat dementsprechend vielleicht mehr Verständnis für meine Abwesenheiten. Aber natürlich möchte auch er sich nicht wochen- oder gar monatelang allein um Kinder und Haushalt kümmern – ganz abgesehen davon, dass ich ja gern bei meiner Familie bin. Ich glaube, die wenigsten Autor*innen leben in Zusammenhängen, die sich dem starren System der Residenzen anpassen lassen. Umso erstaunlicher, dass sich dieses System so hartnäckig hält. Zuletzt habe ich in einer Ausschreibung gelesen: »Eine Aufhebung der Residenzpflicht, auch teilweise, ist nicht möglich.« Übersetzt heißt das: Autor*innen, die ihr Verantwortung übernehmt für Kinder oder für ältere Menschen – bewerbt euch nicht! Seht selbst zu, wie ihr eure Arbeit finanziert! Mit euch und eurem Beitrag zur Gesellschaft haben wir nichts am Hut! Darüber könnte ich mich stundenlang aufregen.

Ich bin jedenfalls froh, dass sich die Stadt Dresden auf eine flexible Lösung eingelassen hat, und genieße es gerade, die Schlüssel für zwei Wohnungen zu besitzen – einer Familienwohnung in Leipzig und einer Arbeitswohnung in Dresden, also andersherum als bei dir. Dass ausgerechnet in dieser Zeit das 9-Euro-Ticket verkauft wurde, ist ein zusätzliches Glück. (Auch wenn die Gründe für dieses Ticket natürlich bitter sind.) Und so freue ich mich auf die kommenden drei Monate in Dresden und Leipzig. Da oder dort sehen wir uns sicher bald wieder.

Bis dahin & schöne erste Herbsttage für Dich,

Katharina