Katharina Bendixen © Christiane Gundlach | Emilie Lauren Jones © Chatterbox Magazine
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11.11.2022
Katharina Bendixen mit Emilie Lauren Jones

»Blickwechsel«

Briefe der Stadtschreiberin

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Liebe Emilie,

ich bin gespannt auf unseren Briefwechsel, denn im Gegensatz zu den anderen Briefpartner*innen, von denen ich manche persönlich, andere immerhin textlich kannte, weiß ich von dir fast gar nichts. Wir sind uns nie begegnet, und wenn Rainer Barczaitis von der Deutsch-Britischen Gesellschaft mir nicht geschrieben hätte, wüsste ich nicht einmal, dass Dresden eine Partnerstadt in Südengland hat und dass du derzeit die Poet Laureate dieser Partnerstadt bist. Ich freue mich, dass wir uns auf diesem Wege begegnen!

Dass eine Poet Laureate etwas anderes ist als eine Stadtschreiberin, haben wir bereits festgestellt: Während ich für ein halbes Jahr von Leipzig nach Dresden gekommen bin, bist du in Coventry geboren, lebst immer noch dort und begleitest das Leben dieser Gegend für zwei Jahre. Auf welche Weise tust du das, und welche Möglichkeiten stellt dir Coventry dafür zur Verfügung? Ich bekomme für die sechs Monate meiner Stadtschreiberinnenschaft eine Wohnung in Dresden und sehr viel Zeit. Na gut, eigentlich bekomme ich Geld, aber du kennst das: Geld bedeutet Zeit zum Schreiben von Texten, von denen man oft erst ganz zuletzt weiß, ob sie sich in Bücher – also Geld – übersetzen lassen. Ich bin jetzt in meinem fünften und damit vorletzten Monat als Stadtschreiberin, und ich schreibe, verwerfe, schreibe neu. Und ich versuche etwas, was du in deinem Gedicht über Coventry so ausgedrückt hast: »Too many stories stay / stored away in heads, / unread.« Ich versuche, die Geschichten von Menschen, die in sozialen Berufen arbeiten, in die hiesige Tageszeitung zu bringen. Für welche Geschichten interessierst du dich?

Rainer Barczaitis hat mir auch erzählt, dass du im Zuge der Städtepartnerschaft für fünf Tage in Dresden zu Besuch warst. Wie hast du die Stadt empfunden, hattest du etwas Bestimmtes erwartet? Kanntest du Dresden schon, kennst du andere deutsche Städte? Wie schaust du von Großbritannien nach Deutschland, nach Mitteleuropa, nach Osteuropa? Aber wahrscheinlich ist diese Frage für diesen Briefwechsel zu groß. Ich habe noch eine andere Frage, die vielleicht etwas kleiner ist: Ich weiß, dass du hauptsächlich Lyrik schreibst. Ich dagegen schreibe fast ausschließlich Prosa – für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Hast du deine Gattung bewusst gewählt, oder ist Lyrik einfach die Weise, in der die Texte zu dir kommen? Eine Freundin von mir – Lyrikerin wie du – meinte neulich zu mir, dass sie über das Tagebuchschreiben zum Schreiben gekommen ist und dass das Schreiben für sie schon immer eine Suche nach Erkenntnis war, und deshalb ist sie bei der suchenden Form der Lyrik geblieben. Geht es dir genauso? Eigentlich suche ich auch, vor allem in meinen Texten für Erwachsene, und ich habe mich gefreut, als einmal eine Leserin zu mir sagte, dass meine Erzählungen in ihrer Dichte für sie fast wie Gedichte seien.

Ich schicke dir herzliche Grüße aus Dresden!
Katharina

 

Hallo Katharina,

auch ich freue mich, dass Rainer Barczaitis uns miteinander in Kontakt gebracht hat. Ich freue mich sehr darauf, mehr über die Stadtschreiberin von Coventrys Partnerstadt zu erfahren!

Zuerst interessiert mich, inwiefern sich unsere Stipendien unterscheiden. Wie gut hast du Dresden kennengelernt, seit du dein Amt angetreten hast, und welchen Einfluss hat deine Stadtschreiberinnenschaft auf dein Schreiben? Ich bin die erste Poet Laureate von Coventry. Andere Städte und Landkreise ernennen schon seit vielen Jahren Poet Laureates. Hier hat man damit erst 2021 begonnen, als Coventry britische Kulturhauptstadt wurde. Es ist ein unbezahltes Amt, das aber viele Möglichkeiten bietet, und seit ich zur Poet Laureate ernannt wurde, übe ich meinen Beruf als Lyrikerin nicht mehr halbtags, sondern in Vollzeit aus.

Als Lyrikerin in Coventry habe ich in den letzten Jahren einige Projekte umsetzen können. Ich durfte beispielsweise anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Kathedrale von Coventry ein Gedicht verfassen. Meine Zusammenarbeit mit den Menschen in meinem Viertel und die Online-Dokumentation dieser Zusammenarbeit wurden gefördert, und ich konnte unsere Partnerstadt Dresden besuchen. Ich freue mich sehr, dass für den 10. November ein virtueller Poesieabend mit Autor*innen aus Coventry und Dresden  geplant ist. Es gibt viele Verbindungen zwischen Künstler*innen der beiden Städte und sogar eine eigene Facebook-Gruppe, der du sehr gern beitreten kannst!

Es ist großartig, dass dein Amt finanziell unterstützt wird, so dass du Zeit zum Schreiben hast. Dass dich die Zeilen aus meinem Gedicht berührt haben, freut mich, und ich würde gern deine Kolumnen für die Sächsische Zeitung lesen. Weißt du schon, wie es mit deinem Schreiben weitergeht, wenn deine Stadtschreiberinnenschaft endet?

Ich freue mich, dass ich derzeit bei so vielen verschiedenen Projekten und Veranstaltungen mitwirken darf. Immer wieder bitten mich Organisationen oder Vereine um Gedichte oder Gedichtzyklen zu Themen, über die von mir aus niemals geschrieben hätte. Für den London Road Cemetery habe ich beispielsweise einen poetischen Audiowalk erstellt. Dabei habe ich gelernt, dass es sich um einen der besterhaltenen viktorianischen Friedhöfe des Landes handelte, und ich fand es sehr bereichernd, mich mit den Grabmälern und Kapellen dort auseinanderzusetzen und mehr über die Menschen zu erfahren, die auf diesem Friedhof begraben sind.

Ich schreibe oft über die poetischen Momente des Alltags, und ich interessiere mich in meinen Gedichten für die Verbindung von uns Menschen zu den Tieren und zur Natur. In letzter Zeit schreibe ich viel über die Stärke der Frauen, und ich versuche, gesellschaftliche Konventionen zu hinterfragen. Außerdem bin ich derzeit mit dem Pianisten Mikael Petersson auf Reisen, mit dem Programm »Healing and Hope«, das klassische Musik mit dem gesprochenen Wort verbindet. Entschuldige meine ausführliche Antwort – aber ich habe ja geschrieben, dass ich am liebsten viele verschiedene Dinge gleichzeitig tue!

Vielen Dank, dass du dich nach meinem Aufenthalt in Dresden erkundigt hast. Ich habe mich sehr über die Einladung gefreut. Ich besuche gern neue Orte und habe schon im Vorhinein gedacht, dass es sicher eine sehr wichtige Reise für mich sein würde, zumal ich noch nie in Deutschland war. Tatsächlich hat mich der Aufenthalt in Dresden noch viel mehr beeindruckt, als ich das erwartet hatte. Ich wusste vorher kaum etwas über Dresden, nur, dass es – genau wie Coventry – im Zweiten Weltkrieg stark zerstört wurde. Ein paar Leute, die bereits dort gewesen sind, haben die Stadt als »sehr schön« beschrieben (was sie zweifellos ist). Vor allem aber habe ich unglaublich viel über die Geschichte der Stadt, ihre Einwohner*innen und die vielen kreativen Menschen dort erfahren.

Wie wir von der Insel aus nach Festlandeuropa schauen, das ist wirklich eine große Frage! Ich persönlich bin immer noch eine stolze Europäerin und ich war immer gegen den Brexit. Millionen Menschen waren dagegen. Es ist ein Thema, das nach wie vor die Gemüter spaltet … vielleicht schreibe ich dir ein andermal mehr davon.

Eine meiner engsten Freundinnen ist Deutsche. Wir haben uns in der achten Klasse kennengelernt, als sie nach Coventry gezogen ist, und sie hat mir ein paar Dinge über Deutschland erzählt. Wenn ich über Klischees nachdenke, fallen mir zwei Dinge ein. Das erste sind die deutschen Märkte. Ich besuche immer den Markt in Birmingham und war auch schon auf den Märkten in Manchester und London. Sie sind großartig – Hunderte von Holzbuden, in denen Speisen, Getränke, Weihnachtsdekoration und eine Vielzahl anderer handgefertigter Artikel verkauft werden. Als ich in Dresden war, fand gerade ein Herbstmarkt statt. Das fand ich interessant, denn im Englischen sind die Begriffe »Christmas Market« und »German Market« eigentlich austauschbar. Eine anderes Klischee betrifft die Wirtschaft: Wenn ein Produkt »Made in Germany« ist, ist es automatisch hochwertig. Hast du auch solche Assoziationen in Bezug auf Großbritannien, und warst du schon mal hier? Ich gebe jedenfalls gern zu, dass ich am Meer immer Fish and Chips esse und dass wir das Schlangestehen sehr, sehr ernst nehmen!

Coventry ist eine Stadt, in der Menschen vieler verschiedener Nationen zusammenleben. Ich habe mein bisheriges Leben also unter sehr unterschiedlichen Menschen zugebracht, und mir wurde von klein auf beigebracht, dass wir friedlich miteinander umgehen. Ich freue mich immer, wenn ich höre, wie gastfreundlich die Menschen Coventry finden. Das sagen auch jene, die aus anderen Ländern hierher kommen. Ich beschäftige mich gern mit Menschen und ihren Geschichten. Genau wie du empfinde ich es als eine große Bereicherung, mit anderen ins Gespräch zu kommen und mehr über ihr Leben zu erfahren. Ich hatte das Glück, gleich nach meiner Ankunft an Dresden is(s)t bunt teilnehmen zu können. Das war eine fantastische Veranstaltung für mich, bei der ich mich sehr willkommen gefühlt habe.

Schon seit einer Weile schreibe ich ausschließlich Gedichte. Das ist die Form, in der ich mich am wohlsten fühle. Obwohl ich gern Romane und Kurzgeschichten lese, habe ich nicht den Wunsch, etwas in dieser Richtung zu schreiben. Meine Arbeit richtet sich in der Regel an Erwachsene, aber manchmal schreibe ich auch für Familien. Ganz zu Anfang habe ich auch Kurzgeschichten und journalistische Texte geschrieben. Ich hielt es für besser, in verschiedenen Gattungen und Genres zu arbeiten, und ich war der Meinung, dass ich im Journalismus mehr verdiene und mehr Publikationsmöglichkeiten habe. Als ich jedoch für den Master im Kreativen Schreiben an die Universität zurückgekehrt bin, habe ich mich auf Lyrik konzentriert, und da wurde mir klar, dass ich nur noch Gedichte schreiben will. Seitdem habe ich, von wenigen Auftragstexten abgesehen, nichts anderes mehr geschrieben! Seit ich denken kann, schreibe ich gerne Gedichte, und ich besitze immer noch ein paar Gedichte, die ich im Alter von sechs Jahren geschrieben habe. Mein erstes Gedicht wurde in der Zeitschrift meiner Mutter – im Chatterbox Magazine – veröffentlicht. Da war ich neun. Ich glaube, es liegt an der Art und Weise, wie mein Gehirn funktioniert. Ich liebe Metaphern und Analogien und die Möglichkeit, auf kleinem Raum eine ganze Welt zu eröffnen. Schreibst du schon immer Prosa oder hast du dich auch schon an Gedichten versucht?

Seit einer Weile lerne ich Deutsch, allerdings bin ich sehr langsam, was neue Fremdsprachen betrifft. Vielleicht werde ich deine Texte eines Tages trotzdem lesen können. Sind deine Bücher denn in andere Sprachen übersetzt?

Nochmals vielen Dank für die Einladung zu diesem Briefwechsel. Es ist wirklich toll, sich mit einer Kollegin auszutauschen und dabei mehr über dich und deine Arbeit zu erfahren.

Herzliche Grüße aus Coventry
Emilie

 

Liebe Emilie,

danke für deinen Brief! Mir fallen so viele Dinge dazu ein, dass ich am liebsten noch viel mehr Briefe mit dir wechseln würde als die vier, die wir vereinbart haben. Vielleicht picke ich einfach die Themen heraus, die mich nach der Lektüre deines Briefes besonders beschäftigt haben.

Zunächst danke ich dir für deinen Hinweis, dass in Coventry die Menschen verschiedener Nationen zusammenleben und dass dort eine große Offenheit gegenüber den verschiedenen Kulturen herrscht. Spätestens seit 2014 ist klar, dass diese Offenheit in Dresden längst nicht mehr überall vorhanden ist. Hast du bei deinem Besuch davon etwas mitbekommen, haben deine Gastgeber dir davon erzählt? Es gibt viele Theorien darüber, warum es gerade in Ostdeutschland und besonders in Dresden zu dieser Zuspitzung gekommen ist. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es in anderen Städten, beispielsweise in Leipzig, so viel anders aussieht oder ob das von den Medien nur weniger thematisiert wird. Die Wahlergebnisse von fremdenfeindlichen Parteien sind jedenfalls landesweit erschreckend hoch, auf Vorurteile stößt man überall. Was man hierzulande über Großbritannien denkt, will ich daher gar nicht unbedingt wiederholen. Bisher war ich nur zwei- oder dreimal in Großbritannien, unter anderem bei einer Sprachreise in der achten Klasse, an die ich ganz furchtbare Erinnerungen habe, nicht wegen des Landes oder der Menschen, sondern weil ich mit meinen deutschen Mitreisenden nicht zurechtgekommen bin. Zum Glück ist diese Lebensphase, in der man nicht weiß, wer man selbst ist, und sich daher nur schwer mit anderen verbinden kann, bei mir lange her. Inzwischen kann ich mich sogar freiwillig in dieses Gefühl begeben, und zwar wenn ich Texte für Kinder oder Jugendliche schreibe.

Damit bin ich schon bei dem zweiten Thema, das mich beschäftigt – nämlich das, was du über die verschiedenen Gattungen schreibst. Dass du zu Beginn deines Schreibens darüber nachgedacht hast, welche Gattungen am meisten abwerfen und dir also deine Existenz als Autorin sichern, finde ich ebenso folgerichtig wie traurig. Es wäre so schön, wenn man einfach das schreiben würde, was man möchte! Gleichzeitig merke ich, wie sich das, was ich möchte, über die Jahre immer wieder verändert. Früher habe ich das Schreiben als einen Akt begriffen, der nur zwischen dem jeweiligen Text und mir stattfindet, und die Leser*innen sollten das dann bitte schlucken (oder eben nicht). Spätestens seit meinem Jugendbuch, das in diesem Jahr erschienen ist, denke ich mehr über meine Leser*innen nach. Denn die meisten Jugendlichen lassen sich nicht von der Kunst an sich beeindrucken, sie wollen Spannung und Charaktere, mit denen sie sich identifizieren können (oder die sie hassen können). Vielleicht denke ich auch mehr an meine potentiellen Leser*innen, seit ich Kinder habe. Denn auch als Mutter muss ich von mir absehen und andere in den Fokus nehmen – meine beiden Söhne, die zumindest in ihren ersten Lebensjahren stark von mir und meiner Weltsicht abhängen. Wie sehr darf ich dabei in Erscheinung treten, wie durchlässig soll ich sein?

Ich habe aber manchmal den Eindruck, dass es im deutschsprachigen Raum nicht allzu hoch angesehen ist, an die Leser*innen zu denken. Nicht wenige Menschen glauben hier noch an den Mythos des Genies, und ein Genie denkt natürlich nicht an so etwas Profanes wie seine Leser*innenschaft. Wie ist das im englischsprachigen Raum? Und wie ist es bei dir? Denkst du bereits bei der ersten Fassung an deine Leser*innen, kommen sie erst beim Überarbeiten in deinen Kopf? Oder würdest du sagen, dass du mehr beim Text bist und weniger bei denen, die die Texte dann lesen? Und muss das überhaupt ein Gegensatz sein?

Danke, dass du diesen Briefwechsel mit mir gestaltet hast! Es ist mein vorletzter Briefwechsel, bald ist meine Zeit als Dresdner Stadtschreiberin vorbei. Vor allem die Begegnungen mit den Menschen in sozialen Berufen, die ich für meine Artikelreihe getroffen habe, werden noch lange in mir nachwirken. Vielleicht entstehen daraus neue Erzählungen. Das weiß ich noch nicht, so wie man ja ohnehin selten sagen kann, welcher Ereignis zu welchem Text geführt hat. Es sind oft verschiedene Schichten, die sich in einem Text ablagern. Du bist noch bis Ende 2023 Jahre Poet Laureate, oder? Denkst du schon an die Zeit danach, oder hast du in den Jahren deiner Freiberuflichkeit gelernt, von Monat zu Monat zu leben?

Sehr herzlich
Katharina

 

Liebe Katharina,

vielen Dank für deinen Brief! Auch mir fallen noch viele Fragen ein. Die Übersetzungen deiner Texte, die du mir geschickt hast, haben mir jedenfalls sehr gut gefallen, sie haben mich zum Nachdenken gebracht, vielleicht weil sie schwierige Themen auf eine ungewöhnliche Weise ansprechen.

Ich hatte das Glück, dass ich genau an dem Tag in Dresden angekommen bin, an dem Dresden is(s)t bunt stattfand, und ich hätte mir keinen schöneren Empfang vorstellen können! Ich habe dort mit unheimlich vielen Menschen gesprochen, sowohl mit gebürtigen Dresdnerinnen und Dresdnern als auch mit Zugewanderten. Beim Essen wurden mir die unterschiedlichsten Lebensgeschichten erzählt. Mein erster Eindruck war von Dresden war also der einer gastfreundlichen und vielfältigen Stadt. Allerdings habe ich während meines Aufenthalts tatsächlich auch von den Menschen gehört, die regelmäßig gegen die Aufnahme von Geflüchteten protestieren. Ich selbst habe diese Seite von Dresden allerdings nicht bemerkt, und bei den Veranstaltungen, die ich während meines Aufenthalts besucht habe, waren Menschen aus aller Welt anwesend. Vielleicht sind die Künste einfach sehr gut darin, jeden und jede willkommen zu heißen?

Leider gab es an meiner Schule nie die Möglichkeit, an einem Schüleraustausch teilzunehmen – eigentlich sind wir nie sehr weit gefahren, höchstens zu den Schlössern und Burgen in der Umgebung … Ich kann es jedoch nachvollziehen, dass du keinen Anschluss an deine Mitreisenden gefunden hast. Als Kind habe ich mich jahrelang auf die Schule gefreut, denn ich habe immer gern gelernt und wollte so viel wie möglich wissen. Jemand, der Spaß am Lernen hat, galt allerdings nicht als sonderlich cool, und die anderen Schüler ließen mich schnell wissen, dass sie mich irgendwie seltsam fanden. Jahrelang hatte ich keine engen Freundinnen oder Freunde, deshalb habe ich mich in der Schule sehr unwohl gefühlt. Inzwischen bin ich nur noch mit einer einzigen Mitschülerin in Kontakt, interessanterweise ist das meine Freundin, die mit 14 von Deutschland nach Großbritannien gezogen ist und von der ich dir schon geschrieben habe. Dass ich unheimlich gern dazulerne, daran hat sich nichts geändert, und zum Glück treffe ich inzwischen oft auf Menschen, denen es genauso geht und die mich Neues lehren. Ich glaube, auch deshalb habe ich meinen Aufenthalt in Dresden so genossen: Die Menschen dort haben sich die Zeit genommen, um ihr Wissen über die Stadt und ihre Geschichte mit mir zu teilen.

Genau wie du glaube ich, dass jegliche Erfahrungen – sowohl positive als auch negative – für schreibende Menschen hilfreich sein können. Sogar das Gefühl, eine Außenseiterin zu sein – für wie lange und warum auch immer –, lehrt uns eine bestimmte Sicht auf die Welt. Viele Menschen können (oder wollen) den Erwartungen nicht entsprechen; gerade vielen Autorinnen und Autoren geht das so. Ich denke, die meisten Schreibenden betrachten das sogar als eine positive Erfahrung. Das Dasein als Außenseiterin scheint bis zu einem gewissen Maß zum Schreiben dazuzugehören. Und hat sich nicht fast jeder schon einmal ausgeschlossen gefühlt?

Ich habe schon immer über die Dinge geschrieben, die mich interessieren, und ich habe Gedichte immer als die angenehmste Form des Schreibens empfunden. Aber du hast Recht: Es ist traurig, dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir mit dem, was wir lieben, Geld verdienen können. Jedenfalls bin ich froh, dass bei mir am Ende die Lyrik gewonnen hat! Ich glaube, am Beginn meines Autorinnendaseins habe ich mich gefragt: »Ich möchte vom Schreiben leben, wie kann das funktionieren?« Inzwischen frage ich mich eher: »Wie kann ich als Lyrikerin meinen Lebensunterhalt bestreiten?«

Über die Jahre habe ich festgestellt, dass Poesie in sehr vielen Lebensbereichen findet, und inzwischen arbeite ich in vielen Bereichen, an die ich früher niemals gedacht hätte. Alle Aufträge, die ich angenommen habe, haben mir Freude bereitet, und von den vielen Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, habe ich unheimlich viel gelernt. Hat dich das Schreiben auch schon an ungewöhnliche, aber interessante Orte geführt, mit denen du niemals gerechnet hättest?

Ich finde es faszinierend, dass deine Kinder deine Sichtweise auf das Schreiben verändert haben, und ich fand auch interessant, was deiner Meinung nach jüngere Lesende von Texten erwarten. Ob ich selbst beim Schreiben an die Leser denke? Das ist eine gute Frage. Ich glaube, das ist bei mir sehr unterschiedlich. Wenn ich Auftragsgedichte schreibe, bin ich mir natürlich besonders bewusst, dass diese Gedichte sich an ein breites Publikum richten und die zukünftigen Leserinnen und Leser sich möglicherweise überhaupt nicht für Lyrik interessieren. Vielleicht haben sie sogar schlechte Erfahrungen mit Lyrik gemacht und denken, dass sie damit sowieso nichts anfangen können. Meine Gedichte für ein breiteres Publikum versuche ich also, möglichst zugänglich zu schreiben, beispielsweise durch Reime oder durch einen stärkeren Rhythmus. An ein Gedicht, das ich einer Literaturzeitschrift anbieten möchte und das dann im Stillen gelesen wird, gehe ich ganz anders heran. Und manchmal beobachte oder lese ich etwas, was ich unbedingt in ein Gedicht überführen möchte – dann denke ich weniger an das Publikum oder auch weniger daran, wo das Gedicht später erscheinen könnte. Dann schreibe ich einfach drauflos.

Ich glaube, jeder Autor und jede Autorin entscheidet für sich, wie autobiografisch seine oder ihre Texte sind. Einige meiner Gedichte sind sehr stark mit mir und meinem Leben verbunden, und über die Jahre habe ich mitbekommen, dass genau diese Gedichte den Leserinnen und Lesern am besten gefallen – dass sie aus diesen Gedichten am meisten ziehen. Wahrscheinlich ist das nicht sonderlich überraschend. Geht es dir mit deinen Texten genauso? Selbst wenn ich über Dinge schreibe, die ich selbst nicht erlebt habe, hinterlasse ich eine Spur im Text – quasi meinen Daumenabdruck.

Ja, »Genie« ist ein schwieriges Wort, und ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich daran glaube. Ich bin mir sicher, dass man Schreiben lernen kann. Natürlich gibt es Menschen, die ein besonderes Talent dafür haben, und schon in der Schule hat mich das Schreiben mehr angezogen als andere Fächer. Ein »Genie« war ich allerdings nie, ich war im Übrigen auch nie sonderlich gut in der Schule. Ich denke, dass man immer dazulernen kann und dass es wichtig ist, das Schreiben als Handwerk zu betrachten. Zumindest tue ich das. Ich arbeite ständig daran, mein Handwerk zu verbessern und meine Technik zu verfeinern, und ich bin immer offen für neue Impulse. Bestimmt gibt es Gedichte, die man als »genial« bezeichnen könnte. Aber dieser Begriff bringt so viel Ballast mit sich – schon allein die Vorstellung, dass auch das nächste Gedicht wieder perfekt werden muss. Das halte ich einfach nicht für realistisch. Wenn ich ein »schlechtes« Gedicht geschrieben habe und gezwungen bin, eine andere Form für die Idee zu finden, lerne ich genauso viel wie bei einem guten ersten Entwurf. Vielleicht gibt es Autoren, die das perfekte Gedicht einfach so herunterschreiben können, aber ich glaube, ich habe noch keinen davon getroffen.

Liest du auch manchmal in Schulen oder bei öffentlichen Veranstaltungen? Ich trete mit meinen Gedichten an vielen verschiedenen Orten und vor den unterschiedlichsten Menschen auf, und diesen Teil meines Berufs mag ich besonders. Vor jedem Auftritt denke ich darüber nach, was die Zuhörenden interessieren könnte, und ich nehme mir viel Zeit, um meine Gedichte zu üben. Manchmal tue ich das sogar vor dem Spiegel, so wie früher, als ich noch klein war und mir vorgestellt habe, auf einer Bühne zu stehen. Diese Art der Vorbereitung ist mir sehr wichtig. Ich mache mir immer bewusst, dass die Leute sich Zeit nehmen, um meine Lesungen zu besuchen, und sie sollen auf keinen Fall das Gefühl haben, dass sie damit ihre Zeit verschwenden. Manche kommen vielleicht, um unterhalten zu werden; bei anderen gelingt es mir durch meine Texte, ihr Bewusstsein zu schärfen und ihre Wahrnehmung ein Stück zu verschieben, sodass sie nach der Lesung ein bestimmten Teil ihres Lebens oder sogar die Welt in einem anderen Licht sehen; und wieder andere sind vielleicht zum ersten Mal bei einer Lyriklesung, und für diese Menschen versuche ich die Lesung so zugänglich und kurzweilig wie möglich zu gestalten. Ich bin schon vor den unterschiedlichsten Menschen aufgetreten und habe mit den unterschiedlichsten Gruppen Workshops durchgeführt, von zweijährigen Kindern bis hin zu demenzkranken Menschen, von Geflüchteten bis hin zu Menschen, die sich mit der Lokalgeschichte beschäftigen. Ich lerne unheimlich gern neue Menschen kennen, und ich bin fest davon überzeugt, dass wir alle im Grunde aus Geschichten bestehen und dass es wichtig ist, diese Geschichten ans Tageslicht zu holen und aufzuschreiben. Ziehst du die Inspiration zu deinen Texten auch aus Begegnungen oder aus den Geschichten anderer Menschen? Und gibt es etwas, worüber du noch nicht geschrieben hast, obwohl du es schon lange möchtest?

Vielen Dank noch einmal für die Einladung zu diesem Briefwechsel. Es war mir eine große Freude, und ich bin gespannt zu sehen, wohin das Schreiben dich in den nächsten Jahren führt. Ich hoffe sehr, dass du die Zeit als Stadtschreiberin genossen hast! Ich finde es großartig, dass du über diese Briefwechsel mit anderen Autorinnen und Autoren in Kontakt trittst und auf diese Weise den Leserinnen und Lesern einen Einblick in das Autorendasein ermöglichst. Die anderen Briefwechsel habe ich mit großem Vergnügen gelesen.

Ich bin noch bis Ende September 2023 Poet Laureate, dann gebe ich den Staffelstab für die nächsten zwei Jahre an meinen Nachfolger oder meine Nachfolgerin weiter. Ich bin so froh, dass Coventy dieses Amt geschaffen hat, und ich hoffe sehr, dass es noch viele Jahre existiert – das ist zumindest der Plan! Jeder Poet Laureate wird dieses Amt auf seine eigene Weise ausfüllen, aber jeder wird die Menschen für Lyrik begeistern.

Meine größte Hoffnung ist, dass ich die vielen neuen Kontakte aus meiner Zeit als Poet Laureate aufrechterhalten und die Zusammenarbeit mit den Menschen und Institutionen, die ich seit September 2021 kennengelernt habe, fortführen kann. Und ich hoffe, dass ich bald meinen ersten Lyrikband publizieren kann, an dem ich gerade arbeite. Naja, eigentlich arbeite ich an drei verschiedenen Bänden zugleich – wie das eben meine Art ist. Mir würde es schon reichen, wenn demnächst einer davon das Licht der Welt erblickt. Dir wünsche ich alles Gute für dein weiteres Schreiben. Hast du schon Pläne für die Zeit ab Dezember? Was auch immer es ist – ich bin sicher, es wird das Richtige sein.

Es war wirklich schön, dich und deine Arbeit ein wenig kennenzulernen. Lass uns in Kontakt bleiben! Ich freue mich zu erfahren, wohin die Worte dich noch führen.

Herzliche Grüße aus Großbritannien!
Emilie