Katharina Bendixen (c) Christiane Gundlach | Jayne-Ann Igel (c) Raja Lentzsch
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01.12.2022
Katharina Bendixen mit Jayne-Ann Igel

»Blickwechsel«

Briefe der Stadtschreiberin

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Liebe Jayne,

ich falle mit der Tür ins Haus, weil ich zuerst an den Oktober-Briefwechsel mit Emilie Lauren Jones anknüpfen möchte – Deine Antwort auf zwei Fragen daraus würde mich interessieren. Zum einen hat Emilie mich gefragt, worüber ich schon lange schreiben will und es noch nicht getan habe. Das finde ich eine tolle Frage, wie würdest Du sie beantworten? Und Emilie und ich haben uns darüber ausgetauscht, welche Rolle die Lesenden spielen, wenn wir schreiben. Ich weiß nicht, warum mich das so beschäftigt – vielleicht weil es viel über eine innere Haltung aussagt, ob man beim Schreiben daran denkt oder nicht. Wie ist das bei dir?

Und jetzt der offizielle Beginn: Ich freue mich sehr, dass du Zeit und Lust hast, diesen letzten Briefwechsel mit mir zu gestalten. Irgendwann im September habe ich mit Schrecken festgestellt, dass ich bisher nur Briefe mit Autor*innen meiner Generation gewechselt habe. Auch deshalb habe ich Dich gefragt, ob wir jeweils zwei Briefe wechseln wollen. Und weil ich Deine Meinung schätze, wenn wir bei den Vorstandssitzungen des Sächsischen Literaturrats zusammenarbeiten. Und weil ich neulich in einer Lyrikanthologie auf ein Gedicht von Dir gestoßen bin und immer wieder an die »blaue Lokomotive« darin denke. (Jedenfalls habe ich dich nicht unbedingt gefragt, weil Du lange in Leipzig gelebt hast und dann nach Dresden gezogen bist. Den Vergleich zwischen Dresden und Leipzig habe ich beendet, ohne ihn jemals ernsthaft begonnen zu haben. Interessanterweise wurde auch für 2023 ein Leipziger Autor zum Dresdner Stadtschreiber ernannt – ich bin gespannt, ob Carl-Christian Elze mehr Lust auf Vergleiche hat oder ob er die Städte auch lieber nebeneinander stehen lässt.)

Wie empfindest Du das Verhältnis zwischen den Generationen? Oder konkreter gefragt: Hast Du viele Kontakte zu Autor*innen (oder Menschen) meiner Generation, und findest Du, dass Du von meiner Generation etwas lernen kannst? Und was würdest Du gern an meine Generation weitergeben – welches Wissen, welches Bewusstsein vermisst Du, wenn Du meine Generation betrachtest? Oder denkst Du gar nicht so sehr in Generationen? Wenn ich mit Deiner Generation zu tun habe, fällt mir manchmal eine starke Verbindlichkeit auf, die ich in meiner Generation weniger finde und die mir aber sehr sympathisch ist, ein Pflichtgefühl den anderen gegenüber, uneigennützig und fast naiv, aber in einem positiven Sinne. Und was mich immer wieder aufs Neue interessiert, ist der Blick Deiner Generation auf den Umbruch von 1989 und die biografischen Brüche, die mit diesem Umbruch verbunden sind. Ob beispielsweise das Gefühl, das bisherige Leben sei wertlos oder habe unter einem falschen Stern stattgefunden, manchmal die Freude über die Veränderung überwiegt. Das wäre auch meine Antwort auf Emilies Frage: Über diesen Umbruch möchte ich schon lange schreiben, vielleicht auf einer surrealen Ebene. Aber ich traue mich bisher nicht.

Ich freue mich, von Dir zu lesen, und grüße Dich sehr herzlich aus Pieschen

Katharina

 

Liebe Katharina,

ich freue mich sehr über Deine Einladung zu diesem Briefwechsel, zumal wir uns während Deiner Amtszeit hier in Dresden als Stadtschreiberin nicht so oft begegnen konnten. Und mir ist so ein direkter Einstieg lieber als eine lange Einleitung.

Dresden und Leipzig zu vergleichen ist mir auch nicht so wichtig, die beiden Städte haben ein unterschiedliches Flair, das schon. Und obgleich mir in Dresden auf der Brühlschen Terrasse immer wieder Touristengruppen begegnen, aus Japan, Großbritannien oder …, erscheint mir Leipzig internationaler, aber auch die sozialen Brüche treten dort deutlicher zutage. 1995 zog ich der Liebe wegen nach Dresden, und in den ersten Jahren erschien mir Leipzig, so ich dort zu Besuch, immer fremder, weil sich z.B. baulich so viel und rasant veränderte, an Örtlichkeiten in der Stadt, die mir von Kindheit an vertraut. Zwar war auch Dresden kein Neuland für mich, ab den 70ern war ich häufig in der Stadt, doch die Veränderungen hier befremdeten mich nicht so sehr.

Autorinnen und Autoren Deiner Generation kenne ich viele, zumindest über ihre Arbeiten, oft auch über persönliche Kontakte. Dies haben mir insbesondere die Jahre als Redakteurin beim Ostragehege und seit 2011 als Mitherausgeberin der Reihe Neue Lyrik beim Poetenladen ermöglicht. In der Reihe werden pro Jahr zwei Bände veröffentlicht, einer davon ist Debütanten vorbehalten. Eine Zeit lang habe ich Neuerscheinungen von Gedichtbänden rezensiert. Ich bin dankbar für diese Gelegenheiten, wahrzunehmen, was jüngere Kolleginnen und Kollegen umtreibt, was sie sehen, schreiben. Da gibt es Verwandtes, Vertrautes, Neues – wie bei älteren auch. Verbindendes und Befremdendes. Ich sehe bei den Jüngeren beispielsweise wenig Scheu, sich mit allen möglichen literarischen Formen auseinanderzusetzen, sie auszuprobieren, das beobachte ich gerade in der Lyrik, diese Herangehensweise inspiriert mich. Ebenso ihre Kontaktfreudigkeit, Offenheit, wobei manchmal der Eindruck entsteht, sie orientierten sich etwas sehr auf ihre Alterskohorte, etwa wenn es um die Planung von Veranstaltungen geht.

Probleme, die über Persönliches hinausgehen, mache ich nicht so sehr an Generationen fest, oft sind es strukturelle Geschichten, und in jeder Generation finden sich ganz unterschiedliche Leute, auch solche, mit denen ich gern was unternehme, und andere, die ich eher meide. In der Zeit der Pandemie wie aktuell in der Klimakrise haben öffentliche Medien oft und gern Gräben zwischen den Generationen der Älteren und Jüngeren aufzureißen versucht. In ersterem Falle hieß es dann, die jungen Leute hätten sich zum Schutze der Älteren arg eingeschränkt, obgleich das doch auf die Alten gleichermaßen zutrifft, auch sie haben die Regeln befolgt, ihre Kontakte drastisch reduziert, sind mit Maske gegangen. Und dass wir uns in einer Klimaveränderung erschreckenden Ausmaßes befinden, können wir auch nicht einer Generation anlasten, zumal nicht ausschließlich jener, die bis in die 70er Jahre hinein noch Socken gestopft und Sachen repariert statt weggeworfen hat. Das Problem ist struktureller Art und nur zu lösen, wenn wir uns als Gesellschaft von der Dominanz der Vermarktungs- und Wachstumsideologie verabschieden und andere Wege finden. Und natürlich trägt jede Person auch selbst Verantwortung im Umgang mit Natur und Ressourcen, nur sehe ich es als falsch an, lediglich an diese »Eigenverantwortung« zu appellieren (Kauf- und Konsumverhalten etwa, Mobilität) und die politische außen vor zu lassen.

Die Fragen, die Du vorab stelltest, was ich lange schon mal schreiben wollte – es gibt da einiges, zum Beispiel in den Anfang 70er Jahren Erlebtes, als ich vom Glauben abgefallen, vom Vertrauen auf die Ideologie, die in der DDR Staatsdoktrin gewesen. Von einer Zeit, in der ich die Postulate von Gerechtigkeit, der Macht, die vom Volke resp. der Arbeiterklasse ausgeht, dem Gemeingut von Produktionsmitteln, der Freiheit durch soziale Sicherheit zu hinterfragen begann, weil ich das, was unter dem Label Sozialismus offeriert wurde, ernst nahm. In den nuller Jahren (2004 und 2009) habe ich zwei längere Prosastücke veröffentlicht, Unerlaubte Entfernung und Berliner Tatsachen, die solche Sachen aufgreifen, teilweise absurde Situationen widerspiegeln – diese Prosa, mehr poetischer Art, lebt von Bilderfolgen und Atmosphäre. Es sind keine Erzählungen im klassischen Sinn, keine Geschichten, ich lese gern Geschichten, doch selbst Geschichten zu schreiben, langweilt mich. Das macht es in einem gewissen Sinne auch schwerer, Ansätze für neue Texte zu finden, obgleich ich da noch viel wieder zu entdeckendes sehe.

Was den Umbruch von 1989 betrifft – was verbindest Du damit? Im nächsten Brief werde ich dann etwas dazu schreiben, es ist ein komplexes Geschehen, das ich unter besonderen Bedingungen miterlebt und gleichzeitig auch beobachtet habe, aufgeladen mit Hoffnungen, Vorstellungen und Enttäuschungen, doch vorab: ich bin froh, dass es zu diesen Umbruch gekommen ist.

Sei herzlich gegrüßt aus dem schon spätherbstlichen Klotzsche

Jayne

 

Liebe Jayne,

ich bin gespannt, was Du zu Deiner Wahrnehmung des Umbruchs von 1989 schreibst. Auch ich verbinde damit viele verschiedene Dinge. Beispielsweise die Erleichterung, nicht erfahren haben zu müssen, wie ich mich zu diesem Staat positioniert hätte, in welcher Form ich meiner Unzufrieden, meinem Unmut, vielleicht sogar meinem Protest (wäre es Protest gewesen?) Ausdruck verliehen hätte. Ich verbinde damit die erste Reise in den Westen zu einem entfernten Verwandten, der meiner Schwester und mir sehr viel Geld für Lego schenkte und meine Eltern bat, ihren Trabi in seine Garage zu stellen, weil er sich vor den Nachbarn dafür schämte, und später erzählte mein Vater, dass dieser Verwandte ihn gefragt habe, warum er seine Frau arbeiten gehen lasse, warum sie nicht zu Hause bleibe und sich um die Kinder und den Haushalt kümmere, ob mein Vater nicht genug verdiene? Ich verbinde die Euphorie meiner Eltern damit, aber auch ihre Unsicherheit, wie es weitergeht. Meine Eltern sind gebildet, sie waren 1989 jung und flexibel genug, um in der neuen Gesellschaft, in neuen Berufen Fuß zu fassen und von den vielen neuen Möglichkeiten zu profitieren. (Auch wenn meine Mutter heute noch sagt, dass sie lieber in ihrem alten Beruf in der Erwachsenenbildung geblieben wäre. Allerdings hat sie sich auch in ihrer langjährigen Tätigkeit der Betreuung zumeist einkommensschwacher Familien einrichten und dadurch einen völlig anderen Blick auf die Probleme der neuen Gesellschaft gewinnen können.) Andere fassten nicht Fuß, darüber wurde lange nicht gesprochen, in letzter Zeit scheint sich ein Gesprächsraum dafür zu öffnen. So viele widerstreitende Emotionen, wie ist das bei Dir? Und worüber sollte im Zusammenhang mit 1989 Deiner Meinung nach mehr gesprochen werden?

Jetzt befinden wir uns am Beginn eines anderen Umbruchs, Du benennst in Deinem Brief die Notwendigkeit des »Abschieds von der Vermarktungs- und Wachstumsideologie«. Die jüngere Generation – und da kommen die zwei Themen unseres Briefwechsels vielleicht zusammen – fordert »System Change, not Climate Change«. Jetzt möchte ich Dich am liebsten fragen, wie Deiner Meinung nach dieser Wandel aussehen und wohin er führen könnte. Gleichzeitig möchte ich diese Frage nicht so nebenbei stellen. Vielleicht ist es für uns Autor*innen auch interessanter zu fragen, welche Rolle die Literatur bei diesem Wandel spielen könnte?

Ich sende Dir herzliche Grüße, nun wieder aus Schleußig. (In welchem Viertel bist Du aufgewachsen, wo hast Du in den 90ern gewohnt?) Letzte Woche habe ich meine Koffer gepackt und den Schlüssel zur Pieschener Wohnung abgegeben, dies ist also mein letzter Brief in dieser Reihe. Ein Resümee will ich dennoch nicht ziehen, denn es geht ja alles weiter: Wir sehen uns bei einer literarischen Veranstaltung oder bei der nächsten Vorstandssitzung des Sächsischen Literaturrats wieder, auch viele andere Kontakte nach Dresden bleiben bestehen, und ich werde weiterhin von Zeit zu Zeit in diese Stadt kommen, die ich nun viel besser kenne als noch im Juni. Und das Nachdenken über all die Themen, die in diesen Briefwechseln angeschnitten wurden, hört ja ohnehin nicht auf. Herzlichen Dank für Deine Zeilen!

Auf bald

Katharina

 

Liebe Katharina,

was Du zu Deinem Erleben des Umbruchs 1989/90 schreibst, finde ich sehr interessant, weil eine kindliche Sicht/Perspektive auf diese Ereignisse weitgehend fehlt. Ja, es gibt schon Romane jüngerer Autorinnen und Autoren dazu, die eigene Erlebnisse und Erfahrungen in dieser Zeit verarbeiten, doch eine auch dokumentarische Aufarbeitung nicht. Und in den Diskursen spielt diese Perspektive kaum eine Rolle. Kurz nach der Wende schon hat das Feuilleton begonnen, den ultimativen »Wende-Roman« einzufordern, aber den gab und gibt es nicht, eher eine Anzahl von Romanen, die sich mit der Zeit beschäftigen, sich auseinandersetzen und alle erst etwas später kamen. Von Älteren wie Jüngeren. Eine Frage für mich ist auch, ob man den Umbruch lediglich auf die Jahre 89/90 beschränken kann oder nicht etwas weiter fassen sollte – viele Menschen hatten z.B. bis weit in die 90er Jahre mit den Auswirkungen und Veränderungen, die in jener Zeit eingeleitet wurden, zu tun, und ich denke, wir sind damit noch nicht fertig, wie mit dem vergangenen Jahrhundert überhaupt. Romane wie Brigitte Struzyks Drachen über der Leninallee, Lutz Seilers Stern 111 oder Clemens Meyers Als wir träumten, Grit Lemkes Kinder von Hoy, André Kubiczeks Das fabelhafte Jahr der Anarchie und Daniela Kriens Irgendwann werden wir uns alles erzählen, die jeweils die unmittelbare Nachwendezeit reflektieren, erzählen auch viel über die Umbrüche selbst und die Zeit davor, aus unterschiedlicher Perspektive. Peter Richters 89/90 indes konzentriert sich intensiv auf diese Zeit, erzählt beinahe minutiös und doch aus subjektiver Perspektive, was so in privaten wie öffentlichen Räumen passierte.

Aber ich will eigentlich keine Lektüreempfehlungen abgeben, Du wolltest wissen, wie ich die Zeit erlebt und wahrgenommen habe. Ich machte mir viele Hoffnungen, wie andere auch, auf Demokratisierung und Öffnung der Gesellschaft, des Landes, dachte dabei jedoch nicht an eine rasche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, sondern einen eigenen Weg, der ohne bloße Übernahme des im Westen dominierenden marktwirtschaftlichen Modells auskommt und funktioniert, also etwa auch Belange des öffentlichen Lebens, der Daseinsvorsorge nicht den Regeln der Marktwirtschaft unterwirft. Als sich Anfang September 89 das Neue Forum gründete, um entsprechende Diskurse anzustoßen und als Sammlungsbewegung zu wirken, unterschrieb auch ich auf einer der Listen, die die öffentliche Zulassung dieser Organisation forderten. In der DDR gab es ja bis auf wenige Ausnahmen keine Vereinskultur, das meiste war zentral reguliert, FDJ, Kulturbund, die zugelassenen Parteien bildeten hauptsächlich die Organisationsstruktur. Kulturell lief es durch die vielen subkulturellen Szenen, die sich ab Ende der 70er in den größeren Städten entwickelten, etwas anders. Ich beteiligte mich von Oktober bis Anfang November an den Montagsdemos in Leipzig, stand hinter den Forderungen, die gerufen wurden, später auch auf Plakaten erschienen, und wichtig war für mich die Gewaltfreiheit. Dass die Hoffnungen auf einen eigenen Weg zur Demokratie in der DDR nicht in dieser Weise eingelöst würden, wurde schon im November klar, als sich die Losung »Wir sind das Volk« plötzlich zu »Wir sind ein Volk« wandelte. Die letztere bildete die Mehrheitsmeinung ab, und spätestens nach dem Besuch von Papa Kohl zeichnete sich die Richtung der Entwicklung ab. Ich verstand die Leute, die reisen und einen dem Westen vergleichbaren Wohlstand wollten, die darauf allzu lang hatten warten müssen. Dennoch war ich wie andere enttäuscht, dass nun die schnelle Mark und Wiedervereinigung ganz oben auf der Liste standen. Unsere Vorstellungen wurden nicht von der Mehrheit geteilt, das zeigten auch die Wahlergebnisse im März 90, wo das Neue Forum nur ein paar Prozent der abgegebenen Stimmen bekam. Und gesamtdeutsch verpasste man die Chance, solche Dinge wie die Orientierung auf quantitatives Wachstum zu hinterfragen, oder welche Lebensbereiche vor der Regulierung durch den Markt geschützt werden sollten, Gesundheitsvorsorge, öffentlicher Nah- und Fernverkehr und Bildung etwa, das Wohnen. Es gab ja das Bestreben, dem wiedervereinigten Land eine neue Verfassung zu geben – bekanntlich scheiterte das. Trotzdem überwiegt, wenn ich an diese Zeit zurückdenke, das Positive – in den sich eröffnenden Freiräumen bis ins Jahr 1990 hinein gründeten sich Clubs, Vereine, machte man selbstverantwortet Cafés und Kneipen auf, im fast rechtsfreien Raum, die oft auch als Orte für Veranstaltungen dienten. Einige existieren heute noch, wie etwa das Raskolnikow in der Dresdner Neustadt. Ich erlebte die Zeit als eine der Anarchie, sich überstürzender Ereignisse, beobachtete, was an den Runden Tischen, die sich vielerorts, auf allen gesellschaftlichen Ebenen und auch zentral gebildet hatten, ausgehandelt wurde. Diese Möglichkeit basisdemokratischer Teilhabe an politischen Entscheidungen empfinde ich bis heute als bereichernd und beispielgebend. In der Zeit fuhr ich oft nach Berlin, um dann über den Westteil der Stadt durch einen der vielen Mauerdurchbrüche in den Osten zu gelangen, jedes Mal gespannt, wo ich landen würde. So lernte ich beide Teile der Stadt von einer neuen Seite her kennen.

In der Klimasache werden wir wohl ohne den von Dir angesprochenen System Change nicht weiterkommen, das zeigen auch die mageren Ergebnisse der Klimakonferenz von gestern. Die soziale Dimension bleibt ja meistens außen vor, und das bedeutet etwa, von der Praxis abzugehen, das eine Gesellschaft ihren Wohlstand auf Kosten anderer begründet, über Niedriglöhne anderswo, und man kaum den Blick darauf hat, welche Folgen z.B. Ressourcenausbeutung und Monokulturen für Menschen und Natur vor Ort haben. Ich denke, über das kapitalistische System konnte man in der Vergangenheit durchaus effizient auf Entwicklungen reagieren, doch ohne entschiedene Regulierung von Wachstum und die Schaffung von Verteilungsgerechtigkeit kommen wir nicht mehr aus. Wir können nicht alles dem Markt überlassen.

Liebe Katharina, der Brief ist nun schon sehr lang geworden, die Themen sind zu komplex, als dass ich in aller Kürze … Und Deine Frage, in welchem Viertel von Leipzig ich aufgewachsen, stößt schon wieder neue Türen auf – am südöstlichen Stadtrand, in Meusdorf, an der alten F95, die nach Chemnitz führte, über Borna, wo an selbiger die Großeltern wohnten. Vor unserer Nase etwas Landwirtschaft, Gänse, Hühner, Felder, und die Buslinie D von der nahen Haltestelle in Dösen brachte uns binnen zwei Minuten nach Probstheida, das schon städtisch, mit Straßenbahn. Von 1989 bis 1995 lebte ich dann in einer alten Villa in Markkleeberg-West, zwei große Zimmer und Balkon, aber das Bad geteilt mit zwei weiteren Mietparteien. Und kurzer Weg zum Auenwald.

Sei herzlich gegrüßt, aus Klotzsche (Stadtrand, wie immer), hier liegt ein wenig Schnee, und ich freue mich aufs Wiedersehen.

Jayne