Katharina Bendixen © Christiane Gundlach | Frauke Angel (c) PR
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27.06.2022
Katharina Bendixen mit Frauke Angel

»Blickwechsel«

Briefe der Stadtschreiberin

Zurück

Liebe Frauke,

wenn du in einer neuen Stadt ankommst, was machst du da zuerst? Gehst du spazieren oder in ein Museum, in eine Buchhandlung, in die Bibliothek? Ich hatte früher verschiedene Rituale: Ich bin in die nächstgelegene Schwimmhalle mit 50-Meter-Bahn gegangen, habe den Botanischen Garten besucht oder mich in der Bibliothek angemeldet. Letzteres habe ich nach meiner gestrigen Ankunft auch getan. Zurück in der Wohnung, habe ich dann aber doch gleich den Rechner ausgepackt und die Datei mit dem aktuellen Manuskript geöffnet, den Szenenplan vor mir ausgebreitet, ein paar Recherchebücher aufgeschlagen.

Seit Wochen sage ich mir: In Dresden kann ich machen, was ich will – das heißt: schreiben. Und ich habe das Gefühl, schreiben zu müssen, während mein Partner den Kindern in Leipzig begreiflich zu machen versucht, aus wie vielen Tagen eine Woche und aus wie vielen Wochen ein Monat besteht, und in die acht Kindergartenstunden irgendwie seinen Alltag quetscht. Wann warst du zuletzt für längere Zeit allein unterwegs? Gelingt es dir, diese freie Zeit zu genießen? Oder hast du genau wie ich das Gefühl, umso mehr arbeiten zu müssen, obwohl du gleichzeitig weißt, dass das Unsinn ist?

Das Schreiben soll aber nur ein Teil meiner Zeit als Stadtschreiberin einnehmen. Nachher werde ich die Wohnung verlassen, werde rausgehen, in die Stadt. Was empfiehlst du mir, wohin soll ich zuerst gehen? In meiner Wohnung auf Zeit gibt es erstaunlich viele Sitzgelegenheiten: fünf Stühle, drei Hocker und eine große Couch. Mal sehen, wer in den kommenden Wochen darauf Platz nehmen wird.

Herzlich

Katharina

 

Liebe Katharina,

sofort habe ich mich gefragt wo eine Stadtschreiberin in Dresden wohl lebt und arbeitet? Hast du Luft zum Atmen, einen guten Blick, vielleicht sogar auf die Elbe? Ich habe versucht, die Wohnung zu googeln, aber es kam kein Ergebnis. Wahrscheinlich will man dich vor analoger Fanpost und spontanen Besuchen schützen, damit du – wahlweise auf Stühlen, Hockern oder dem Sofa – in Ruhe arbeiten, arbeiten, arbeiten kannst.

Nun, in meinem früheren Leben als Schauspielerin hatte auch ich meine Rituale in fremden Städten. Dazu gehörte die nächstgelegene Tankstelle (wahlweise Trinkhalle/Büdchen/Kiosk/Späti) zu meiner Wohnstätte zu finden. Und (Achtung: Beichte!) eine Kirche. Nein, ich bin nicht gottgläubig. Doch einen Ort der Ruhe wusste ich schon zu schätzen, als ich noch keine Kinder hatte.

Inzwischen suche ich als erstes einen Blick auf Wasser. Ebenfalls zum Ausruhen und Denken. Fluss, See, Bach oder Ententeich, in Dresden gibt es allerhand davon. Wenn du magst, zeige ich dir meinen Lieblingsplatz am Carolasee im Großen Garten. Seit Pandemie-Beginn lege ich dort fast jeden Tag eine kurze Rast ein und atme.

Denn auch ich kenne das Gefühl, dem Schreiben pausenlos, lückenlos, atemlos verpflichtet zu sein. In den letzten zwei Jahren habe ich das damit verbundene schlechte Gewissen, die Familie sich selbst zu überlassen, wenn ich auf Lesereisen bin, allerdings abgelegt. Es ist Unsinn, du schreibst es. Außerdem ist unsere Arbeit so viel mehr als das Schreiben. Und die Arbeit einer Stadtschreiberin insbesondere. Du darfst dir Zeit nehmen, die Menschen und ihre Stadt zu erleben, ihren Pulsschlag zu fühlen. Ist das nicht sogar deine Aufgabe? Deshalb empfehle dir außer einem Platz am Wasser nicht auch noch eine Kirche. Aber doch den neuen Kulturpalast (wir feiern gerade seinen 5. Geburtstag) und – wenn du Besuch von den Kindern bekommst – unbedingt das TJG.

Und für den Fall, dass du nachts nicht schlafen kannst, sag gerne Bescheid und wir treffen uns auf ein Feierabendgetränk am nächstgelegenen Späti. Ich weiß zwar nicht, wo du wohnst, aber ich kenne sie alle!

Herzlich

Frauke

 

Liebe Frauke,

tatsächlich bin ich ganz schlecht als Anlaufstelle von Spontanbesuchen: Ich plane gern – außer meine Texte, die schreibe ich fast immer ins Blaue –, und wenn ich den Plan ändern muss, gerate ich ziemlich durcheinander.

Auch für meine Tage in Dresden habe ich jetzt, nach den ersten anderthalb Wochen, einen Plan: Morgens sitze ich vier, fünf Stunden am Schreibtisch, dann gehe ich nach draußen: Im Zwinger habe ich mir die alten Meister angesehen und war lange in der Sonderausstellung über »Morning Sun« von Edward Hopper. Es hat mich fasziniert zu sehen, wie dieses Gemälde entstanden ist, wie sehr Hopper darin auch die alten Meister zitiert. Natürlich habe ich mich gleich gefragt, welche Texte ich in meinem aktuellen Manuskript zitiere, manchmal passiert das ja sehr unbewusst. Suchst du dir Referenztexte, wenn du schreibst, oder gehörst du zu den Autor*innen, die sich lieber von Einflüssen freihalten?

Im Staatsschauspiel war ich auch, in »Vor den Vätern sterben die Söhne« von Sebastian Hartmann, dessen Arbeiten mir in seiner Leipziger Zeit oft zu grell waren. In dieser Interpretation von Braschs Erzählungen habe ich aber auch ruhige Momente gefunden, in denen ich mich gern aufgehalten habe. Und auf dem Nachhauseweg – die Sonne ging unter, ich lief über die Augustusbrücke – hat mich so ein Dresden-Gefühl angeweht, oder wollte ich gern eines finden? Auf der einen Seite die illuminierte Hochkultur, auf der anderen Seite die Picknickdecken, Musikboxen, Frisbeescheiben, zwischen allem die Tourist*innen … Diese Gleichzeitigkeit mochte ich, ist das für Dresden typisch?

Im Großen Garten bin ich bald, wenn ich mit meinen Kindern in die Sommerspielstätte des TJG gehe, und dort überlege ich, welches dein Lieblingsplatz sein könnte. Meine Vermutung erzähle ich dir dann am Späti. Danke für die Tipps!

Mach’s gut

Katharina

PS: Eine Frage habe ich noch, nachdem ich mein Fahrrad aus Leipzig geholt habe: Wieso gibt es hier so wenige Radwege? Klar, der Elberadweg ist traumhaft, aber sonst? »Radfahrer frei« steht auf den Fußwegen, das klingt für mich wie: »Nur die Lebensmüden fahren auf der Straße.« Ich habe hier ja Zeit und kann die Fußgänger umkurven. Aber ist das auf Dauer nicht anstrengend? Bist du mutig und fährst, wenn du es eilig hast, auf der Straße?

 

Liebe Katharina,

dein Brief hat bei mir als passionierte Radfahrerin alte Wunden gestreichelt. Ja, ich vermisse die Radwege auch und freue mich wie ein kleines Kind über jeden neu angelegten. Denn ohne sie ist das Radfahren in Dresden – egal wo – anstrengend. Die Fußwege in der Stadt sind ja häufig mit den großen Platten, namentlich Lausitzer Granit, gepflastert und ich mag es gar nicht beim Radfahren durchgeruckelt zu werden. Also fahre ich auf der Straße, aber dort, besonders bei enger Straßenbahn-Schienenführung zur Bordsteinkante, häufig mit einem mulmigen Gefühl.

Das bekomme ich übrigens auch manchmal beim Anblick der Dresdner Hochkultur. Vielleicht ist es so, weil ich im Ruhrgebiet aufgewachsen bin, wo die Menschen maximal mit Grubengold und Weltoffenheit punkten können, dass mir hier der dauererzählte, konservative Stolz auf den wiederhergestellten, barocken Prunk einfach abgeht. Neulich las ich dazu, Dresden sei voller Widersprüche: Die Altstadt ist neu, die Neustadt ist alt.

Ich persönlich empfinde den Widerspruch seit 2014/15 als besonders groß, als sich in dieser Stadt, die sich durch Kunst auszeichnet, die vor allem August der Starke aus allen Herren Ländern der Welt zusammengesammelt hat, eine Formation wie Pegida, die alles Fremdländische hermetisch ablehnt, bilden und salonfähig werden konnte.

Ich weiß, Katharina, das ist ein großes Thema für viel zu wenig Worte, und wir haben beide keine Zeit für einen Briefroman. Doch ich will sagen: Die Wunden, die dieser Stadt in den zurückliegenden Jahren durch einen kleinen, aber doch viel zu lauten Teil ihrer Bevölkerung zugefügt wurden, konnten für mich auch durch den wundervollen Canaletto-Blick bisher nicht geheilt werden. Ich bemerke mit Erschrecken, dass ich misstrauisch geworden bin. Vermeide es regelrecht, außerhalb meines Freundeskreises politische Themen anzuschneiden, obwohl sie sich vielleicht gerade aufdrängen. Doch die Angst, dass mein Bäcker, meine Frisörin oder auch mein Physiotherapeut sich im Gespräch enttarnen könnten, ist seitdem oft dabei.

Außer, wenn ich am Späti stehe. Da bin ich gechillt unterwegs. Was im Übrigen höchstens abends und selten unter der Woche der Fall ist. Dann nämlich, wenn ich meinen Tag abgearbeitet habe. Denn natürlich arbeite auch ich konsequent nach Plan. Referenztexte während des Schreibens lese ich allerdings nie. Aber nicht aus der Angst, versehentlich abzukupfern. Sondern weil ich dafür schlicht und ergreifend keine Zeit habe. Wenn eine Idee in meinem Kopf soweit ist, dass sie raus will, bin ich im Tunnel. Und aus dem tauche ich erst bei ENDE wieder auf.

Das Ende meiner Zugfahrt ist übrigens jetzt, liebe Katharina. Ich war Vortragende in Oldenburg auf einem inspirierenden Symposium zum Thema Zeitgenössisches Kindertheater. Auf der Rückfahrt hatte die Bahn vier Stunden Verspätung mit Halt auf freier Strecke. Was mich an die Ballade von Bertolt Brecht erinnert:

Ja, mach nur einen Plan!
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch ‘nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben
Ist der Mensch nicht schlecht genug.
Doch sein höh’res Streben
Ist ein schöner Zug.

In diesem Sinne: Ich habe die Fahrt genossen. Ich habe nicht gearbeitet. Ich habe gelesen, dir geschrieben und aus dem Fenster geguckt. Vor mir liegt Dresden in voller Pracht. Draußen scheint die Sonne sicher noch warm. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass deine Schreibzeit für heute um ist.

Wo magst du unterwegs sein?

Herzlich

Frauke

 

Liebe Frauke,

vier Briefe hatten wir vereinbart – du zwei, ich zwei –, und jetzt, da wir am Ende sind, geht es eigentlich erst richtig los. Und nun? Streichen wir alles, was wir bisher geschrieben haben? Ein ultimativer Schreibtipp lautet schließlich: Streichen Sie von jedem Kapitel den ersten Absatz, denn der ist meistens verzichtbar, weil er nur dazu diente, sich in die Szene, den Charakter, den Dialog hineinzuschreiben.

Nein, das tun wir nicht. Aber da du den Elefant im Raum benannt hast, möchte ich doch kurz – viel zu kurz, aber du hast es selbst geschrieben: ein Briefroman kann das nicht werden – den Eindruck schildern, den ich in meinen ersten vier Dresden Wochen gewonnen habe. Erstens habe ich nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen unter dem Außenbild der Stadt leiden. Sie verteidigen ihre Stadt mit viel mehr Kraft, als ich es für möglich gehalten habe, und zwar nicht aus einem Lokalpatriotismus heraus, sondern ganz einfach: als Menschen dieser Welt. Und zweitens sehe ich dann doch viele Gemeinsamkeiten zu Leipzig. Mag sein, dass die Gräben dort weniger tief sind, aber auch ich habe dieses Misstrauen. Es gab Zeiten, in denen bin ich davon ausgegangen, dass mein Gegenüber und ich die grundlegenden Werte teilen. Dann habe ich begonnen, das mit ein, zwei vorsichtigen Fragen abzuchecken. Inzwischen meide auch ich manche Themen. Warum wir neuerdings Auseinandersetzungen scheuen und was das mit der Gesellschaft macht – darüber nachzudenken, würde den Rahmen dieser Briefe sprengen. Deshalb bleibe ich vielleicht bei diesen Eindrücken und schaue, wohin mich die kommenden Wochen in dieser Stadt führen – und die kommenden Briefwechsel.

Ein Autor, den ich auf einer Lesung kennengelernt habe, wünschte mir zum Abschied: »Viel Spaß in dieser Stadt, die normaler ist, als man vielleicht denkt.« Ist das so, und wenn ja: wäre das gut? Und was mich außerdem noch interessieren würde: Wann weißt du, dass sich der Tunnel für die Geschichte öffnet, und wie erklärst du deine Tunnelexistenz deiner Familie?

Bis bald & in echt

Katharina