Die DDR zu einer Zeit, die sich nicht genauer bestimmen lässt. Eine verschneite Kurklinik in Bad Gottleuba. Ein herzkranker vierzehnjähriger Junge aus Berlin, der von seiner Mutter zur Erholung dorthin gebracht wird. Wilhelm heißt er.
Winter …
Der Aufenthalt in der Klinik verschafft Wilhelm Distanz. Distanz zu seinem alkoholabhängigen und gewalttätigen Großvater, dessen Faust nicht nur er selbst, sondern auch seine sanfte Mutter allzu oft zu spüren bekommt. Diese Gewalt macht ihn hilflos. Er weiß nicht, wie er seiner Mutter helfen soll, und er ist auch nicht in der Lage, das Erlebte richtig einzuordnen.
»Wasser auf den Dielen ruiniert das Holz«, sagte der Großvater. »Schläge ruinieren Kinder«, hätte Wilhelm gerne geantwortet. Doch das wagte er nicht. (S. 13)
In Bad Gottleuba ist die Betreuung der Kinder und Jugendlichen ebenfalls autoritär und streng. Disziplin und Gehorsam stehen an erster Stelle. »Ich dulde keine Widerstandsnester« (S. 48), sagt die Oberschwester. Nonkonformität ist nicht erwünscht und wird nicht akzeptiert, sondern mit Strafen geahndet. Damit fügt Ralf Günther der autoritären Kindererziehung in der DDR noch eine weitere Facette hinzu. Die Pädagogik war geprägt von hierarchischen Strukturen und Kollektivgedanken, eingebettet in die sozialistische Ideologie und fand in ihrer schlimmsten Form Ausdruck in Umerziehungsheimen und Jugendwerkhöfen.
… Herz
Doch zwischen Luftbaden – eingewickelt in muffige Decken in der kalten Morgenluft –, den Spaziergängen und strenger Routine entwickelt sich nicht nur eine Freundschaft zwischen Wilhelm und seinen Zimmergenossen Edgar, Milo und Bruno, sondern auch eine zarte Liebe zu der Hilfsschwester Ilona. Diese Personen, die neu in Wilhelms Leben treten, sorgen für die schönen, heiteren Erlebnisse während seiner Kur: Schmetterlinge im Bauch, Abenteuer, Streiche und Unterstützung.
Die Jungen sind unverhohlen und unverfälscht. Der bereits verlobte Edgar, der weiterhin versucht mit seinen Hanteln zu trainieren, um seinen Körper trotz Herzerkrankung in Form zu halten, die Leseratte Bruno, und Milo, dessen Vater aus Mosambik stammt. Sie bilden eine lustige Truppe, Jungs mit viel Humor, die zusammenhalten. Sie rebellieren gegen die Disziplin im Sanatorium, gründen eine Bande und brechen nachts die Regeln der Klinik, was ihnen (und vor allem Wilhelm) immer wieder Ärger einbringt. Gerade auch Wilhelms Versuche, die Hilfsschwester Ilona zu beeindrucken – sei es durch das Lesen von Büchern, oder indem er sie vor der Oberschwester verteidigt –, stoßen zunächst bei ihr selbst und beim weiteren Personal auf Unwillen.
Durch den ganzen Roman zieht sich aber auch Wilhelms Sorge um seine Mutter, die den Schikanen des Großvaters weiterhin ausgesetzt ist, und seine Hilflosigkeit. Er wünscht sich die Kraft, sich zu wehren und seine Mutter zu verteidigen.
»Da wurde ihm plötzlich klar, dass er nicht allein war mit seinem Schicksal. Dass es schon immer Gewalt gegen Kinder gab, ausgeübt von Männern, von Frauen. Gegen Wehrlose. Und dass es Kinder gab, die sich mit aller Kraft dagegen auflehnten. So wie Wilhelm.« (S. 93-94)
Ralf Günther gelingt es eindrücklich, die Folgen von familiärer Gewalt darzustellen, ohne sie unmittelbar zu beschreiben. Der Schrecken, den bereits isolierte Geräusche in Wilhelm auszulösen vermögen – beispielsweise ein Lineal, das auf eine Schreibtischunterlage geklatscht wird –, lässt die Gewalt erahnen, der er und seine Mutter ausgesetzt sind. Doch woher kommt die Gewalttätigkeit seines Großvaters? Hier schlägt Ralf Günther den Bogen zum zweiten Weltkrieg, wenn er Wilhelms Mutter sagen lässt: »Krieg hat er genug erlebt. Das hat ihn hart gemacht. Manchmal hat er die eigene Härte gehasst.« (S. 131-132)
Auf jeder Seite des Buches wird das Interesse des Autors für historische Details spürbar, die er geschickt in die Geschichte einfließen lässt. Die schönen Erlebnisse, die Jungenfreundschaft und die erste Liebe während der Kur auf der einen, die Disziplin auf der anderen Seite – es ist ein vielschichtiges Bild von widersprüchlichen Erfahrungen, die parallel zueinander existieren. Auch die Landschaftsbeschreibungen zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Gegend und machen die Atmosphäre greifbar.
Warmherzig
Durch die Zeichnung der Charaktere, die einfühlsamen Beschreibungen, die Gewalterfahrungen und die Hilflosigkeit der Hauptfigur, die zarte Liebesgeschichte, die Freundschaft unter den Jungen und die Fürsorge Wilhelms für seine Mutter geht das Buch sehr nah, berührt und kann auch das kälteste Herz erwärmen. Winterherz ist eine wunderschöne Geschichte, die Themen wie die autoritäre Erziehung in der DDR, aber auch Freundschaft und die erste Liebe behutsam verarbeitet und zwischen den Momenten der Kälte warmherzig und einfühlsam zu erzählen weiß.
Ralf Günther: »Winterherz«, erscheinen im Rowohlt Verlag | 144 Seiten | Euro 18,00 | ISBN 978-3-463-00032-9
Ralf Günther liest im Januar in Pulsnitz und Radeberg. Mehr Informationen
Leah Strobel rezensiert bei Instagram im Blog @lesefrüchte