Kurt Drawert (c) Ute Döring
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10.03.2024
Axel Helbig

»Die große Abwesenheit«

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Kurt Drawerts neuer Essay-Band »Die große Abwesenheit« enthält wichtige Texte – Zeitmitschriften eines kritischen Autors. Hinterfragt werden gesellschaftliche Abläufe, wie die Corona-Entscheidungen. Behauptungen werden aufgestellt wie: »Jede Lüge ist eine Wahrheit.« Und schließlich wird – wie in allen Büchern von Drawert – der Frage nachgegangen: »Was ist Literatur?«

In dem Essay »Die große Abwesenheit« weist Drawert darauf hin, dass es in der Corona-Krise nicht nur Verlierer und Verluste gegeben habe. Großkonzerne wie Apple, Amazon oder Google verzeichneten enorme Gewinne, die Digitalwirtschaft boomte wie noch nie, und wer auf dem Feld der elektronischen Kommunikationssysteme unterwegs sei, werde einen wahren Innovationsschub erlebt haben. Erstaunlich findet er, dass Fortschritt stets nach Wachstum, Leistung und Geschwindigkeit definiert werde, anstatt als soziale Transformation und subjektives Wohlbefinden der Bürger einer Gemeinschaft. Primär gehe es immer um Mehrwert und Gewinn, gleichviel auf wessen Kosten, und so werde verherrlicht, was produktiv im Sinne von Wertsteigerung sei. Doch relevanter als die Frage, wie sich etwas rechne, sei die, was sich woraus ergebe. »Nicht der Nutzen allein, sondern seine Verhältnismäßigkeit zu den Schatteneffekten, die jedem System unterlaufen … sollte Maßstab für Entscheidungen sein.«

Über die Lüge hat Drawert einiges zu sagen: Die Lüge, die sich eine Gemeinschaft organisiere, um mit ihren Verdrängungen und Verwerfungen so leicht wie möglich davonzukommen, sei an ein Bedürfnis nach Erhaltung ihrer Privilegien, Konventionen und Gesetze gebunden, das selbst unbewusst bleibt. Diese Lüge übe Schutzfunktion aus und verhindere, dass eine andere, größere Lüge, sich selbst evident werde, was zu einem Zusammenbruch des Systems führen würde. Eine Lüge sei demnach immer auch Abwehr einer anderen Lüge, deren Grund sie sei. Der Narr im Renaissancezeitalter durfte, nein, »er musste die Wahrheit über die Unwahrheit sagen, die dann durch albernes Gebaren, skurrile Accessoires und physische Defekte ins Lächerliche gebracht wurde. Damit wurde die Wahrheit über die Unwahrheit desavouiert und in den Dispositiven der Macht gleichsam unwahr.«

»Poesie ist Wissen vom Unbewussten.« Diesen Satz von Roman Jakobson unterstreicht Drawert doppelt. »Ein Text, der über kein Unbewusstes verfüge, stehe außerhalb seiner literarischen Besonderheit, die genau darin bestehe, polyvalent zu sein und das Nichtgesprochene oder Nicht-mehr-Sprechbare zum Bestandteil der Rede zu machen. Eine Ahnung von einer Ahnung von etwas (das nicht mehr gesagt werden kann).« Autoren, die, kaum dass die Katastrophe – ob Corona oder Kriegsereignis – sich ereignet hat, schon mit dem passenden Text aufwarten können, sind Drawert suspekt. »Der Schock des Augenblicks« brauche Zeit, um in Sprache übersetzt und transformiert zu werden. Im Essay »Was ist Literatur?« versucht Drawert in 43 Stichpunkten eine Topologie zu erarbeiten. Im 9. lesen wir: »Literatur entsteht, wo sie Räume erobert, die es vorher nicht gab, Gedanken denkt, die noch keiner gedacht hat, Verknüpfungen findet, die auf eine neue Ordnung verweisen und auf eine Welt, die man nicht kennt. Sie ist ein Abenteuer, ein Kontinent voller Rätsel, eine Bewegung des Suchens nach einem Ding, von dem man nur weiß, dass es fehlt. Sie begehrt immer das Andere, das gerade nicht auf der Achse des Erreichbaren liegt, das ist ihre Utopie, ihre eigene Unmöglichkeit. Allein diese Unmöglichkeit aber ist ihr Ermöglichungsgrund.«

Kurt Drawert ist ein Mahner. Sein Werk ist voller Skepsis. »Der Kapitalismus ist manisch-depressiv. Der praktizierte Sozialismus war paranoid. Da kann man sich jetzt aussuchen, was einem besser gefällt«, sagt er. Über die DDR hat er in einem Gedicht geschrieben: »Als fremder Brief mit sieben Siegeln // ist mir im Herzen fern das Land. / Doch hinter allen starken Riegeln / ist mir sein Name eingebrannt.« Die vor der Wende erlebte Spaltung und Ortlosigkeit habe er nie als Defizit erlebt, sondern als eine sehr besondere Quelle der Kraft und Orientierung. In seiner Lessingpreisrede von 2017 sagt er: »Unsere Welt verändert sich in einer Geschwindigkeit und Radikalität, für die es noch keine Sprache und keine Vorstellung gibt. Es ist ein Paradigmenwechsel, der sich vollzieht und der wirkt, nicht aber gedacht werden kann, weil er die Bibliotheken des Wissens verlässt, ohne neue zu gründen.« Umso mehr stößt ihm die Tendenz zur Eventkultur auf: »Was heute kein Event wird, … kommt abhanden im partikularen Rauschen der Diskurse. Deshalb jagt ein Festival das andere, weil es die kleine Lesung nicht mehr macht. Die Formate müssen größer und größer werden, um jene allgemeine Überdrüssigkeit und Leere, wie sie von allem Besitz ergriffen hat, überspringen zu können.«

Kurt Drawert: »Die große Abwesenheit. Essays, Reden, Figuren der Literatur«, Spector Books, Leipzig 2023, 248 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-95905-608-3.

(diese Besprechung ist zuerst erschienen im Ostragehege 113)