Juliane Moschell, Bild von Ulrike Cadot-Knorr
Sechs bedeutende Bücher für Juliane Moschell (Foto: privat)
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28.08.2020
Juliane Moschell

Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Juliane Moschell

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Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …

Fahren die Finger die Pfade meiner Regale entlang, so sind es die Bücher, bei denen sie innehalten, die in der eigenen Geschichte in einem größeren Zusammenhang stehen. Es ist dann nicht wie sonst bei der bloßen Berührung durch das Gelesene geblieben, sondern die Bücher setzten Eckpfeiler im biographischen Raum. Sehe ich nun die sechs spontan aus dem Regal gezogenen Werke vor mir liegen, sehe ich die wichtigen Einflüsse, die sie zur Ich-Werdung und zur Auseinandersetzung mit der Welt beitrugen.

Max Frisch: Stiller.

Da ist Stiller, ein Roman, den ich mit Siebzehn las. Ich war damals in einer »Philosophie-AG«, wir lasen (außerhalb der Schullektüre) wichtige Werke der Weltliteratur als Diskussionsgrundlage der großen Menschheitsfragen. Auch Max Frisch war ein Autor, den wir tiefergehend besprochen haben. Stiller hat mich besonders interessiert, weil hier ein Identitätskonflikt verhandelt wird, der mich innerlich seit den Kinderjahren beschäftigte. Der Antagonismus der Innen- und der Außenperspektive ist hier so zugespitzt dargestellt, dass sich am Ende die Wahrheitsfrage stellen muss. Ist es das Ich und die eigene Sicht auf die Welt, die wahr sind? Oder ist es das Äußere, das Andere, das »Verallgemeinerte«, das wahr ist – selbst wenn es die eigene Ansicht kontrastiert? Vor der Wende ’89 – ich war ein Kind – flohen meine Familie und ich aus der DDR in den Westen. Jahrelang empfand ich mich fremd in der »neuen Heimat«, ohne zu wissen weshalb. Erst als Erwachsene habe ich begriffen, dass es damals um einen Identitätskonflikt ging, weil das Eigene, das Ich, nach der Flucht ein anderes werden musste.

In Stiller verhält es sich natürlich ganz anders, der Konflikt rührt woanders her, aber es wird die Antwort auf eine entscheidende Frage durchgespielt: Kann es passieren, dass die eigene Geschichte nicht mehr zu ertragen ist? Gibt es die Möglichkeit, in eine andere Wahrheit zu fliehen?

Dieser wegweisende Roman verarbeitet philosophische Fragen literarisch. Noch heute erinnere ich mich an die intensiven Gespräche in dieser vierköpfigen Philosophie-Bande, in der wir uns in den Jahren vor dem Abitur gedanklich die Welt zu erschließen versuchten.

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers.

Zu Beginn des Studiums las ich während eines heißen Sommers in Kuba Stefan Zweigs Die Welt von Gestern. Die »Erinnerungen eines Europäers« sind die weit über die persönliche Geschichte hinausragenden, in Literatur gegossenen, historischen Erzählungen einer Generation, die die Lichter und Schatten über Europa während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebten. Als ich dieses Buch weit entfernt von der Heimat las, setzte ich mich umso eindringlicher mit ihr auseinander. Das Eigene und das Fremde (auch hier wieder!) und vor allem das Gemeinsame, weil Menschliche, wurden mir hier vor Augen geführt. In die Zeit der Lektüre ist die Begegnung mit einem jungen kubanischen Koch eingewoben. Wir trafen uns täglich und tauschten uns über unsere unterschiedlichen Heimaten aus. So wie er mir sein Leben schilderte, hätte ich es aus Büchern oder Filmen nicht begreifen können. Er liebte sein Land, er wollte Kuba niemals verlassen, er hatte keine Sehnsucht nach der Ferne, war aber an ihr sehr interessiert, eher mit wissenschaftlicher Neugier. Und so wollte er viel über Deutschland und Europa wissen. Ich erzählte ihm von »meiner Gegenwart« und verwob darin die Lektüreerlebnisse der »Welt von Gestern«. Irre fand ich, dass er mir kurz vor der Abreise kubanische Geldscheine schenkte. Erst später wurde mir klar, warum er das tat: Er gab mir Banknoten in der originalen kubanischen Währung (CUP), nicht in der Währung, die Touristen hatten (CUC) und freilich nicht die Schwarzmarkt-Währung Dollar. Auf den kubanischen Pesos sind Abbildungen wichtiger Persönlichkeiten der Geschichte Kubas (wie bspw. Ché Guevara) zu finden. Übrigens sind auf der Währung für Touristen Denkmäler abgebildet. Die Banknoten sollten mich zurück in Europa an Kuba erinnern – seine Heimat und nicht an ihn persönlich.

Es sind die Begegnungen mit Menschen, die uns nachhaltig prägen, das spürte ich einmal mehr in Kuba und durch die Lektüre. Stefan Zweig hat über die Schilderung seiner Begegnungen mit Menschen hinaus ein grundlegendes kulturgeschichtliches Dokument verfasst, das zeigt, wie groß der Glanz einer Gesellschaft sein kann und wie brüchig gleichzeitig ihr System. Gegenwärtig, in einer zum Teil herausfordernden politischen Zeit, kommen mir diese Erinnerungen immer wieder in den Sinn. Ich würde mir wünschen, dass Zweigs humane Weltsicht und die große Liebe zur Heimat Europa auch heute in vielen Menschen wirkt.

Marguerite Duras: Hiroshima, mon amour.

Während meines filmwissenschaftlichen Studiums sah ich Alain Resnais Meisterwerk Hiroshima, mon amour. Ich erinnere mich genau: Wir sahen den Film in einem ziemlich heruntergekommenen Hörsaal auf einer alten Leinwand, die vor die Tafel gespannt war. Die Tonqualität war miserabel, aber die ersten Sätze umso eindringlicher:

Er: »You saw nothing in Hiroshima. Nothing.«, Sie: »I saw everything.«

Die Filmbilder verknüpfen die furchtbaren Bilder, die sich in die Erinnerung der jungen Französin in Hiroshima eingebrannt haben, mit den Aufnahmen der nackten engumschlungenen Körper der Liebenden in der Gegenwart der Geschichte.

Ich ging nach Hause an dem Tag und war im wahrsten Sinne »außer mir«. Gleich bestellte ich im Internet den Film und die gleichnamige Filmnovelle von Marguerite Duras. Tagelang beschäftigte ich mich mit der fiktiven Geschichte eines Japaners und einer Französin, die in Hiroshima versuchten, der historischen Katastrophe die Liebe zweier Menschen entgegenzusetzen und daran scheitern mussten. Im Exposé der Filmnovelle schreibt die französische Autorin: »Wovon sprechen sie? Eben von Hiroshima. Man sieht, was sie sah. Es ist entsetzlich. Währenddessen nun bezeichnet seine Stimme, Stimme des Widerspruchs, die Bilder als verlogen […]. So ist denn ihr erstes Gespräch sinnbildhaft. Ein Opern-Dialog im Grunde. Es ist unmöglich von Hiroshima zu sprechen. Alles was man tun kann, ist, darüber zu sprechen, wie unmöglich es ist, über Hiroshima zu sprechen.«

Diese Unmöglichkeit, über Katastrophen zu sprechen oder zu schreiben, beschäftigte mich noch viele weitere Jahre. Wie kann man Furchtbares überwinden, wie sich später daran erinnern, wie muss man davon erzählen und welche Rolle spielen dabei die Künste? Alain Resnais hat mit Hiroshima, mon amour den Versuch unternommen, Nicht-Darstellbares in einer Kombination von Poetik und Dokumentation fassbar zu machen. Ihm ist damit 1959 ein für die Filmgeschichte entscheidender Meilenstein gelungen, nachdem aus meiner Sicht filmische Erinnerungskultur eine Wendung erlebt hat.

Im gleichen Zeitraum wirkte die Nachkriegsliteratur, insbesondere durch die Gruppe 47. 1959 veröffentlichte Günter Grass den wegweisenden Roman Die Blechtrommel. Ein paar Jahre zuvor traten Paul Celan und Ingeborg Bachmann während einer Tagung der Gruppe 47 auf und sorgten für Furore. Beider Werke waren mir wichtige Wegbegleiter:

Ingeborg Bachmann / Paul Celan: Herzzeit – Briefwechsel.

Als Suhrkamp 2008 endlich den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan unter dem Titel Herzzeit veröffentlichte, war ich eine der ersten Käuferinnen dieses Buches. 2007 hatte ich mit einer Prüfung über Ingeborg Bachmann (nach wie vor erscheint es mir übrigens absurd, dass man über ein dichterisches Werk eine Prüfung ablegen kann) das Studienfach Neuere Deutsche Literatur in Marburg beendet. Welch ein Werk, welch eine Herausforderung! Wo ich mit siebzehn Stiller las (interessant in diesem Zusammenhang die tatsächliche biographische Verknüpfung zwischen Frisch und Bachmann), war es mit siebenundzwanzig Malina, das mich tief ergriff. 2008 dann der Briefwechsel, der die Dokumentation einer intellektuellen Beziehung ist, der zeigt, wie eng und kompliziert große Geister, hier Bachmann und Celan, miteinander verbunden sein können – auch über lange Zeiträume und weite Entfernungen. In diesen Briefen habe ich zwei verwundete Menschen gefunden, die Leben und Dichtung miteinander verwoben, und die letztlich – jeder für sich allein – an Unerträglichem zerbrachen. Herzzeit dokumentiert ein Ringen um die Sprache angesichts tragischer Erlebnisse, es ist der verzweifelte Versuch zweier Liebender Trost zu finden, und die damit verbundene poetische Auseinandersetzung. Es ist der eindrücklichste Briefwechsel, den ich je las.

Rainer Maria Rilke: Gedichte.

Am 2. Mai 2007 saß ich – rein zufällig, weil ich zu spät kam, das Kino voll war und Donata Wenders mich auf den letzten freien Platz aufmerksam machte – neben Wim Wenders, Bruno Ganz und Otto Sander in der ersten Reihe in einem Berliner Kino und wir sahen uns die Wiederaufführung des Films Der Himmel über Berlin an. Im anschließenden Gespräch berichtete Wim Wenders, wie sehr ihm während seiner Zeit in den USA die deutsche Sprache gefehlt habe und er mit der Lektüre von Rainer Maria Rilkes Gedichten zu ihr zurückkehren wollte. Auch mir erging es 2004 so, als ich während eines mehrmonatigen Aufenthaltes fast täglich durch Washington D.C. spazierte, im Ohr Vertonungen von Rilkes Gedichten. Wenders habe in der Poesie immer wieder Engel vorgefunden, sagte er, und diese inspirierten ihn schließlich zu der Filmidee. Und auch ich konnte Wim Wenders sehr gut nachvollziehen, denn Rilkes Gedichte haben mich über viele Jahre – bis heute – inspiriert. Immer wieder greife ich nach meinem kleinen Reclam-Büchlein im Schrank, blättere darin und finde eindrucksvolle Verse. Sie lassen mich Staunen, sie geben mir Kraft und sie berühren das Innere – sie sind Stützen in der andauernden Auseinandersetzung mit dem Metaphysischen. Als Wim Wenders von den Engeln sprach, da fiel mir ein wunderbares Gedicht von Rilke ein (und mehr muss man zu dieser Lektüre und ihrem Einfluss nicht schreiben):

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt …

Hilmar Hoffmann: Kultur als Lebensform.

Ich möchte nicht schließen, ohne ein Buch von Hilmar Hoffmann zu erwähnen. Eine Regalreihe füllen seine Bücher in meiner Wohnung (und ich hüte nur einen Bruchteil seiner über fünfzig Veröffentlichungen). Hilmar Hoffmann war mein Freund und Mentor. Zehn Jahre lang, bis zu seinem Tod 2018. Der »Kulturpapst«, der in den 70er Jahren den Slogan »Kultur für alle« prägte und der während seiner zwanzigjährigen Amtszeit als Kulturdezernent Frankfurts das Museumsufer am Main gestaltete, brachte mir ein tiefes Verständnis für Kulturarbeit bei und begleitete mich auf dem Berufsweg der Jahre im Theater bis zum Wechsel in die Kulturverwaltung. Von ihm lernte ich, was es heißt, Verwaltung nicht engstirnig zu begreifen, sondern hier das immanente Potential der Gestaltung zu entdecken. »Zukunft ist ein kulturelles Programm« bemerkte Hilmar Hoffmann einst. Kultur im Allgemeinen und die Künste im Besonderen sind für die Zukunftsfähigkeit und Lebenskraft einer Gesellschaft unverzichtbar. Sie existieren nicht unabhängig von ihren Rahmenbedingungen, gleichwohl wirken sie auf diese ein. Hoffmann zitierte gern Adorno unter anderem mit dem Satz: »Wer Kultur sagt, sagt auch Kulturverwaltung, ob er will oder nicht.« Und weil mich die Beziehung zwischen Verwaltung und Kunst, »zwischen Rahmen und Bild«, interessiert und ich dazu beitragen möchte, dass künstlerische Ereignisse Leben auch zukünftig prägen (wie oben beschrieben) habe ich mich dazu entschieden, die Bedingungen dafür mitzugestalten. Mein alter weiser Freund hat immer wieder gesagt, der rein »tabellarische Verstand« mache den Menschen noch nicht zum Menschen, erst die Künste und die ästhetische Erziehung ermöglichten es, dass sich der Mensch selber nicht versäume (frei nach Schiller Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795). Ein guter Rat und ein Grund, Hilmar Hoffmanns Überlegungen zur Kultur, die an Aktualität nicht verlieren, immer wieder zu lesen.

Juliane Moschell ist Abteilungsleiterin in der Landeshauptstadt Dresden. Sie studierte Medienwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur in Marburg sowie Kulturmanagement in Hamburg, unternahm mehrere Reisen und längere Auslandsaufenthalte in Kanada, USA und Australien, arbeitete an Theatern in Koblenz, Frankfurt/M und Dresden. Seit 2017 ist sie tätig für das Amt für Kultur und Denkmalschutz, zunächst als Fachreferentin für Darstellende Kunst und Literatur, seit Sommer 2019 in der Verantwortung des Fachbereiches Kultur.