»Erbschaft Ost« – unter diesem Titel waren Heinz Bude, Aron Boks und Lukas Rietzschel am 28. März 2023 zu einem Gespräch über die Kunst in der DDR im Deutschen Hygiene-Museum Dresden zu Gast. Eine Gelegenheit, sich danach noch ein wenig näher mit ihnen zu unterhalten.
Aron Boks, Lukas Rietzschel, ihr habt beide Bücher über Künstler aus der DDR geschrieben – was war für euch jeweils der Auslöser, euch mit diesem Thema auseinanderzusetzen?
Aron Boks: Ich wusste schon lange, dass ich mit Willi Sitte verwandt bin, also dem Künstler, dem ich nachgegangen bin. Anlass, über ihn zu schreiben, war dann aber eigentlich die Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag, die 2021 stattfand. Parallel dazu hat meine Großmutter ein Frühwerk von ihm auf dem Dachboden gefunden, von dem ich dachte, es wäre wahnsinnig wertvoll, weil man es nicht kannte. Das war die Öffnung zu einer Geschichte, der ich nachgehen wollte.
Lukas Rietzschel: Ich glaub‘ nicht, dass ich Baselitz als DDR-Künstler bezeichnen würde. Er ist zwar in der DDR aufgewachsen, aber ich weiß nicht, ob ihn das als solchen qualifiziert. Wahrscheinlich eher nicht. Bei mir war es eher die Auseinandersetzung mit Familien. Was passiert zwischen den Generationen? Was wird weitergegeben und was nicht? Für mich war das Gefühl vorherrschend, dass vor allem die Nachwendezeit Brüche hinterlassen hat. In dem Moment bin ich auf die Heldengemälde von Baselitz gestoßen. Da ist mir klar geworden: Die Brüche wurden schon viel eher verursacht. Wir reden eigentlich über einen viel längeren Zeitraum, der mit der Nachkriegszeit, bei ihm zumindest, begonnen hat. Das war der inhaltliche Überbau, aber los ging es damit, dass Günther Kern, also der Bruder von Baselitz, auf mich zugekommen ist und gefragt hat, ob ich nicht die Unterlagen seiner Familie sichten möchte.
Das heißt, die Initiative ging nicht von dir sondern vonseiten der Familie aus?
Lukas Rietzschel: Ich habe zu dem Zeitpunkt an einem ganz anderen Text geschrieben und dann angefangen, mich mit dieser Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Dann wurde das immer mehr und mehr und ich habe entschieden: Nee, jetzt fliegt der andere Roman erstmal raus.
Du hast gerade bereits das Thema Familiengeschichte angesprochen. Aron, für dein Buch hast du viele Gespräche mit deinen Angehörigen geführt. Hat deine Familie Verständnis für dein Buch gehabt oder bist du am Anfang auch auf Skepsis oder Ablehnung gestoßen?
Aron Boks: Gar nicht. Meine Familie und insbesondere auch meine Großmutter haben es sehr gefördert. Gerade in meiner Familie gab es extreme Begeisterung. Ich war in dieser Zeit viel zuhause in Wernigerode und ich habe natürlich immer am Abendbrottisch, aber auch wenn wir irgendwo anders waren, davon erzählt, weil ich dadurch auch eine Art Reise gemacht habe; ich habe das so erzählt, als ob es etwas Neues wäre – und für sie war es auch etwas Neues, deswegen waren sie wie meine ersten Zuhörer und Zuhörerinnen, was das Ganze für mich dann eben auch spannend gemacht hat.
Wie hat die Spurensuche in deiner eigenen Familiengeschichte im Rückblick deine Sicht auf die DDR und die Menschen, die in ihr lebten, verändert?
Aron Boks: Die Spurensuche hat überhaupt erstmal einen Blick geöffnet. Es gab gar nicht groß etwas zu verändern, weil vorher gar nichts da war. Ich war davor nicht sehr an der DDR interessiert, was weniger damit zu tun hatte, dass ich mich vorher mit ihr befasst und dann dazu entschieden habe, dass sie mich nicht interessiert, sondern dass ich mit einem Verständnis aufgewachsen bin, dass die DDR etwas Abgeschlossenes ist und es auch irgendwie seltsam ist, wenn sie von Leuten ausgegraben wird, im Sinne einer willentlichen Euphorie darüber, dass es eine Einheit gibt. Dann habe ich angefangen zu erkennen, dass es sehr viele Grautöne in der DDR gab und es nicht die eine DDR gab, von der wir heute auch [bei der Veranstaltung] gesprochen haben, sondern unterschiedliche Generationen.
Anhand meiner Familie hat sich mir gezeigt, dass es vielen Personen gab, die an verschiedenen Punkten in diesem Land gelebt haben, mit den unterschiedlichsten Visionen. Meine Familie verstehe ich als Mikrosystem oder Miniaturbild einer Gesellschaft, die man analysieren kann, was ganz viele Schleusen geöffnet und mir einen leichten Zugang ermöglicht hat, mich damit zu beschäftigen. Ich konnte mich einerseits mit der DDR-Geschichte auseinandersetzen, gleichzeitig aber auch mit den Konstellationen meiner Familie. Deshalb hat mir die Spurensuche eine große Vielschichtigkeit gezeigt.
Herr Bude, Sie haben heute in der Veranstaltung den Begriff Defizithypothese genannt, können Sie genauer erklären, was Sie darunter verstehen und welche Auswirkungen das perspektivisch auf die Gesellschaft hätte?
Heinz Bude: Das ist die Vorstellung, dass an der DDR etwas mangelt. Da wird etwas nachgeholt. Ein berühmter Aufsatz von Jürgen Habermas hieß Die nachholende Revolution. Das heißt also, dass es irgendeinen unterschiedlichen Entwicklungsstand gibt und der höhere Entwicklungsstand ist die Bundesrepublik und der niedrigere ist die DDR. So simpel. Und der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik war der Beitritt eines unterentwickelteren Teils Deutschlands zu einem höher entwickelten. Das ist eine Defizithypothese, die man für das Institutionensystem unter Umständen sogar aufstellen könnte, aber man kann sie sicher nicht für die Lebensweisen und Lebensarten aufstellen. Und das ist das Problem.
Diese Defizithypothese spiegelt sich unter anderem in bestehenden Narrativen wider. In deinem Buch Raumfahrer gehst du, Lukas, auf zwei Narrative des Westens über den Osten ein. Zum einen auf die Vorstellung von Rückständigkeit, zum anderen, dass auf die Wiedervereinigung Arbeitslosigkeit und dann Frust, Wut und schließlich Rechtsextremismus folgte. Die Diskurshoheit liegt laut Dirk Oschmann immer noch beim Westen, und »wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird«, so Oschmann. Sind deine und Arons Auseinandersetzungen ein Weg, in den Diskurs einzugreifen und vielleicht die Diskurshoheit gewissermaßen auch zu verschieben?
Aron Boks: Ich würde sagen, das sind andere Diskurse. Ich will nicht mit Dirk Oschmann darüber diskutieren. Ich könnte seine Punkte mit ihm analysieren und durchgehen, aber ich würde nicht seine Meinung anfechten wollen, weil ich glaube, dass es ein ganz anderes Erleben einer Zeitspanne und einer Reibung ist und es einen großen Unterschied macht, dass wir nach der Teilung geboren sind. Mir geht es nicht um Deutungshoheit, mir geht es um das Erleben und ein Nachfragen. Ein naives Nachfragen. Unser Blickwinkel – meiner zumindest – ist davon geprägt, dass ich eine Verwandtschaft habe, die im Osten sozialisiert wurde. Das gibt mir die Möglichkeit, naiv nachzufragen, und das ist für mich das Besondere. Deswegen würde ich nicht von Deutungshoheit sprechen wollen. Dieser Begriff stört mich.
Lukas Rietzschel: Ich finde, diese These ist eigentlich ein Befund dafür, dass er in einer sehr rückschrittlichen Auffassung von Öffentlichkeit lebt, zu sagen, es gibt den dominierenden und den nichtdominierenden Part. Das halte ich für eine antiquierte Auffassung. Ich glaube, es geht um Vielstimmigkeit, es geht um Gleichzeitigkeit, es geht um Ambivalenzen, und eigentlich sind wir in der Debatte viel weiter als er das postuliert mit »dem Westen«. Wenn ich mir anschaue, wie viele ostdeutsche Journalist*innen mittlerweile an diesem Diskurs teilhaben, wie diese Kunst sich emanzipiert, wie sie sich selbst thematisiert, spricht dies eigentlich dagegen. Es ist das volle Gegenteil. Oschmann hinkt der Debatte also eigentlich hinterher. Er hat nur noch einmal ein altes Thema mit viel Brimborium groß gemacht und eigentlich muss man ihn für das Medienecho beglückwünschen, obwohl er es eigentlich nicht verdient hat.
Neben Narrativen hast du, Lukas, in deinem Buch auch über den Begriff Raumfahrer geschrieben, könntest du diesen Begriff noch einmal definieren und erläutern, wie er mit deinen Büchern zusammenhängt?
Lukas Rietzschel: Das hängt eigentlich damit zusammen, dass es eine Metapher für Menschen ist, die in einer Zwischenwelt leben. Die vielleicht nicht mehr angekommen sind in dem Hier und Jetzt oder an einem ganz konkreten Ort. Das hing mit einer Begegnung in Hoyerswerda zusammen, wo ein Mann vor einem Wohnblock stand und eigentlich seinen Kindern zeigen wollte, wo er aufgewachsen ist, nachdem er Anfang der 90er Jahre in den Westen gezogen ist. Aber an dem Tag wurde das Gebäude abgerissen und es gab nichts mehr aus seiner Kindheit, was er hätte zeigen können, und er hat mir dann gesagt, da wo er jetzt lebt, das ist nicht sein Zuhause. Und wo er herkommt, das ist nicht mehr seine Heimat – und dass er nicht mehr weiß, wo er hingehört. Das war für mich der Urtypus eines Raumfahrers, und damit habe ich mich auf die Suche begeben nach ähnlichen Erfahrungen, ähnlichen Verlusten, ähnlichen Empfindungen. Daraus ist dann das Buch geworden.
Aron Boks: Ich muss dazu sagen, dass mir der Begriff ziemlich viel geholfen hat. Durch ihn habe ich für eine Generation, die ich von außen wahrgenommen habe, einen Begriff gefunden. Er hat mir sehr viel erklärt, beziehungsweise eine Möglichkeit gegeben, sehr viel zu verstehen.
2015 und PEGIDA haben das Narrativ des Rechtsextremismus in Ostdeutschland gefördert. Herr Bude, in Ihrem Buch Das Gefühl der Welt. Die Macht von Stimmungen haben Sie sich mit dem Entstehen und mit Veränderungen von gesellschaftlichen Stimmungen beschäftigt. Welche Veränderung der Stimmung können Sie seit 2015 in Ostdeutschland, aber auch in Westdeutschland feststellen?
Heinz Bude: 2015 war die Stimmungslage – das kann man mit einem Adjektiv beschreiben – gereizt. Das heißt, jeder hat nur drauf gewartet, dass irgendjemand ein falsches Wort sagt. Das hatte sich zwischenzeitlich ein wenig gelegt, ist aber durch die Pandemie noch einmal neu aufgekocht. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob wir eine Situation der Sortierung der Stimmungen hatten und nicht mehr der unmittelbaren Gereiztheit. Eine Bereitschaft zur Sortierung. Dann ist aber wiederum der Krieg dazwischengekommen. Das heißt, es gibt eine gewisse Stimmungsermattung und man hat irgendwie das Gefühl, man kommt aus einer Stimmung, einer gewissen Ohnmacht gar nicht mehr heraus. Es ist interessant, wie man vor dem Hintergrund einer Ohnmachtsanfälligkeit nochmal seine unterschiedlichen Stimmungslagen mitteilen kann. Es setzt eine ziemliche Zivilisiertheit in der Artikulation von Stimmung voraus. Das kann man positiv sehen, weil man sich bemühen muss, um zu sagen in welcher Stimmung man ist, man kann es aber auch als eine Schwierigkeit wahrnehmen, dass die Brücken zwischen den unterschiedlichen Stimmungslagen nicht mehr so einfach zu schlagen sind. Also kurzum: Wir sind nicht mehr in einer Stimmung der Gereiztheit, aber auch nicht in einer Stimmung der Sortiertheit, sondern es gibt im Hintergrund eine unglaubliche Ohnmachtsanfälligkeit, die natürlich auch mit dem Problem des Klimawandels zu tun hat, zugleich aber auch, was man nicht vergessen darf, mit der Tatsache einer Hegemonialitätskonkurrenz auf der Welt. Wie sich das jetzt in Ostdeutschland in bestimmten Milieus äußert, das ist eine interessante Frage, aber das kann ich auch nicht wirklich beantworten.
Sehen Sie einen Weg, wie es zukünftig möglich wird, eine Brücke zu schlagen zwischen diesen unterschiedlichen Stimmungen? Was kann dafür getan werden, damit man miteinander in einen Dialog kommt?
Heinz Bude: Nein. Das ist deshalb so schwierig, weil man nicht nicht in einer Stimmung sein kann. Also man kann sich nicht außerhalb einer Stimmung versetzen, um über Stimmungen zu kommunizieren.
Die Zeit betitelt dich, Lukas, als einen der wichtigsten jungen Schriftsteller des Ostens. Lukas und Aron, ihr schreibt beide über die DDR und deren Erbe, über ihre Auswirkungen auf Biografien. Nehmt ihr euch selbst dezidiert als ostdeutsche Autoren wahr oder seht ihr das als eine Reduzierung auf eure Herkunft und ist das ein Label, mit dem ihr gar nichts anfangen könnt?
Aron Boks: Ich habe damit gar kein Problem. Also ich habe kein Problem damit, mich als deutscher Autor zu bezeichnen, aber auch kein Problem mich als ostdeutscher Autor zu bezeichnen, denn der Osten ist für mein Erleben schon wichtig.
Lukas, du schaust etwas skeptisch. Wie ist das für dich?
Lukas Rietzschel: Ich möchte gerne als die literarische Stimme Mexikos wahrgenommen werden. Das ist mein Ziel.
Lieber Lukas, Aron, Herr Bude, ich danke euch und Ihnen für das Gespräch!
Lukas Rietzschel wurde 1994 in Räckelwitz geboren und lebt und arbeitet in Görlitz. Er studierte Politikwissenschaft, Germanistik und Kulturmanagement. 2018 erschien sein Debüt »Mit der Faust in die Welt schlagen«. Seinen zweiten Roman »Raumfahrer« veröffentlichte er 2021 bei dtv.
Heinz Bude, geboren 1954, hat seit 2000 die Professur für Makrosoziologie an der Universität Kassel inne. Er beschäftigt sich unter anderem mit Generations- und Exklusionsforschung. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem »Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen« und der Roman »Aufprall« (Hanser), den er mit Bettina Munk und Karin Wieland geschrieben hat.
Aron Boks wurde 1997 in Wernigerode geboren und ist Poetry-Slammer, Autor und Moderator. 2019 erschien sein autobiografisches Buch über Magersucht »Luft nach unten« (Schwarzkopf & Schwarzkopf), seit 2021 schreibt er für die taz. In seinem neuesten Werk »Nackt in die DDR« begibt er sich in seiner eigenen Familiengeschichte auf Spurensuche nach seinem Urgroßonkel Willi Sitte.
Leah Strobel wurde 2003 in Dresden geboren und begeistert sich, seit sie denken und lesen kann, für Literatur. Seit 2017 ist sie beim Dresdner »Kulturgeflüster« aktiv und schreibt Theater- und Buchkritiken. Um ihre Buchleidenschaft weiter zu verfolgen, hat sie 2020 auf Instagram den Buchblog @lesefruechte ins Leben gerufen, auf dem alles um das Lesen und gesellschaftspolitische Themen kreist und wo sie regelmäßig Buchrezensionen veröffentlicht.