Charlotte Gneuß (c) Amac Garbe
21.06.2024
Karin Großmann

Dresden als literarisches Gebiet

Was die Stadtschreiberin Charlotte Gneuß plant

Zurück

Es klang fast wie Heimkommen: Dieser Tage wurde Charlotte Gneuß als 29. Stadtschreiberin von Dresden begrüßt. Der Platz in der Hauptbibliothek im Kulturpalast reichte nicht für alle, die dabei sein wollten. Sie sei so glücklich, sagte die Autorin, und so dankbar, dass gerade jene Stadt sie willkommen heiße, die ihre Eltern noch vor dem Fall der Mauer verließen. Sie selbst war schon mehrfach da. »Es gibt Orte, an denen man jahrelang leben kann, aber man kann nicht über sie schreiben. Das geht mir mit Dresden ganz anders«, sagt sie. »Es ist für mich ein literarisches Gebiet, und je mehr Zeit ich hier verbringe, desto tiefer kann ich mich fallen lassen. Wenn ich an der Elbe stehe, und das mag jetzt kitschig klingen, empfinde ich eine große Ruhe.« Auf die Frage in einem Interview, ob sie die politische Konstellation in der Stadt nicht abschrecke, sagt sie: »Dann muss man doch gerade hingehen! Man darf doch den Rechten nicht das Feld überlassen. Wenn man sich jetzt nicht einmischt, wann dann?«

Charlotte Gneuß studierte an der Evangelischen Fachhochschule Soziale Arbeit und engagierte sich in dieser Zeit unter anderem für die Zeitung Der Riegel, in der Gefangene von ihrem Alltag in der JVA schreiben. Vor allem recherchierte sie auf dem einstigen Wismut-Bergbaugelände am Stadtrand für ihren ersten Roman Gittersee. Er spielt in den Siebzigerjahren und erzählt die Geschichte einer Schülerin. Die 16-Jährige fühlt sich überfordert mit der Sorge um die kleine Schwester und allein gelassen: Der liebste Freund flieht aus der DDR, die beste Freundin verrät sie, die Mutter hat mit sich zu tun und der Vater mit Alkohol. Die Lücke füllt ein einfühlsamer Mitarbeiter der Staatssicherheit. Die Schülerin unterschreibt eine Verpflichtungserklärung.

Bei ihrer Amtseinführung erzählt Charlotte Gneuß, wie sie Zeitzeugen suchte, im Stadtarchiv forschte und eine Fülle von Details zusammentrug. Die wenigsten kommen im Buch vor. »Aber ich brauche den historischen Hintergrund«, sagt sie, »ich muss mir die Geräusche und Gerüche von damals vorstellen können.« Die literarische Wahrheit mache sich nicht an Straßennamen fest. Wo aber liegt die Grenze zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Kunst? Darüber wurde nach dem Erscheinen des Romans im Vorjahr gestritten. Es ging um viele einzelne Fakten. Doch schnell verselbstständigte sich die Debatte. Ostdeutsche sahen einmal mehr die Deutungshoheit über ihre eigene Geschichte bedroht. Charlotte Gneuß stammt aus Schwaben, sie wurde 1992 in Ludwigsburg geboren. Manche Leser setzten ihre eigene Lebenserfahrung gegen den Roman. Dabei geriet die Ungeheuerlichkeit, die dort erzählt wird, beinahe aus dem Blick. Und wie da erzählt wird: locker, flott und oft unbekümmert aus Sicht der Schülerin. Der Ton steht im Widerspruch zu dem, was passiert. Aus diesem Widerspruch entwickelt sich die Wirkung des Textes. Die Autorin erhielt den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung zur Förderung junger Künstler, den aspekte-Literaturpreis und das Literaturstipendium des Landes Baden-Württemberg. Ihr Debütroman stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

Es ist nicht das erste und nicht das letzte Buch der umtriebigen Schriftstellerin. Mit einer Kollegin gab sie den Band Glückwunsch heraus, in dem 15 Autorinnen und Autoren über Abtreibung schreiben, ein in der Literatur selten beleuchtetes Thema. In der Magazin-Reihe Das Gramm erschien kürzlich die Kurzgeschichte Oder Reutershagen von Charlotte Gneuß. Auch hier zeigt sich das Beobachtungstalent der Autorin. Sie kann Szenen plastisch und pointiert beschreiben, Spannung aufbauen, Figuren vorstellbar machen. Wieder lässt sie eine Jugendliche erzählen, realistisch und kunstvoll zugleich: »Wir kicherten und aßen Schoki von Manni ums Eck.«

Die Dresdner Stadtschreiberin braucht weder die Sitzungen der Abgeordneten zu protokollieren, noch die Reden des Oberbürgermeisters verfassen. Sie kann sich ganz auf die eigene Arbeit konzentrieren. Mit dem Amt ist eine mietfreie Wohnung für ein halbes Jahr und ein monatliches Stipendium von 1.500 Euro verbunden. Kulturamt und Ostsächsische Sparkasse kümmern sich darum. Charlotte Gneuß will die Zeit nutzen für den zweiten Roman. Außerdem plant sie für die Stadtbibliothek eine Gesprächsreihe unter dem Titel »Wort und Welt«. Mit befreundeten Autorinnen und Autoren will sie über das Verhältnis von Ethik und Ästhetik diskutieren. Beim Festival »Pirna schreibt« gibt sie einen Workshop zum Verfassen von Kurzgeschichten. Interessenten können sich schon mal anmelden für 20., 21. und 22. September.