Katrin Nitzschke leitete bis 2021 das Buchmuseum der SLUB Dresden. Die derzeitige Ausstellung »Menschen machen Bibliotheken« mit Porträts von Bibliothekaren aus zwei Jahrhunderten ist die letzte, die sie konzeptioniert hat. Zur ihrer Verabschiedung am 26. August 2021 hielt die Kulturjournalistin Karin Großmann die folgende Rede.
Seien Sie herzlich eingeladen zu einer Reise nach Santa Luzia und Boa Vista, auf die Azoren und die Kanaren oder auch nach Madeira. All diese Orte waren einmal das Ziel von Seefahrern und von Königen, die ihre Seefahrer dorthin schickten in der Hoffnung, sie könnten die »Glücklichen Inseln« entdecken. Manche kehrten mit Ziegenfellen zurück. Die glücklichen Inseln fanden sie nicht. Wir könnten es also versuchen. Nun sind Fernreisen gerade keine gute Idee. Aber vielleicht darf ich Sie mitnehmen auf eine Reise durch das Leben einer Frau, die zwar nicht mit exotischen Blüten dienen kann – aber sie kann Papier zum Blühen bringen. Dann verwandelt sich ein kleiner, eng beschrifteter Zettel mit Namen und Fakten zum Krimi, zum Märchen, zum Drama, zu einem putzmunteren dreidimensionalen historischen Panorama.
So habe ich es als Journalistin viele Male an der Seite von Katrin Nitzschke erlebt. Wenn sie durch eine Ausstellung führt und erzählt, kann man nur staunen – über ihr Wissen, wie sie disparate Dinge in einen Zusammenhang bringt und Details der sächsischen Geschichte sofort griffbereit hat. Das Staunen wiegelt sie gern ab mit dem Satz: »Aber das wissen Sie ja alles!« Nein! Nie! Woher denn?! Den Inselsuchern von einst hätte Katrin Nitzschke manche Orientierung mitgeben können, etwa den See-Atlas des portugiesischen Kartografen Diogo Homem aus dem Jahr 1568, der übrigens wegen eines Mordverbrechens außer Landes verwiesen worden war und später in England … Aber das wissen Sie ja!
Für Landkarten und Atlanten interessiert sich Katrin Nitzschke besonders. Sie interessiert sich besonders für Handschriften. Für Zeitschriften. Für Fotografien. Für Inkunabeln. Für Noten. Für Bucheinbände. Für Adressbücher. Für Tagebücher. Und für Buchbücher natürlich. Selbst der dreieckige Autowimpel aus dem Nachlass der Dresdner Opernsängerin Erna Berger mit deren Initialen und einem Notenschlüssel kann ihr ein Leuchten ins Gesicht zaubern.
Wofür sich Katrin Nitzschke nicht interessiert, fällt mir leider gerade nicht ein. Sie kann sich sogar runde Jubiläen schöngucken, also Pflichtaufgaben. Ein Unternehmer wie Traugott Bienert zum Beispiel wäre nicht ihr erster Wunschkandidat für eine Ausstellung gewesen. Aber je mehr sie von seinem mühsamen Mühlenleben entdeckt, von seinem sozialen Engagement und seiner kunstsinnigen Schwiegertochter Ida, desto intensiver stürzt sie sich in die Arbeit. Ein Merksatz auch für suchende Seefahrer: Wer tief genug taucht und ausdauernd segelt, der findet. Für ihre Ausstellungen kann sie aus den verstecktesten Winkeln dieses Hauses Fundstücke ans Licht holen. Wie ihr das gelingt, wissen ihre Kolleginnen und Kollegen besser. Ich vermute, es ist die ansteckende Begeisterung? Die Neugier? Und vielleicht eine kleine, subtile Hartnäckigkeit? Katrin Nitzschke dankt es mit ihrer Hilfe bei Ausstellungen, die andere arrangieren.
Sie merken, dass es mir schwerfällt, solche Sätze in der grammatischen Vergangenheit zu formulieren. Nach mehr als vierzig Jahren soll das enden? Kaum vorstellbar. Zumal es ja viel mehr als vierzig Jahre sind. Da hängt viel mehr Zeit dran. Katrin Nitzschke fühlt sich ihren Kollegen und deren Vorvorgängern eng verbunden. Einigen werden Sie in der neuen Ahnengalerie begegnen. Zum Beispiel jenem Johann Christoph Adelung, der die Bibliothek im Japanischen Palais schon 1788 öffentlich zugänglich machte. Übrigens ein begeisterter Kartensammler! Auch von Seekarten! Oder Friedrich Adolf Ebert, der um 1820 den Beruf des Bibliothekars salonfein machte und leider mit seinem Sturz von der Leiter auch den Bibliothekarstod. In die illustre Reihe gehört jener Ernst Wilhelm Förstemann, der die Dresdner Maya-Handschrift erforschte und auf dem Fürstenzug die geistige Elite vertritt, also ziemlich weit hinten marschiert auf der Longvehikel-Fliese beim Stallhof.
Einer sei noch genannt, dessen Bild als letztes in der Ahnengalerie hängt: Burghard Burgemeister. Er war es, der Katrin Nitzschke 1975 einstellte. Sie hatte noch nichts in der Tasche als ein einjähriges Praktikum in der Uniklinik. Das gewünschte Medizinstudium blieb ihr, unangepasste Tochter aus katholischem Hause, verwehrt. Statt eines Fernsehapparats gab es in der Familie einen gut gefüllten Bücherschrank, das Ritual des Vorlesens und gemeinsamen Singens. Das kann einen lebenslang prägen. Katrin Nitzschke singt heute im Chor der Friedenskirche in Radebeul mit.
Ihr Anfang mit Burghard Burgemeister, so erzählt sie es, geht so: Er fragt, warum sie in der Bibliothek arbeiten will. Sie sagt: Weil ich alte Bücher gernhabe. Er sagt: Aber man wird doch nicht Kellner, bloß weil einem das Essen schmeckt. Wussten Sie übrigens, dass es im Buch von James Krüss über die glücklichen Inseln hinter dem Winde eine Napfkucheninsel gibt? An dieser Stelle würde Katrin Nitzschke beiläufig die neue gastronomische Sammlung erwähnen mitsamt den Ratgebern aus dem 16. Jahrhundert, die damals schon vor der Pestilenz warnten und vor den greulichen Lastern der Trunkenheit, den Seefahrern sei es gesagt. Betrunken findet man glückliche Inseln nie. Dazu braucht es nicht zuletzt das passende Besteck.
Tinte, Federhalter und Radiermesser gab es für die Neue 1975 und eine Schreibmaschine, die doppelt so alt war wie sie. Es gab Katalogschränke, Katalogkästen und Karteikarten, auf denen das u mit einem Häkchen versehen werden musste. Man soll ja niemandem ein N für ein U vormachen. Wenn sie etwas wissen wollte, musste sie zu den Herren Meyer und Brockhaus gehen oder im Stockwerk darüber lange suchen. Mit der ersten elektrischen Schreibmaschine deutete sich die Medienrevolution allmählich an. In dieser Zeit studierte Katrin Nitzschke an der Leipziger Bibliotheksfachschule und danach an der Karl-Marx-Universität Kultur- und Literaturwissenschaft, fünf Jahre Fernstudium. Seit 1984 leitet sie das Buchmuseum. Die aus Krieg, Feuer und Wasser im Japanischen Palais geretteten Schätze hatten ein provisorisches Unterkommen in der Marienallee gefunden, aber nichts, und auch das wissen Sie, hält sich so dauerhaft wie ein Provisorium.
Gewehrschränke der ehemaligen Kaserne wurden zu Vitrinen für Buchausstellungen umgerüstet. Das klingt fast wie Schwerter zu Pflugscharen. Doch der neue Wind wurde erst langsam spürbar, und das nutzte Katrin Nitzschke 1989 für eine Ausstellung über die Wettiner. Ja und, wird mancher sagen. Ostsozialisierte Bürger wissen: Adel war kein Top-Thema in der DDR. So was musste man schon geschickt einfädeln und abtrotzen. Das Kommando »Klar zur Wende!« machte vieles einfacher. Doch das provisorische Buchmuseum hielt auch dann noch eine Weile.
In der Marienallee zeigte Katrin Nitzschke 2001/2002 eine Ausstellung über verbotene Bücher. Wie viele Ausstellungen es insgesamt waren in all den Jahren, hat sie nicht gezählt. Über hundert, denke ich. Aber diese ist ihr besonders wichtig. Denn mit verbotenen und heimlich gedruckten Texten sind Haltungen verbunden, die sich verallgemeinern lassen: Warum Menschen widerstehen und sich mutig querstellen, was sie für ihre Überzeugung riskieren oder wie sie mit List das Vernünftige durchzusetzen versuchen, wie sie sich anpassen, Kompromisse eingehen.
Die Schicksale hinter den Büchern – das ist es, was die Chefin des Buchmuseums immer neu fasziniert. Vielleicht hat sie es manchen von Ihnen erzählt, wie sie an einem nasskalten Frühjahrsmorgen mit einem Kollegen auf den Dachboden eines Hauses in Dresden-Loschwitz stieg. Dort im Veilchenweg hatte der expressionistische Schriftsteller Martin Raschke gelebt. Seine Tochter Sophia hütete die schriftliche Hinterlassenschaft. Gleich beim Öffnen der ersten Kiste fiel Katrin Nitzschke ein Brief von Klaus Mann in die Hände, und natürlich erübrigt sich die Frage, ob sie die Handschrift gleich erkannt habe. Sie hat. Dank ihrer engagierten Fürsprache liegt Martin Raschkes Erbe inzwischen sicher hier im Haus. Die Herausgabe seiner Korrespondenz wäre eine lohnende Aufgabe.
Sie ahnen, wer sich gern darum kümmern würde. Erfahrungen im Büchermachen wären reichlich vorhanden. Dafür stehen Ausgaben wie Die großen Dresdner oder der Text-Bild-Band über die Prager Straße oder ein Reiseführer durch Dresden, der sich nicht mit sattsam bekannten Ansichten und überbewerteten Milchläden begnügt. Ein Buch mit dem schönen Titel Was die Seele braucht hat Katrin Nitzschke Erhart Kästner gewidmet. Er hat das Buchmuseum im Japanischen Palais aufgebaut. Sein Wirken in Dresden stand im Zentrum einer Ausstellung zum 100. Geburtstag – es war eine der ersten am neuen Standort.
Den Umzug auf den Zelleschen Weg haben einige von Ihnen leibhaftig mitgemacht. Die kostbarsten Schätze bekamen endlich den passenden Ort. Ein Haus im Haus. Darin das Skizzenbuch von Albrecht Dürer und das Blumenbuch von Maria Sibylla Merian, Handschriften von Martin Luther und Hans Sachs, ein sumerischer Tonkegel, ein Band mit Boccaccios Werken, das Rechenbuch von Adam Ries, eigenhändig verfasste Partituren von Bach, Wagner, Schumann, gar nicht zu reden von Sachsenspiegel oder Maya-Codex. Der bleibt für immer. Rühr nicht dran. Die anderen Stücke wechseln aus konservatorischen Gründen. Deshalb sollte man öfter wiederkommen. Ein Grund mehr sind die Ausstellungen, die Katrin Nitzschke so wunderbar darum herum gruppiert oder im Haus verteilt. Dabei wird scheinbar mühelos eine unerschöpfliche Menge an Material angesaugt und geordnet: Inseln im geschichtlichen Chaos. Martin Raschke sagte über seine Zeitschrift Die Kolonne, sie wolle sich nicht an Stimmungen und Moden verschenken, sondern einen Atemraum für Großes schaffen.
Atemraum mag pathetisch klingen, aber das Wort trifft zu für die Ausstellungen. Bei jeder wird Katrin Nitzschkes Anspruch spürbar: Zeigen, was kein anderes Haus zeigen kann. Originalität statt Beliebigkeit. Kein Fest für den Zeitgeist. Aber doch ein Reflex auf Gesellschaft. Da wird zum Beispiel angesichts des rasanten Medienwandels das gute alte Fotoalbum noch einmal ins Licht gerückt. Eine Schau über Raritäten aus fernen Ländern liefert den Kommentar zur Provenienz-Debatte. Als der nahende Weltuntergang wieder einmal Leser wie Nichtleser beschäftigt, kommt die Ausstellung zum Maya-Kalender gerade richtig. Das Jubiläum von Luthers Thesenanschlag schließlich bringt nicht nur die Begegnung mit bemerkenswerten Papieren und Pergamenten, sondern Denkanstöße. Welche Werte zählen im Leben, was ist wirklich wichtig? Und wie findet man die glücklichen Inseln? Mir fiel neulich ein schmaler Band in die Hände, in dem der ehemalige Hanser Verleger Michael Krüger über seine Begegnungen mit dem polnischen Dichter Zbigniew Herbert erzählt. Er zitiert einen Brief des Freundes: »Aber es gibt keine glückliche Insel – das wissen wir beide wohl.« Dem darf heute an diesem Ort widersprochen werden.
Zum Weiterlesen: Ein Interview mit Katrin Nitzschke auf dem Blog der SLUB.
Katrin Nitzschke (* 1955) leitete bis 2021 das Buchmuseum der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. In Leipzig studierte sie Bibliothekswesen und Kulturwissenschaften. 1984 übernahm sie die Leitung des Buchmuseums der Sächsischen Landesbibliothek. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher, die überwiegend Dresden zum Inhalt haben. Die derzeitige Ausstellung »Menschen machen Bibliotheken« mit Porträts von Bibliothekaren aus zwei Jahrhunderten ist die letzte, die sie konzeptioniert hat. Sie läuft bis zum 11. November 2021.