Klub der kruden Dichter 20212 (c) Oliver Killig
Klub der kruden Dichter 2022 (c) Oliver Killig
/ 3
15.10.2023
Martin Frank

Eine Literaturschau auf Abwegen

Der »Klub der kruden Dichter« im Hygiene-Museum

Zurück

Dass dieser Text in der Rubrik »Weiterlesen« erscheint, lässt sich durchaus als Pointe verstehen. Denn vielleicht entstand der »Klub der kruden Dichter« genau deswegen: weil ich eben nicht mehr weitergelesen habe. Der liminale Moment, wenn die Zeilen auf dem Papier verschwimmen, wenn Müdigkeit den Text verschluckt. Wenn pränatale Erinnerungen an das Zimmerantennen-Flimmern von Bio’s Bahnhof hinter den Augenlidern schimmern, wenn der Halbschlaf uns wie ein Maelstrom verschluckt und ergraute Dichterfürst:innen uns wie Kapitän Nemo an Bord willkommen heißen: Im Traum erscheint es möglich, dass die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur nicht nur ins Fließen kommen, sondern deren Antagonisten auch Feste feiern.

Als ich das Showformat »Klub der kruden Dichter« für das Deutsche-Hygiene Museum entwickelte, war wohl dieser Wunsch der Vater des Gedankens: ein literarisches Quartett auf 11 gedreht ganz ohne Genre-Dünkel.

Gemeinsam mit der Journalistin und Autorin Catrin Altzschner begrüße ich einmal im Jahr drei Gäste auf der Bühne des Deutschen Hygiene-Museums. Ausgehend von den Sonderausstellungen des Hauses blicken wir an die Ränder des Menschseins. Nicht die Pathologisierung von menschlichen Abgründen, Tabus und Fetischen soll dabei im Fokus stehen, sondern die künstlerische Auseinandersetzung damit. Und natürlich wollen wir betrachten, wie Künstler:innen und ihr Publikum menschliche Abseitigkeiten immer wieder gesucht, sich darin verhakt und auch davon freigemacht haben.

Diavortrag mit Vorspultaste

Unsere Gäste wählen ein vom jeweiligen Thema des Abends inspiriertes Werk aus, das sie an diesem Abend präsentieren möchten. Dabei ist es ihnen überlassen, ob es sich um ein Buch, einen Film, einen Comic, ein Computerspiel oder ein Hörspiel aus Kindertagen handeln soll. Ein im Antiquariat aufgestöbertes Sachbuch aus dem 19. Jahrhundert ist ebenso legitim wie ein irrlichternder Trash-Film oder ein vergessener Bestseller-Roman: Im »Klub der kruden Dichter« herrscht eine offene Türpolitik. Das heißt aber nicht, dass über die vorgestellten Werke nicht auch leidenschaftlich gestritten, sich amüsiert, gestaunt und furchtlos debattiert werden darf.

»Ich hasse den Begriff ›furchtlos‹ in diesem Zusammenhang, denn das ist kaum der richtige Ausdruck für das Dissen eines oscarverdächtigen Films oder das Geständnis, mit Cate Blanchett nicht viel anfangen zu können, oder dass man die erste Staffel von True Detective nach nur einer Folge schon richtig langweilig fand«, liest man bei Bret Easton Ellis. Und so lässt sich der »Klub der kruden Dichter« vielleicht auch als Versuch verstehen, dem Debattieren über Kunst und Literatur etwas von der Freiheit und Magie zurückzugeben, als man noch beherzt mit der Axt auf den Talkshow-Tisch einhieb.
Die von den Gästen ausgewählten Werke werden in einer Art Diavortrag präsentiert. Die gezeigten Bilder konnten die Eingeladenen zwar vorab frei wählen, die Geschwindigkeit mit der sie gezeigt werden ist aber von uns festgelegt. So entsteht ein wilder assoziativer Ritt, bei dem die Gäste einerseits versuchen die Zügel in den Händen zu behalten und andererseits die Werke und deren Hintergrund vorzustellen.

Rückblick

Wie in der ersten Folge »Menschen essen«: Dort kam gleich eines der größten menschlichen Tabus auf den Tisch, der Kannibalismus. Underground-Filmemacher-Ikone Jörg Buttgereit, der Autor Fritz Hendrik Melle und die Kriminalpsychologin Lydia Benecke sezierten das Thema ganz ohne Messer und Gabeln. Fritz Hendrick Melle erzählte davon, wie er 1991 – damals wurde er als der neue Jörg Fauser aus Karl-Marx-Stadt gehandelt – beim Bachmannpreis das Unverständnis von Helmut Karasek und Sigrid Löffler erntete. Jörg Buttgereit berichtete von seiner wechselvollen Beziehung zum Schaffen von Désirée Nosbusch und Lydia Benecke erwähnte nebenbei, sie wüsste von der Anwesenheit eines bekennenden Kannibalen im Publikum: »Aber keine Angst. Er tut nichts.«

Buttgereit brachte den Film Der Fan von Eckhardt Schmidt mit in die Runde, während Melle seinen jüngsten Roman Wurst vorstellte und Lydia Benecke die Graphic Novel My Friend Dahmer von Derf Backderf besprach: Kann man Empathie für serienmordende Kannibalen entwickeln, und was sagt die nicht enden wollende Begeisterung über True Crime Storys eigentlich über uns aus? Das waren nur zwei der vielen Fragen, die wir uns an dem Abend stellten.

In der zweiten Ausgabe »sex machina« ging es um Maschinen, die nicht nur intelligent agieren, sondern auch das Bedürfnis nach Sexualität und Liebe entwickeln – und das mit teils drastischen Folgen. Der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt stellte den Science-Fiction-Film Des Teufels Saat vor, Ayanda Rogge, Expertin für Mensch-Maschinen-Kommunikation und humanoide Roboter, den Roman Frankissstein von Jeanette Winterson, und der Journalist und Videogame-Enthusiast Christian Schiffer das frühe Computerspiel Softporn Adventure. Am Ende musste der Abend fast gezügelt werden, drohte es doch zu einem Streit zwischen Schmitt und Rogge über die Zukunft der Arbeit, kapitalistische Ausbeutung und moderne Sklaverei zu kommen.

Besonderes Highlight war an diesem Abend, dass – wie es sich für einen echten Klub mit Bar, Drinks und hitzigen Gesprächen über Kunst und Gesellschaft gehört – auch eine Band die Bühne betrat. Mit Timm Völker und Patrice Lipeb konnten wir ein Duo gewinnen, in deren Sound der Mittlere Westen der USA und das Leipziger Hinterland miteinander verschmelzen. Später soll jemand im Publikum geflüstert haben, der ostdeutsche Nick Cave sei im gleißenden Licht erschienen.

Vorfreude

Bei der kommenden und dritten Ausgabe am 26. Oktober im Deutschen Hygiene-Museum wird Mira Mann mit sphärischen Tönen das Publikum umwickeln und womöglich auch in den Bann ziehen. Nur sinnig, denn in der kommenden Folge des »Klubs der kruden Dichter« sprechen wir über Werke, in denen Sekten und Kulte ihren Auftritt haben: Pagane Rituale, Macht und Verführung und Blumenkinder, die auf Sinnsuche in Spiralen der Gewalt entgleiten. Die Schauspielerin, Autorin und Filmemacherin Saralisa Volm stellt den Roman The Girls von Emma Cline vor, Linus Volkmann, Journalist, Podcaster (Ausnahme der Rose) und Meme-Connaisseur bespricht das TKKG-Hörspiel Die Bettelmönche aus Atlantis und die Schriftstellerin Anna Gien (Paris · Rot) bringt den Folk-Horrorfilm The Wicker Man mit in die Runde. Wenn man bedenkt, wie schwer es schon fällt, den Begriff »Sekte« sauber zu definieren und sich sogleich fragt, wer überhaupt die Deutungshoheit darüber besitzt, dann ahnt man schnell: Auch das wird gewiss wieder ein pikanter Abend.

Der »Klub der kruden Dichter« oder KdkD (wie Eingeweihte ihn wohl nennen) wird also wieder eine vielschichtige sinnliche Erfahrung mit Bildern, Musik und Gesprächen über Kunst und Literatur. Und freilich darf auch das obligatorische Quiz nicht fehlen, das das Wissen des Publikums auf die Probe stellt. Kommen Sie am besten selbst vorbei und machen Sie sich Ihr eigenes Bild, denn die erste Regel des KdkD lautet: Was im Klub geschieht, bleibt im Klub.

 

Zum Autor

Nach Station am Deutschen Literaturarchiv Marbach arbeitet Martin Frank seit 2019 am Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Unter anderem entwickelte er dort die Literaturschau »Klub der kruden Dichter«, die er gemeinsam mit Catrin Altzschner moderiert. Mit ihr realisierte er 2023 auch den Podcast »Das Glückskarussell« zur Ausstellung »Hello Happiness!«.