Es gibt Menschen, die sind wie ein Lexikon. Jörg Stübing ist wie ein Buchladen – oder hat der Laden inzwischen ihn selbst aufgenommen und ist mit den Windungen des erogenen Gehirns wie mit Nabelschnüren verwachsen, wie er es sieht? Eine philosophische Abhandlung!
Jörg Stübing hat Blues im Blut. Seine Lieblingsdichterin Undine Materni lernte er kennen, als er in den 80ern mit einem Kumpel Straßenmusik machte – sie warf etwas in den Hut. Heut sagt er: »Ich verehre sie, seit ich sie kenne. Sie macht tolle Gedichte, die sich nicht verstecken müssen.« Stübing als Unverbildeten sprechen sie besonders an: »Undine ist studierte Verfahrenstechnikerin, ich komme ja aus dem Maschinenbau, wir ähneln uns durch unsere Bodennähe.«
Noch immer macht er gern selber Musik. Semiprofessionell spielt er bei Lesungen Blues-Mundharmonika, privat auch Gitarre oder Klavier. Er spürt seine Wurzeln in der langhaarigen Hippie-Ecke: »Ich wurde im Osten früh mit Folkblues sozialisiert …«
Auf circa 500 Veranstaltungen blickt Büchers Best zurück. Dabei waren Konzerte und Theaterpremieren, außerdem kuriose Highlights: »Eva Hesse las bei uns im Hinterhof Gedichte ihres Großvaters, am Ende sang sie sogar Schweizer Volkslieder!«
Seiner Liebe zu Walden von Henry Thoreau widmete Stübing einen Transzendentalisten-Abend, bei dem er gegen Ulrich Thiem am Cello anspielte. Ausnahmsweise hatte er Lampenfieber, er habe dafür viel üben müssen. Kurz nach Eröffnung stemmte er manchmal sieben Veranstaltungen in nur zehn Tagen – damals konnte er noch nicht nein sagen.
Das jüngste Event war dem 20-jährigen Bestehen des Buchladens gewidmet. Lieblingsdichterin Materni war von dem Abend gerührt: »Stü ist mehr als ein Buchhändler. Wie er über seine Mitarbeiter spricht oder seine Kunden, die auch Freunde sind … Er ist einfach ein großherziger Mensch!« Und überwältigt vom Zuspruch des Publikums, das kommt, um ihn mit seinen Töchtern Ukulele spielen zu sehen: »Das hat mich enorm beeindruckt!«, sagt er. »Es war rammelig voll, bestimmt 300 Leute – und das am ersten Samstag nach den Ferien, wo es hochkarätige Konkurrenzveranstaltungen gibt!«
Ein Wochenende später ist er unterwegs Richtung Wien zu einem literarischen Wochenende; der Hauptverband des österreichischen Buchhandels hat ihn und seinen Mitarbeiter neben wenigen anderen deutschen Buchhändler*innen geladen. Das begreift er als kleine Auszeichnung. Auch an großen Auszeichnungen ließen es 20 Jahre Engagement nicht fehlen: Dreimal erhielt Büchers Best den Deutschen Buchhandlungspreis, mit dem die Bundesregierung jährlich eine Million Euro an inhabergeführte Buchhandlungen vergibt. Das Geld wird zum Beispiel in den Nachwuchs investiert, zehn Azubis sind durch die Regale geschritten; die Ära Büchers Best soll Jörg Stübing einst überdauern.
Gipfel oder Häfen
Mitte der Neunziger hatte der Buchhändler noch eine halbe Stelle an der Leipziger Uni, mit seinem 1,0-Abschluss sollte er eigentlich Doktor Stübing werden. Nach 2 Jahren sah er im akademischen Milieu keine Zukunft für sich; ständige Befristungen waren ihm nicht stetig genug: »Ich bin eine Landpflanze, ich wechsele nur ungern Freunde, Gewohnheiten oder meine Lieblingslektüre …« Wie in Cognettis Acht Berge habe er sich gefragt, inwieweit ein Leben dem Anspruch auf Vollständigkeit genügen muss. »Die alten Römer sagten Multum, non multa! – in die Tiefe, nicht in die Breite. Mir ist auch ein Kammerspiel lieber als ein ausufernder Barockroman.«
Der Liebe wegen kam er nach Dresden und hat es bisher nie bereut: »Dresden war schon immer eine meiner Musenstädte!« Als gebürtiger Magdeburger ist er ein Elbkind; entweder Hamburg oder Dresden musste es werden – er sei mit Elbgeruch aufgewachsen. »Ein Fluss, so breit und unkanalisiert – das ist in Europa einmalig!«
So wie der Laden heute sah damals sein Wohnzimmer aus. Seit seiner Kindheit frisst er Bücher in sich hinein; wahrscheinlich hat ihm die Mutter diesen Appetit vererbt. Er war hochfrequenter Bibliotheksnutzer: Acht bis zwölf Bücher hat er im Monat durchgelesen. Sein Kinder- und Jugendlexikon sogar von A bis Z – »Ich dachte, ich hätte dann alles Wissen der Welt in mich aufgesaugt!«
Stattdessen erkannte er mit dem Heranwachsen, dass jeder Buchtitel wie durch Nabelschnüre mit einem anderen verbunden ist. »Man beginnt, das verborgene Wissen dahinter zu ahnen!«, erklärt er. Daher halte er auch das Gehirn für eine erogene Zone – schließlich ist das Umfeld eines Buchladens höchst verführerisch!
Ein Mann wie ein Buchladen
Rückblickend glaubt er, das vieles so kommen musste; sieht »Fingerzeige von oben«: Im Laden seien Stationen seiner Biografie punktgenau abgebildet. Zur Führung eines Kundengesprächs muss man die Vereinfachung von Komplexität beherrschen, was sein Studium ihn lehrte. Daneben hat er – davon ist er überzeugt – das bestkuratierte Philosophieregal. Nach dem Abschluss war er selbstständig als Galerist tätig. Aus dieser Zeit blieb die bis heute andauernde Ausstellungstradition in den Räumen von Büchers Best. Er sieht seinen Laden als Mischform zwischen Café, Galerie und Sozialstation …
Seine Lebenssituation zwischen Brot und Kunst sei teilweise schizophren gewesen: Neben der Leidenschaft für das Schöne habe er ständig Geld verdienen müssen. So kam er als Verlagsvertreter zum Verkauf. »Vertrieb ist ein harter Job«, resümiert er, »aber dort lernt man das Verkaufen lieben – wenn man will.«
Die Grenzen zwischen Kundschaft und Freundschaft nimmt er dabei als fließend wahr. »Die Pflege des Kundenstamms ist Beziehungsarbeit, es geht nicht um schlichte Warenübergabe.«
Bücherliebe und Neugier auf Menschen machten aus ihm einen Buchhändler. Das Verkaufsgespräch sieht er wie einen Tanz, eine sensible Situation: »Die Kund*innen sollen sich im Laden optimal selbst entfalten, wir bieten dafür nur die Kulisse.« Jemand kommt also mit dem Wunsch zu kaufen in das Geschäft; doch was er/sie schließlich mitnimmt, finde man oft gemeinsam. Beide Seiten sollen damit glücklich sein.
Dabei räumt Stübing empfohlenen Büchern unbegrenztes Rückgaberecht ein. »Wenn ich jemandem ein Buch einrede, dem es dann nicht gefällt, soll er/sie es mir wiederbringen – dann war es ein schlechter Tipp.« Zweimal in seiner Laufbahn machte ein*e Kund*in Gebrauch davon.
Streiflichter und Schlagschatten
Seit Februar lebt Stübing mit der Diagnose Morbus Parkinson. Die nächsten fünf Jahre soll die Krankheit langsam voranschreiten, er hofft auf Beschwerdefreiheit mit Medikation. Zehn Jahre glaubt er, den Laden noch schmeißen zu können, doch er muss Reduktion betreiben. Er erklärt: »Ich werde ein Zeitlupenmensch, aber das passt zum Alter.« Er sehe sich als Pionier der Entschleunigung, die Krankheit als spirituelle Aufgabe. Er habe immer gesund gelebt, lief Marathons und trank wenig. Jetzt stelle er sich vor: »Ich bin immer noch ein blitzgeschwinder junger Typ, der nur in einem alten Auto unterwegs ist!«
Das 25- und 30-jährige Jubiläum will er noch schaffen, doch Veranstaltungen sollen künftig gegenüber im Tante Leuk stattfinden. Bisher musste die Ladenfläche von etwa 35 qm mit jedem Event 2,5 Stunden Vor- und ebensoviel Nachbereitung unterzogen werden: Regale abbauen, Kasse trennen, Stühle aus dem Keller tragen … Bis wieder der Fingerzeig von oben kam: Die neuen Eigentümer gegenüber suchten einen Partner, der das Café belebt; kurzerhand gründete man die ku.k-Kooperation: für Kaffee und Kultur.
Stübing verspricht sich viel davon: Die Pilotveranstaltung im Juni war ein Riesenerfolg. 45 Besucher kamen zur Lesung mit Christian von Aster, dabei bietet das Café nicht nur eine kleine Bühne, sondern auch eine Soundanlage: »Jetzt schraube ich nur noch meine Scheinwerfer an die Decke!«
Nicht einmal die Pandemie hat den Laden kleingekriegt. Der Onlineshop ermöglicht den Kunden, direkt beim Großhändler zu bestellen und ihren Lieblingsbuchladen trotzdem zu unterstützen. Für Stübing ist das hoch effizient. Trotzdem seien das Team im ersten Lockdown wie ein Schiff auf Strand gelaufen: »Alle Bestellungen lagen ja hier, zeitweise haben wir mit Fahrradstaffel ausgeliefert …«
Die Abholung im Geschäft ist noch immer ein viel genutzter Service. Auf diese Art könne man »mit seinem Schatz abends im Bademantel bestellen« – mindestens so verführerisch wie das Philosophieregal.
Stübing denkt, dass er die beste Kundschaft der Stadt hat. Corona habe es gezeigt und das Jubiläum auch: »Es gab eine unglaubliche Welle der Sympathie und der Zuwendung – dafür kann ich nur dankbar sein.«
Bleibt zu sagen, was nach 20 Jahren eindeutig fehlt: Musashi ist im letzten Jahr verstorben. Seitdem hat niemand die Uhr aufgezogen, der Buchhandlungskater hinterlässt große Fußstapfen. Der Buchhändler erklärt, wie verbunden er dem Tier ist; allmählich könne er sich jedoch vorstellen, die Nachfolge des schnurrenden Ladenhüters anzugehen – dass es ein Kater wird, ist im Grunde gesetzt; das Motto an der Jugendstil-Fassade besagt:
Lesung, Kunst, Konzert, Theater (links) – Bücher, Kaffee, Tee und Kater (rechts)
Aber in Genderzeiten, fügt Stübing kulant hinzu, dürfte das ruhig auch eine Katze werden.
Text von Josefine Gottwald