Willi Hetze »Die Schwärmer« (erschienen bei Salomo Publishing), Foto von Annett Groh
23.07.2020
Josefine Gottwald

Festplatten voller Gedanken

Zu Willi Hetzes Zukunftsroman »Die Schwärmer«

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»Die glauben, weil man im digitalen Raum ohne Körper existiert, entfalte sich dort die Seele des Menschen. Und sie beten zum Speicher, den sie für ein Gefäß halten, ein Gefäß, das ihren Geist aufnimmt und bewahrt.«

Teo wächst auf dem Lande auf, in einer Kleinstadt namens Moorstedt – doch eigentlich ist sie Synonym für die Bullerbüs der Moderne: Kinder von Schmieden und Pferdezüchtern klettern durch die Natur, abgeschirmt vom Allwissen der neuen Medien, behütet in Naivität.

Irgendwann funktioniert der Alltag nicht mehr, das Postamt wird geschlossen, und Teo, der Bote, beginnt seine Heldenreise. In die Hauptstadt soll er, nach Sybaris 6, und herausfinden, was passiert ist.

Er scheint durch ein Portal in die Zukunft zu schreiten: Nicht nur Moorstedt ist hier unbekannt, auch Namen sind längst Schall und Rauch. Identitäten haben Funktionen, sind nicht viel mehr als Profile, die täglich ihre Daten ändern, Kontakte abbrechen und neu knüpfen. Negative Erinnerungen werden gelöscht, der Speicher bereinigt – niemand belastet sich mit schlechten Erfahrungen.

Zuerst geschockt vom Kulturkontrast, nutzt Teo die Chance, um zu wachsen: Er lernt, über den Funknerv zu kommunizieren und schließt sich dem kollektiven Bewusstsein des »Schwarms« an. Zwei Epochen vereinen sich in seiner Person. »Manchmal lebt das Alte lange in das Neue hinein«, sagt der Chemiker, der später Informatiker wird. Alles in der Stadt ist im Wandel: Menschen wie Chamäleons wechseln die Farbe, den Raum, die Berufung. Niemand hat Zeit zu verschenken, menschliche Annäherung wird optimiert. Sybaris 6 ist längst durch Sybaris 7 ersetzt, das man einfach darüber baut. Kein Fahrplan ist aktuell, das echte Wissen steckt im Schwarm, der alle Intelligenzen vereint, alle Karten kennt, das Wissen der Menschheit bewahrt.

Doch die Ausgeglichenheit einer Gesellschaft in Sonnenbrillen wird von der Revolte des Unterbewussten geplagt: Grausame Träume suchen mehr und mehr Schwärmer heim, der Inhalt ist immer gleich. Hat jemand das Material hochgeladen? Werden die Gehirne manipuliert? Die Wahrheit ist viel natürlicher und weit furchtbarer: Der Schrecken des Romans ist kein totalitäres System, es ist die Menschheit selbst. Den Spalt zwischen ureigenem Instinkt und hochtechnisierten Möglichkeiten überbrückt kein Bioimplantat – Mensch bleibt Mensch, auch unter Maschinen. Und das mächtigste Gefühl ist die Angst.

Ein kaltes Gefühl bleibt zurück beim Erkennen, dass es viele Erfindungen längst nicht nur in Sybaris gibt. In seinem Nachwort schreibt Willi Hetze, dass er selbst zwischen digitaler und analoger Welt aufwuchs. Der Nachwuchsautor ist Preisträger der DRESDNER Miniaturen und wie sein Protagonist ein Sucher. In seinem Debütroman zeigt er einen poetischen Drang, der intellektuell umgesetzt wird. Bilder übertrumpfen sich fast wie die Schwarm-Uploads, direkte Gefühle wären zu plakativ – sie bleiben hinter der Sonnenbrille.

erschienen in DRESDNER Kulturmagazin 05/18 / Literatur