Christiane Hoffmann ist seit Anfang des Jahres Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung und hat lange als Journalistin gearbeitet. Politische Befindlichkeiten und interkulturelle Kommunikation sind für sie ein Heimspiel. Anfang 2020 entschied sie sich für eine ganz persönliche Mission: 550 km ging sie zu Fuß auf dem Fluchtweg, den ihr Vater Im Winter 1945 vor der Roten Armee genommen hatte, von Rózyna/Rosenthal (Niederschlesien) nach Westen. Damit entschied sie sich für die intensivste Art, ihrem Erbe entgegenzutreten.
Frau Hoffmann, wie bei vielen in Ihrer Generation waren Ihre Eltern beide Flüchtlingskinder. Wann haben Sie begonnen, sich für die Familiengeschichte zu interessieren?
Meine Mutter flüchtete aus Ostpreußen, über das Ostseehaff und dann mit dem Schiff. Damals war sie gerade 4 Jahre alt. Alles, was sie erinnert, ist verschüttet und sehr indirekt. Mit meinem Vater, der als Neunjähriger flüchten musste, konnte ich schon als Kind über die Zeit sprechen. Er erzählte zum Beispiel, wie die Menschen im Dorf hastig hätten packen müssen, als sie die Russen über die Oder schießen hörten. Dabei wurde das Oberteil seines neuen Matrosenanzugs vergessen und blieb zurück. Dieser Verlust hat sich ihm eingebrannt, er stand stellvertretend für vieles, was ihm damals abhandenkam.
Die Süddeutsche nennt Ihr Buch »Therapeutisch«. Sie hatten über Jahrzehnte Alpträume von dieser Flucht – wollten Sie sozusagen stellvertretend das Trauma bearbeiten?
Ich habe das nicht zielgerichtet mit einer bestimmten Absicht, sondern intuitiv gemacht. Ich hatte einfach einen starken Drang, es zu tun – mehr gefühlt als geplant. Das Thema Flucht beschäftigte schon seit meiner Kindheit. Auf die Idee, den Fluchtweg nachzugehen, kam ich erst mit über fünfzig. Sie ist nicht lange gereift, sondern ganz spontan entstanden, nachdem ich im Sommer 2019, im Jahr nach dem Tod meines Vaters, noch einmal in Rózyna gewesen bin. Ich konnte dort eine Woche auf dem ehemaligen Hof meiner Großeltern verbringen, weil die junge polnische Familie, die da wohnt, mich einfach aufgenommen hat.
Nach meiner Rückkehr habe ich das Material meines Vaters über Rosenthal noch einmal durchgesehen und blieb an einer Liste der Orte hängen, durch die der Treck gekommen war; eine Frau, die damals mit auf der Flucht war, hatte sie protokolliert. Ich nahm eine Karte und begann, den Weg nachzuvollziehen. Mein Vater hatte nie über die Flucht gesprochen, nur darüber, wie kalt es gewesen war. Er sagte immer: »Ich bin 400 km zu Fuß gegangen!« Tatsächlich waren es viel mehr.
Sie sind dann Ende Januar 2020 zur gleichen Jahreszeit wie der Treck damals den Weg gegangen. Wollten Sie die gleiche Kälte spüren?
Ja, ich wollte so nah wie möglich an die Situation herankommen, in der mein Vater geflohen war. Aber die Klimaerwärmung hat dann wohl dazu beigetragen, dass es 2020 Plusgrade gab; 1945 war es viel kälter, es lag auch sehr hoch Schnee. Aber die Stimmung war ähnlich, der Januar gab dem Weg eine gewisse Tristesse. Ich bin schneller gegangen als die Flüchtlinge, ohne Ruhetage, weil ich nur drei Wochen Zeit hatte anstatt der 40 Tage von damals. Aufgrund von Terminen in Berlin musste ich außerdem den Weg unterbrechen – und wegen der Pandemie waren dann die Grenzen geschlossen. So ging ich die zweite Hälfte erst im Sommer. Die Atmosphäre war anders, ich kam abends nicht in die Dunkelheit, und es war leichter, Menschen kennenzulernen.
Ihr Buch ist »Reisebericht, Familiengeschichte und Selbstbefragung«. Welche Fragen stellten Sie sich auf dem Weg?
Anfangs begriff ich meinen Weg nicht als Pilgerreise. Ich bin vorher nie gepilgert, kannte nur das Joggen oder Bergwanderungen. Das sind auch Körpererfahrungen, aber erst auf dem Weg verstand ich, wie leer das tagelange Gehen macht, wie sehr man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Ich hatte angenommen, mir würden beim Gehen tausend schlaue Gedanken kommen – stattdessen ist das Gegenteil passiert: Irgendwann dachte ich gar nicht mehr.
Der Weg war also auch meditativ …
Hinterher habe ich die Bedeutung dieser Familiengeschichte für mich reflektiert. Ich fragte mich, wie mich dieses Erlebnis geprägt hat. Ich kann jetzt viel besser verstehen, warum mein Vater sich nicht gut erinnern konnte, obwohl er schon neun Jahre alt war. Auch wie stark eine Flucht traumatisiert – wie radikal der Bruch ist. Mir wurde klar, was mein Vater alles verloren hat. Nicht nur Materielles, also sein Erbe; sein Bruder und seine Großmutter starben, sein Onkel blieb verschollen, sein Vater für Jahre in der Gefangenschaft verschwunden. Aber besonders schwerwiegend ist die elementare Verunsicherung durch die Erfahrung, dass man auf einen Schlag sein ganzes Leben verlieren kann.
Was bedeuten Ihre Erfahrungen für die Menschen heute? Interkultureller Austausch ist ja sozusagen Ihre Mission …
Es ist mir ein großes Anliegen, ein multiperspektivisches Buch zu schreiben, die Sicht von Polen und Tschechen mit einzubeziehen. Und die Geschichte in die Gegenwart zu holen. Ich wollte wissen: Was hat diese Geschichte mit den Polen gemacht; wo erinnern wir uns ähnlich oder gegensätzlich?
Heute sind infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine in Europa wieder Millionen Menschen auf der Flucht genau wie damals. Aber wir können zumindest aus der Erfahrung lernen, beispielsweise die Traumatisierungen von geflüchteten Kindern aktiv zu bearbeiten. Wie begegnet man den Geflüchteten, die hier ankommen? Flucht ist ein Schicksal, das nie zu Ende geht. Und es kann jeden treffen. Das Schicksal schlummert in sehr vielen Familiengeschichten, das habe ich durch die vielen Reaktionen auf mein Buch gemerkt. Das Fluchtschicksal ist universell, es hat Motive, die sich immer ähneln, den Heimatverlust, das Hin- und Hergerissen-sein, die Sehnsucht nach dem Verlorenen und den Wunsch anzukommen, gleichzeitig die Ungewissheit, wie man empfangen wird. Ist man willkommen? Das spielt eine Rolle, egal, in welcher Weltgegend man sich bewegt.
Sie sind vom journalistischen Schreiben zum Veröffentlichen von Büchern gekommen. Welche Stärken hat Kunst vor allem für Sie, wenn Sie an politische Gesellschaften denken?
Mein erstes Buch handelte von meiner Zeit als Reporterin in Iran. Es war journalistischer, dieses jetzt ist literarischer. Dieses Buch hat mehrere Ebenen, es ist kein klassisches Sachbuch. Ich wusste, es musste ein emotionales Buch werden, es konnte nicht distanziert sein. Aber teilweise nutze ich einen selbstironischen oder heiteren Blick, beispielsweise wenn ich von meinen eingebildeten Ängsten schreibe. Damit es nicht zu pathetisch wird. Ich habe lange den Ton gesucht, der für mich angemessen war. Ich glaube, das war richtig so; ich bekomme sehr viele Briefe, Mails und Wortmeldungen bei Lesungen, und dieser Ton wird oft hervorgehoben.
Wie fühlen sie sich jetzt, am Ende dieser Reise? Sind Sie ruhiger, erfüllter? Leerer?
Ich bin jetzt mit meiner Familiengeschichte ein Stück weit versöhnter. Aber der russische Überfall auf die Ukraine in der Woche, als das Buch erschien, hat verhindert, dass sich das Kapitel schließen konnte. Was damals passiert ist, ist noch lebendig, die Geschichte des Zweiten Weltkrieg kann jederzeit wieder politisch missbraucht werden. Mir wurde deutlich: Es hört nicht auf. Die Bilder in den Medien gleichen denen von damals: damals wie heute zeigen sie vor allem Frauen mit Kindern, die flüchten. Das Buch wurde letztlich von der Wirklichkeit eingeholt.
Das Gespräch führte Josefine Gottwald
Zur Lesung mit Martina Gedeck und Ijoma Mangold am 25.11.