Geschichten testen Grenzen aus, beschreiben Optionen zwischen Realität und Fiktion, zeigen neue Perspektiven auf. So auch Ralf Günther in seiner neuen Erzählung Goethe in Karlsbad. Goethe ist eigentlich im Sommer 1816 zum Schreiben in den berühmten nordböhmischen Kurort Karlsbad gereist. Dort trifft er auf das junge Liebespaar Amalie und Henri. Er erfährt, dass sich die beiden aus Verzweiflung umbringen wollen, weil sich ihre Familien der Beziehung entgegenstellen. Der Dichter kann sie davon abhalten, ihren Plan durchzuführen, und setzt sich fortan für das junge Paar ein, auch wenn ihn andere Affären zurück nach Weimar rufen.
In Zeiten von Fake News, die sich rasend schnell im Internet ausbreiten, werfen auch historische Romane immer wieder Fragen auf. Was von dem Geschriebenen ist wahr? Wo verläuft die Grenze zwischen Realität und Fiktion? Und wie weit ist es möglich, diese Grenzen bei bekannten Persönlichkeiten auszuloten? Diese Fragen kommen auch bei dieser Erzählung auf: in erster Linie dann, wenn es um Goethes (mögliche) Liebschaft Florentine von Dünckel geht, mit der er ein uneheliches Kind gezeugt haben soll. Die ein oder andere Antwort auf diese Fragen mag der*die Leser*in im Nachwort finden. Ob es diese Beziehung wirklich gegeben hat oder nicht, so steht dennoch fest: Goethe experimentierte mit der Liebe, hielt sich nicht immer an die damals üblichen gesellschaftlichen Konventionen. Das gilt unter anderem auch für seine eigene Ehe. Er praktizierte oft ein anderes Verhältnis zu Frauen als viele andere Männer zu seiner Zeit und nahm in seiner Lebensführung jene »romantische« Auffassung vorweg, die später von den Romantikern zur Norm erhoben wurde und diese bis heute auch noch ist. Es ist auch diese romantische Liebe über die Standesgrenzen hinweg, die so prägend für die Erzählung Goethe in Karlsbad ist: Sie lässt sich nicht nur auf die Beziehung zwischen Goethe und seiner Frau, sondern auch auf die Liebe zwischen Henri und Amalie beziehen. Auch Henri, diesem leidenschaftlichen jungen Mann, der zu Beginn der Erzählung keinen anderen Ausweg sieht als sich angesichts der Widerstände gegen seine Beziehung zu Amalie das Leben zu nehmen, hält Goethe immer wieder vor Augen, dass seine eigenen Werke nicht der Realität entsprechen: »Ich transzendiere das echte Leben in ein Bild. (…) Aber ein Ratschlag für die erfundene Figur taugt nicht fürs reale Leben. Sonst könnten wir ja alle Probleme dieser Welt, durchs Bücherschreiben lösen.« (Seite 64) Was hätte er einem Liebenden, der seinem Leben ein Ende setzen wollte wie das große Vorbild »Werther«, auch anderes entgegenhalten sollen?
Es ist spürbar, dass der Autor schon viele historische Romane geschrieben hat. Er trifft den Geist der Zeit um 1816 in seiner Sprache, in seinen Beschreibungen und Themen. Dazu gehört nicht zuletzt der bereits angesprochene Übergang zwischen arrangierten Ehen und dem bis heute bestehenden Ideal von einer »romantischen« Liebe. Wer wenn nicht Goethe hat mit überkommenen Werten wie Traditionen gebrochen und ist eine Ehe mit seiner nicht standesgemäßen Liebe Christiane Vulpius, allen Widrigkeiten zum Trotz, eingegangen, die Zeit ihres Lebens in Weimar umstritten blieb? Geradezu anrührend schildert Günther Christianes Tod und Goethes Trauer. Aber sollte der Geheimrat tatsächlich so viel Skrupel gehabt haben, die Versorgung seines unehelichen Kindes und dessen Mutter ganz nach den zeitgenössischen Maßgaben regeln zu müssen, wie es im Buch sehr ausführlich geschildert wird? Indem er nämlich dafür sorgte, dass ein anderer Mann das schwangere Mädchen heiratete, um dem Kind eine ausreichende Versorgung zu ermöglichen? Während Goethe selbst nur als Geldgeber fungierte und sich dadurch vollständig aus der Affäre und jeglicher Verantwortung zog und das Mädchen, gefesselt durch die Ehe an einen viel älteren Mann, letztendlich alles ausbaden ließ?
Auch wenn Goethe oft anfing, den starren Normen der Gesellschaft zu entfliehen, war es wohl für den alternden Dichter und Fürstendiener im Roman Ralf Günthers zu viel, mit den Konventionen wie den Romantikern völlig zu brechen. Dadurch bringt der Autor schlüssig zum Ausdruck, dass prägende Genies wie Goethe den Zwängen ihres Amtes und ihrer Zeit dennoch nie vollständig entfliehen konnten, auch wenn ich mir für Florentine von Dünckel und ihre Tochter ein anderes Ende gewünscht hätte.
Goethe in Karlsbad ist eine Erzählung, die den*die Leser*in in eine Vergangenheit entführt, deren Wertvorstellungen und Traditionen uns fremd geworden sind; weder mit den starren Standesdünkeln, die zeitlebens dafür sorgten, dass Christiane Vulpius kein anerkannter Teil der Weimarer Gesellschaft wurde, und Liebesehen verhinderten, noch dem romantischen Überschwang und den pathetischen Liebesgeständnissen können wir heute noch viel anfangen. Günther spielt mit alten und neuen Lebens- und Gefühlswelten, ohne dabei Fakten gegen Fiktionen oder die Vergangenheit gegen die Gegenwart auszuspielen. Denn zu allen Zeiten gilt: »Geschichte funktioniert nicht ohne die Persönlichkeiten, die sie formen.«