Autorenfoto Manuela Bibrach, Bild: privat
19.08.2021
Josefine Gottwald

»Ich mache eine Tür auf und der Text kommt raus«

Manuela Bibrach ist diesjährige Preisträgerin der DRESDNER Miniaturen

Zurück

In den Bäumen drehen sich Windspiele, an der Hauswand summt Weinlaub. Im einem Naturpool schwimmt eine Plastikente mit ihrem Kind. Es ist das Elternhaus von Manuela Bibrachs Lebensgefährten, im Herzen der Oberlausitz. Von Dresden habe sie sich seit Pegida ein wenig entfremdet. »Mein Arzt sagt, das Landleben tut mir gut – manchmal fehlt mir das Flirren und Vibrieren, dann fahre ich in die Stadt, aber irgendwann wird es zu viel.«

Seit 2010 ist sie aus psychologischen Gründen verrentet. An einigen Tagen kann sie nicht schreiben, trotzdem glaubt sie, dass die Kunst sie gerettet hat: »Einige Gedichte habe ich im Grenzbereich geschrieben.« Für lange Texte fehlt ihr oft die Konzentration. Seit 2016 reicht sie regelmäßig bei den DRESDNER Miniaturen ein – dieses Jahr hat sie gewonnen.

Ihr Partner glaubt, Miniaturen haben ihr ein neues Feld eröffnet: »Diese Momentaufnahmen schreiben sich für Manuela von selbst.« Er sei nicht so literarisch bewandert, sehe sich aber als Spiegel ihres Schaffens. Ihre Lyrik empfindet er als schwer; manche bezeichnen sie als prosaisch, Manuela sagt auch balladesk.

2008 wurde sie mit einem Liebesgedicht in der Dulzinea abgedruckt. Damals hat sie noch gereimt. Jetzt ist ihr vor allem Rhythmus wichtig. Auch in den Miniaturen reihen sich Ellipsen und angerissene Gedanken. Wie ihr Leser sein soll, frage ich sie. »In Kunst darf sich jeder selbst reininterpretieren – wenn jemand meine Gedanken versteht, ist das genial.« Ihre Gedichte haben bis zu fünf Ebenen, und nicht jeder entdeckt alle. »Lyrik ist sperrig. Aber ich schreibe, weil es der einzige Weg ist, verstanden zu werden. Es ist so schwer zu erklären, was man denkt und fühlt, doch beim Schreiben muss alles durch den Kopf. Natürlich kann das belasten, zu einigen Zeiten war es anstrengend und unangenehm für mich …«

Sie habe viele Kanäle probiert, zum Beispiel gemalt und gezeichnet. An ihren Wänden hängt ein Druck von Franz Marc, ein Kalender von van Gogh – Bilder stoßen in ihr viel an: Die tropischen Fische stammen aus dem eigenen Pinsel. Als Kind hat sie Klavier gelernt, im Erwachsenenalter noch Geige. Jahrelang übte sie am Vibrato. »Ich habe hohe Erwartungen an mich selbst!« Das Schreiben ist die Kunst, die bleibt. Auch wenn sie dabei »auf einer Grenzlinie« läuft.

In meinem Kopf geht alles
seinen Gang was denken soll das denkt
sich selbst ich treibe in elliptischen
Funktionen um die Minimalkonstante
ohne Möglichkeit die Mitte jemals
zu tangieren bleibt mein Kern stabil das ist
die Basis für mein Gleichgewicht
berechenbare Perfektion ich werde lügen
lernen kleine Grausamkeiten
üben die Insekten auf der Windschutzscheibe
nicht mehr als Metapher denken
nicht mehr sterben jeden Augenblick in dem
ein andres stirbt ich werde lachen
lernen über mich wenn das was denken soll
nicht denkt kann es sich nicht erlösen
wider die Vernunft steht eins dem andern
gegenüber und belauert sich ich bin
mein eigener Beobachter ein Drittes neben dem
was funktioniert und jenem wirren Knäuel
hinter meiner Stirn ein Labyrinth
aus dunklen Gängen jeder zweite mit Option
nach unten oder oben Höhe Breite Tiefe
und kein definiertes Ziel

Shitbox III
(Fünf der Texte wurden in der Anthologie zum Feldkircher Lyrikpreis 2018 abgedruckt, bei dem Manuela Bibrach Platz 3 belegte)

»Was in mir selbst ist, kann mir niemand beibringen«

Auf ihrer Website hat sie ein Foto von ihrer Schuleinführung 1977. Sie ging gern zur Schule, war immer gut in Deutsch. Geboren ist sie in Dresden, die Verhältnisse waren einfach: »Wir lebten in Cotta, aber an den Wochenenden und im Urlaub fuhren wir in die Natur, an Belos Teiche, in die Sächsische Schweiz, den Harz und immer wieder an den Schwielochsee, wo sich meine Liebe zur Natur entwickelte.«

Mit 19 Jahren folgte Manuela ihrem damaligen Verlobten nach Lüdenscheid/NRW. Sie fühlte sich dort nicht wohl. »Ich hatte eine Stelle im Verkauf, mein Chef hielt mir immer meinen Ost-Hintergrund vor.« Studiert hat sie dann in Eberswalde/Brandenburg: Landschaftsnutzung und Naturschutz. Die Umweltethologie stellte für sie spannende moralische Fragen: »Warum zerstören wir unseren Lebensraum?«

In ihrer Diplomarbeit ging es um radikalen Konstruktivismus und Theorien der Umweltbildung. Nach dem Studium lebte sie zwei Jahre in einer Kommune. Mit der Esoterik tat sie sich schwer, sie sei immer diejenige gewesen, die die Gartengeräte aufräumte. »Die anderen fanden das spießig. Wenn sich Individualisten an einem Ort sammeln, macht sie das nicht unbedingt gesellschaftsfähiger …«

Eine literarische Ausbildung hat sie nicht, von Schreibkursen hielt sie sich fern. »Ich dachte immer, dass man davon verbildet wird. Das klingt jetzt vielleicht abgehoben, aber was in mir selbst ist, kann mir ja niemand beibringen.«

2019 wurde sie für die Lyrikwerkstatt mit Kerstin Hensel auf Schloss Ranis ausgewählt. Auch die intensive Arbeit mit der Gruppe TexTour hat ihr viel mitgegeben. »Man glaubt irgendwie, dass man sich als Autorin vernetzen muss, aber man hat gar nicht immer das Bedürfnis nach Gesellschaft …«

»Ich weiß ja nicht, wie andere Menschen funktionieren«

Über die Themen ihrer Werke denkt sie nicht nach. Naturbetrachtungen, Musik, die Naivität verschrobener Charaktere und ihre kleinteilige Alltagsbetrachtung. Konsum, Vergessenheit und Isolation … »Das ist doch das Leben, oder?«

In ihren Charakteren sieht sie zum Großteil sich selbst. Unangepasste Figuren, wie Heinz in Betrachtung des Fernsehprogramms oder Gerlinde und ihre Porzellanpuppe – »Ich bin renitent«, sagt sie. Im Siegertext der Miniaturen finden sich ameisenhafte Gitarrennoten, für das Klavierspielen fehlt ihr mittlerweile die Konzentration.

Der Vorgang des Schreibens ist unbewusst. »Ich mache eine Tür auf, und der Text kommt raus.« Eine hohe Dichte ist ihr wichtig. »Manchmal nehme ich mir einen Roman vor, doch dann habe ich nach einer Seite schon alles gesagt.«

Den Spitznamen Mascha gab ihr Kerstin Becker, einen so starken Bezug zu Osteuropa habe sie eigentlich gar nicht. Ihre Großmutter mütterlicherseits stammte aus Ostpreußen, hatte das Land aber schon vor der großen Vertreibung verlassen und in Brandenburg geheiratet. 2018 reiste Manuela mit einem Stipendium der KDFS zum Schreiben nach Breslau, aber der Baulärm dort habe sie zum Teil so blockiert, dass sie auf einer Parkbank schlief. Die polnische Zeitschrift Odra druckte eine Übersetzung ihres Textes Kogel; der Name kam ihr einfach so in den Sinn. Die Protagonistin lebt einsam in einer Dachkammer, bis Kogel sich in ihr Leben schiebt – was ihr letztlich hilft.

In der Anthologie Weltbetrachter findet sich ein Text aus ihrem Shitbox-Zyklus; ihr Debüt ist bis heute verhindert. Es gab Bemühungen, einen Gedichtband beim Poetenladen Verlag rauszubringen, aber dann kam es doch nicht dazu. Seit 2012 bekommt sie regelmäßige Auszeichnungen, es reihen sich Abdrucke in Zeitschriften. Über ihre Leseroutine ist sie froh: »Ich muss mich dabei immer selbst herausfordern.«

2020 gewann sie die Prosa-Ausschreibung Antho?-Logisch! in Fürth. Die Reise habe ihr viel abverlangt, aber sie verpflichtet sich gegenüber sich selbst. Warum ihr Schreiben relevant ist, kann sie nicht sagen. »Ich brauche immer das Feedback, um zu erkennen, dass es anscheinend nicht so schlecht ist. Ich weiß ja nicht, wie andere Menschen funktionieren …«

Anpassungsfähig war sie nie. Auf dem Land musste man sich daran gewöhnen, dass sie ihren Kuchen mit Backmischung macht. Im Lockdown gibt sie ein Interview für Literatur Outdoors; sie spricht über Wertschätzung und Solidarität, begegnet ihrer Ungeduld mit Lektüre der Stoiker. »Man denkt immer, man verpasst etwas!« Von Facebook hat sie sich verabschiedet, die Grabenkämpfe zu Impffragen waren ihr zu viel. »Es enttäuscht, wie schnell Menschen sich gegenseitig angreifen, im Angesicht einer Bedrohung ungeahnter Größe. Es haben doch alle Angst.«

Ihr neuer Zyklus heißt Jahre im Paradies. Doch auch wenn sie sich im Pool treiben lässt, spürt sie innere Unruhe. »Das Leben ist endlich«, erklärt sie. »Ich habe noch nicht alles erreicht.«