Clemens Meyer (c) Bodo Gierga
03.02.2022
Karin Großmann

Je provozierender, desto lieber

Die Dresdner Reden werden nach 30 Jahren anhaltend nachgefragt

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Welches Preisschild tragen unsere Werte? Wie findet Europa heraus aus der Krise? Warum werden Städte nicht menschenfreundlicher gebaut, und ist man zu Hause ein anderer als in der Fremde? Anregende Antworten auf solche Fragen gibt es bei den Dresdner Reden im Schauspielhaus.

In 30 Jahren hat sich die Reihe zu einer Institution entwickelt. An vier Sonntagen im Februar sprechen prominente Künstler, Politiker, Schriftsteller, Theaterleute, Wissenschaftler, Architekten oder Vertreter der Kirche über gesellschaftliche Konflikte. Je provozierender, desto lieber. Die meisten Veranstaltungen sind innerhalb weniger Tage ausverkauft. Manche lösten minutenlange Ovationen aus. Der aus Dresden stammende Schriftsteller Ingo Schulze zum Beispiel erhielt viel Beifall für seine Rede Unsere schönen neuen Kleider über marktkonforme Demokratie und demokratiekonforme Märkte. Sie erschien später gedruckt im Hanser Verlag. Auch Autoren wie Eugen Ruge, Peter Richter, Ilija Trojanow oder der Schweizer Lukas Bärfuss wurden gefeiert und publizierten ihre Dresdner Reden zum Nachlesen. Kathrin Schmidt, Dresdner Stadtschreiberin im Vorjahr, sprach schon 2010 warnend über die Abschaffung der Mittelschicht und daraus folgende soziale Verwerfungen.

Tradition, die ihresgleichen sucht

Insgesamt standen mehr als hundert Gäste auf der Bühne des Schauspielhauses, seit die Reihe 1992 mit Willy Brandt, Günter Gaus, Egon Bahr und Christoph Hein begann. Anfangs wurden unter dem Motto »Zur Sache: Deutschland« soziale und politische Schwierigkeiten nach dem Mauerfall verhandelt. Unvergessen, wie mitreißend und temperamentvoll die brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt am Pult agierte, sodass die Blätter ihrer Rede durcheinanderwirbelten. Den Faden verlor sie nie.

Mit den Jahren weitete sich der Blick. Auch sachkundige Redner aus dem Ausland trugen mit ihren Ansichten dazu bei. Zu ihnen gehörten der kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow, die Schweizer Juristin Carla del Ponte, die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz, der englische Historiker Ian Kershaw, der russische Diplomat Valentin Falin … Eine ähnliche Reihe mit einer solchen Tradition wird man bundesweit lange suchen müssen. Das spricht auch für das Publikum. Oft werden Eintrittskarten gleich im Viererpack gekauft. Denn hier kann man einem Prominenten beim Nachdenken zuhören. Hier gibt es ausreichend Zeit, um das Entwickeln von Argumenten zu verfolgen. Nachdem die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff auf der Dresdner Bühne fragwürdige Thesen zur künstlichen Befruchtung ausbreitete, wurde das Thema tagelang bundesweit diskutiert.

Ein Podium in der Pandemie

Veranstalter sind das Staatsschauspiel Dresden und die Sächsische Zeitung. Eine Pause gab es nicht einmal im Coronajahr 2020. Die Reden wurden aus dem Schauspielhaus per Livestream gesendet. Da agierte der ARD-Wetterexperte Sven Plöger so leidenschaftlich professionell wie vor einem randvollen Saal. Es saß aber niemand drin außer einigen Technikern und Organisatoren.

Die Einschränkungen halten an, bis auf Weiteres darf nur jeder zweite Platz besetzt werden. Und gleich die Eröffnungsrednerin Mithu Sanyal musste aus Krankheitsgründen ihren Auftritt absagen. Die Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin kommt nun am 13. März.  Mit ihrem ersten Roman Identitti stand die 40-Jährige im Vorjahr auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Es ist die Geschichte einer farbigen Professorin, die sich als Weiße outet und von ihren Fans als Verräterin beschimpft wird. In ihrer Dresdner Rede spricht Mithu Sanyal über das Verhältnis von Liebe und Politik. Für sie gehört beides zusammen.

Am 13. Februar spricht der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer. Seit seinem Debütroman Als wir träumten – von Andreas Dresen verfilmt – überzeugt er mit scharfsinnigen Beobachtungen der Realität. Er zeigt die Risse der Gesellschaft im Alltag der Einzelnen. In seine Texte mischen sich zunehmend düstere und fantastische Momente ein. Um dem Irrwitz der Gegenwart auf die Spur zu kommen, verbündet sich der 44-jährige Autor in seiner Dresdner Rede mit dem sächsischen Märchenerzähler Karl May.

Am 20. Februar ist der CDU-Politiker Klaus Töpfer zu Gast, der als Minister in der Bundesrepublik schon für Umweltschutz stritt, als das für manche in seiner Partei noch ein Randthema war. Er führte den Grünen Punkt zur Abfallvermeidung ein, engagierte sich für sichere Atomendlager und leistete Pionierarbeit in Sachen Solarenergie. Töpfer setzte sich auch auf internationaler Ebene als Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen dafür ein, dass gerade in wirtschaftlich schwierigen Situationen Natur und Klima geschützt werden. In Dresden betrachtet der 83-Jährige angesichts aktueller Debatten den Zusammenhang von Wissenschaft und Demokratie.

Den Schlusspunkt unter die diesjährige Reihe setzt am 27. Februar die Philosophin Svenja Flaßpöhler. Sie ist Jahrgang 1975, Chefredakteurin des Philosophie-Magazins und Autorin von Büchern über Pornografie, Sterbehilfe, Elternschaft und neue Weiblichkeit. Ihre Rede hat sie mit dem Wort Erkenntnislust überschrieben. Svenja Flaßpöhler sucht Antworten auf die Frage, wie angesichts von Polarisierung und Arroganz ein Dialog überhaupt gelingen kann.

Nach den Reden stehen Besucher oft noch eine Weile im Foyer diskutierend beisammen. Es lohnt sich immer, beim Staatsschauspiel nach Restkarten zu fragen.