»Fehlproduktionen« werden auch schonmal zur Wanddekoration genutzt (Bild: Josefine Gottwald)
Drei Ausgaben der »Geste« liegen jetzt vor (Bild: Josefine Gottwald)
Silvio Colditz erzeugt eine Kalligrafie-Projektion an der Wand (Foto: privat)
Leinwand-Projektion eines Gedichtes von Patrick Beck (Foto: privat)
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18.04.2024
Literaturnetz Dresden

Menschen hinterm Buch: Der Lyrik-Kalligraf

Silvio Colditz gestaltet Gedichte mit Schrift

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Vollzeitjob oder Ehrenamt – Literatur ist Berufung! Buchbotschafter*innen setzen sich für das gedruckte Wort ein und verbinden Menschen mit Literatur, auf originellen Wegen … Wir sprechen mit Literaturschaffenden und leidenschaftlichen Lesern über Idealismus, Herausforderungen und Kraftquellen.

Silvio Colditz war Begründer der Subkultur-Zeitschrift »Der Maulkorb«. Jetzt steckt er all seine Kraft in das Nachfolgeprojekt: Tagelang kalligrafiert er Gedichte, die ihn begeistern. Wie im Schreiben und auch beim Buchsatz ist er dabei Autodidakt. 

Du kommst eben aus einer Art Wald-Retreat zurück: Fast vier Jahre im kulturellen Exil der Oberlausitz …

Tatsächlich lebte ich »Am Poetenteich«! Das war aber eher ein hübscher Tümpel zwischen Görlitz und Niesky … Ich habe 2018 etwas Abstand gebraucht, Zeit zum Nachdenken. Der Ort war unter den zehn günstigsten Wohnungen Sachsens zu finden, allerdings brauchte man mit dem ÖPNV sechs Stunden bis dahin!

Und steigst nun vom Hügel mit einer Idee … Das klingt, als hätte es sich gelohnt! War das absehbar?

Der Rückzug hatte auch ein bisschen mit Corona zu tun, vieles hat sich verkompliziert. Aber zu lange in der Abgeschiedenheit zu bleiben, trennt einen auch von der Welt. Man kann dann nicht mehr so einfach zurück. Daher entschied ich mich, aufzutauchen und mich auf neue Reize einzulassen. Und ein analoges Projekt erscheint mir sehr sinnvoll in unserer digitalen Zeit. Das Kalligrafieren ist auch ein meditativer Prozess.

Was Literaturzeitschriften angeht, hast du ja inzwischen eine Expertise!

Wir hatten mit dem Maulkorb teilweise bis zu vier Ausgaben im Jahr. Aber uns als Team zu koordinieren, funktionierte aus der Ferne besonders während der Pandemie nicht so gut. Im Moment ist die Perspektive der Zeitschrift ziemlich unklar. Das ist wirklich sehr viel Arbeit, daneben kann man kaum etwas anderes machen.

Und Kultur soll ja auch dynamisch sein …

Ja. Tatsächlich entstand der Maulkorb aus einer ähnlichen Ambition der Lebensveränderung: 2006 habe ich einen Alkoholentzug durchgemacht; um trocken zu bleiben, suchte ich mir ein Projekt, und weil ich literaturinteressiert war, wurde es eine Literaturzeitschrift. Im September desselben Jahres gab es die erste Ausgabe. Aber mit Lyrik konnte ich damals noch nicht so viel anfangen, ich bin erst über den Maulkorb dazu gekommen. Ich arbeitete mit verschiedenen Leuten zusammen und lernte sehr viel, zum Beispiel über Layout von der Dresdner Künstlerin Anja Jurkenas. Den Verein, der die Zeitschrift stemmen sollte, Anderlein 17 e. V., gründete ich später mit.

Kalligrafie beschäftigt dich seit 16 Jahren, warum hast du erst jetzt etwas davon gezeigt?

Angefangen habe ich mit einem Lehrbuch aus dem 16. Jahrhundert aus einem Ansatz kreativer Neugier heraus. Ich übte dann jede Menge Buchstaben – es braucht sehr viel Training, um besser zu werden, und es gibt unglaublich viele Arten, diese Buchstaben zu verbinden oder zu verzieren. Am »Poetenteich« kam mir die Idee, einfach zum Üben Gedichte zu kalligrafieren, im Lockdown fand ich sie unter lyrikline.org, weil die Bibliotheken geschlossen waren.

Ich hatte schnell hundert, dann dreihundert Gedichte beisammen (inzwischen sind es schon achthundert!), da stellte sich die Frage: Was tun damit? Mir kam die Idee einer Kalligrafischen Bibliothek der Poesie. Im Juli 2022 erschien dann die erste Ausgabe Die Geste in einer limitierten Auflage von 350 Stück.

Die Veröffentlichung war als einmalige Aktion geplant. Hat sich das Projekt verselbstständigt?

Es hat schon eine gewisse Dynamik. Ich bekomme immer mehr Zuschriften, und entgegen meinen Erwartungen gehen mir die Ideen nicht aus! Man will sich auch ständig weiterentwickeln und erkennt Dinge, die man verbessern kann, so kam es dann zur zweiten Ausgabe … Für das Heft Nummer fünf Ende nächsten Jahres plane ich jetzt eine Kooperation mit einem persischen Kalligrafen und einem Übersetzer – das soll dann zweisprachig werden …

Inhaltlich orientierst du dich an zeitgenössischen Poeten und Dichterinnen. Wie hat sich deine Arbeit mit den Texten entwickelt?

Grundlage ist nach wie vor das Gedicht selbst. Ich finde immer einen Ansatzpunkt: Vielleicht einen erwähnten Ort, der zu einer bestimmten Schrift passt, oder eine Farbe, die auch aus der Stimmung kommen kann – darum gibt es keine Themenschwerpunkte innerhalb einer Ausgabe: Ich gestalte wirklich nur mit der Schrift und wünsche mir da eine gewisse Bandbreite.

In der Hinsicht bin ich vielseitiger, aber auch selbstkritischer geworden. Außerdem arbeite ich fast nur noch großformatig: Nichts unter A2, und vielleicht wird es noch größer. Bei Festivals mache ich auch Projektionen an Hauswände, das ist ein netter Effekt …

Sind Veranstaltungen ein wichtiger Punkt des Konzepts?

Um Liebhaber*innen der Idee zu finden, muss man viele Menschen ansprechen. Mit Aktivitäten am Büchertisch funktioniert das gut. Ich habe auch schon Workshops gemacht, um meine Erfahrungen weiterzugeben, zum Beispiel beim Lausitzer Lyrikfestival oder jetzt im Juni auf dem Urban Art Festival LackStreicheKleber.

Liegen die Herausforderungen vor allem in der Finanzierbarkeit des Projekts?

Man wirtschaftet sowohl mit Kosten als auch mit Zeit. Ich mache im Prinzip alles in einer One-Man-Show: Die Texte aussuchen, kalligrafieren, das Heft setzen, bis hin zu Vertrieb, Werbung und Veranstaltungen. Momentan bringe ich fast täglich Bestellungen und Belegexemplare zur Post.

Die Release-Veranstaltung wird über ein Kleinprojekt umgesetzt …

Das ermöglicht mir, in einem guten Ambiente Aufmerksamkeit auf das Heft zu ziehen. Ein bisschen was bleibt dann sogar für die aufwendigen A2-Scans und Materialien übrig – pro Ausgabe habe ich bis zu fünfzig verschiedene Stahlfedern im Einsatz, dazu kommen um die vierzig unterschiedliche Tuschen.

Etwa fünfzig Gedichte passen dann in das Heft – wie lange brauchst du dafür?

Das darf man sich eigentlich nicht ausrechnen! Drei bis vier Tage muss ich schon einplanen pro Text, ich schaffe so zehn bis fünfzehn Zeilen in der Stunde. Das heißt aber: Dabei mache ich nicht viel anderes, alles wird diesem Rhythmus untergeordnet. Eine Ausgabe beinhaltet dann um die tausend Stunden Kalligrafie. Manchmal passieren Pannen, wenn die Konzentration nachlässt – oft in der letzten Zeile oder beim Autorennamen. Diese Werke kann ich dann nur noch zur Deko benutzen …

Inzwischen ist die Lyrik ein wichtiger Teil meines Lebens geworden; seit wir den Maulkorb Ausgabe 9 herausgegeben haben, der ausschließlich Gedichte enthielt. Das sollte damals auch die letzte Ausgabe werden …

Kann das persönliche Interesse zur wirtschaftlichen Falle für Künstler*innen werden?

Tja, natürlich würde ich die Kalligrafien sowieso machen, unter allen Umständen. Ich muss einfach schauen, wie es sich trägt. Wenn man erklärt, wie aufwendig das alles ist, erntet man häufig Unverständnis.

Aber der Zuspruch ist groß!

Ich bekomme unglaublich viel positives Feedback! So etwas gibt es einfach noch nicht. Die Lyrikszene ist ja auch nicht riesig, und Lyrikleser sind Ästhetiker*innen. Im Grunde bedeutet Kalligrafie aber nichts weiter als Striche zu ziehen, so lange, bis das Blatt voll ist. Wenn es die Worte nicht geben würde, wäre auch keine Kalligrafie da.

Welches Buch würdest du gern empfehlen?

Immer wieder lesen würde ich die gesammelten Werke von Johannes Bobrowski. Seine Gedichte mag ich unglaublich, weil sie sehr düster und abstrakt sind. Diese Texte haben mich ursprünglich angeregt, sie zu gestalten und mich damit künstlerisch auseinanderzusetzen. Sie sind im Grunde der Nährboden von all dem.

Das Gespräch führte Josefine Gottwald.

 

Die Premiere der Geste#3 steigt am 20. April ab 19 Uhr mit einer Lesung von Róža Domašcyna, Michael Georg Bregel und Hannah-Sophie Fuchs.
Weiterhin in der Ausgabe enthalten sind unter anderem Texte von Patrick Beck, Emilie Lauren Jones, Sascha Kokot, Olga Martynova und Linn Penelope Rieger.

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