Anne Spitzner bespricht Literatur auf Youtube
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09.12.2021
Literaturnetz Dresden

Menschen hinterm Buch: Die Booktuberin

Anne Spitzner begeistert bei Youtube für Literatur

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Vollzeitjob oder Ehrenamt – Literatur ist Berufung! Buchbotschafter*innen setzen sich für das gedruckte Wort ein und verbinden Menschen mit Literatur, auf originellen Wegen … Wir sprechen mit leidenschaftlichen Leser*innen über Idealismus, Herausforderungen und Kraftquellen.

Anne Spitzner ist Dresdner Buchhändlerin und seit sechs Jahren in der Booktube-Community aktiv. Sie liest 120 Bücher im Jahr und spricht darüber im Netz – neben Paul Celan, Stefan Zweig und feministischer Literatur auch über Comics und Mangas …

Vor Youtube warst du Buchhändlerin – wie nahm deine Community ihren Anfang?

Ich bin als Quereinsteigerin in den Buchhandel gekommen, eigentlich habe ich an der TU Germanistik und Philosophie studiert. Daneben jobbte ich als Aushilfe, weil mir Bücher immer wichtig waren. Eine Freundin schickte mir dann ein englisches Video, in dem es um das Lesen von Klassikern ging. Die deutschen Kanäle besprachen meiner Wahrnehmung nach damals vor allem Jugendbücher, Romance und solche Dinge. Ich fand in der Community wenige Leser*innen mit meinem Geschmack und habe daher lange überlegt, ob ich Literaturlärm auf Englisch einführen soll. Inzwischen bin ich besser vernetzt und habe vieles entdeckt, was durch den Algorithmus damals für mich einfach unsichtbar war.

Wie viel Nähe entsteht bei einem Onlineformat über Bücher?

Es ist unverbindlicher als ein Buchclub, man spricht immer wieder mit anderen Menschen und kann sich leichter zurückziehen. Für introvertierte Leser*innen sind die Schwellen daher gering. Ich habe die Community als sehr willkommenheißend kennengelernt; neue Kanäle werden als Bereicherung der Online-Landschaft begrüßt. In Sophie vom Kanal VersTand aus Berlin habe ich eine richtige Freundin gefunden. Es ist auch erstaunlich, was für persönliche Mails ich teilweise bekomme: Das Sprechen über Literatur stößt die Menschen an, sich ernsten Themen zu widmen und sich sogar Dinge von der Seele zu reden. Ich glaube, manches, was mir meine Follower*innen schreiben, würden sie Fremden eigentlich nicht erzählen.

Siehst du die persönliche Komponente als Stärke?

Wenn man mit seinem Gesicht in die Kamera spricht und die Leute den Inhalten folgen, lernen sie die Person hinter dem Kanal kennen. Man setzt sich mit seinem Geschmack ins Verhältnis und ordnet ein, was die Leseempfehlung für einen selbst bedeutet. Kritikpunkte werden nachvollziehbarer, das Gespräch ist viel mehr wert als eine anonyme Bewertung auf einer Verkaufsplattform. Der Charakter spielt mit rein und man kann sich letztlich den Kanal suchen, der am besten zu einem passt.

Manche Booktuber treibt gerade die Angst vor der Kamera an – wie kann man das verstehen?

Es ist wie ein Training. Ich bin vor meiner Zeit mit Literaturlärm im Netz nur schriftlich in Erscheinung getreten; ich hatte einen Blog mit Gedichten. Der Schritt vor die Kamera ging für mich mit dem Entschluss einher, zu lernen, mich besser auszudrücken. Beim Filmen hat man Zeit, notfalls kann man alles zehnmal aufnehmen oder schneiden. Mit den Jahren wird man natürlich besser. Teilweise empfehle ich Kund*innen in der Filiale jetzt Neuerscheinungen mit genau denselben Worten, wie ich sie für die Videorezension gefunden habe.

Kommt daher die Motivation?

Ich freue mich, wenn Austausch und Diskussion zu den Büchern entstehen, die mir wichtig sind. Die Menschen, die mir folgen, kaufen und lieben die Werke oft – das ist schön. Zehn Abonnent*innen zu haben, würde dabei vermutlich nicht genug motivieren, aber jetzt sind es 5.000, da entsteht schon viel Dynamik. Trotzdem erstaunt es mich noch immer, dass sich das so viele Leute ansehen!

Wie wichtig ist dir dabei Professionalität?

Zum Filmen braucht man eigentlich keine aufwendige Ausrüstung. Ich habe einfach mit einer alten Digitalkamera angefangen und bin später auf eine gebrauchte Vlog-Kamera umgestiegen, also eher ein transportables Allround-Modell. Ich drehe meistens bei Sonnenlicht ohne externes Mikrofon. Ein semiprofessionelles Schnittprogramm kann einem Arbeit abnehmen, ich schätze es inzwischen für Document your Life Videos (DYL), bei denen ich viele Schnipsel zusammenfüge.

Inhaltlich fühle ich mich aber meiner Community verpflichtet: Ich möchte Videos mit Gehalt produzieren. Manchmal sehe ich in Online-Beiträgen redundantes Gerede, das nervt mich dann. Es muss schon auf den Punkt und kohärent formuliert sein, niemand hat Zeit zu verschenken.

Hat sich Corona auf deinen Kanal ausgewirkt?

Im ersten Lockdown haben die Menschen sehr nach Unterhaltung gesucht. Ich war in Kurzarbeit und hatte die Zeit, viel zu produzieren, damit haben auch die Abonnent*innen zugenommen. Die Stimmung der Community kam mir nicht unbedingt verändert vor – also zum Beispiel aggressiver, wie es einem im Alltag oder auch in der Buchhandlung begegnet. Das Positive überwog nach wie vor, vielleicht war die Online-Community sogar ein Anker für manche.

Hat Booktube deinen Blick auf Literatur verändert?

Wenn ich an mein Germanistik-Studium zurückdenke, hatte ich damals den Eindruck, dass bedeutende Literatur unglaublich weiß und männlich ist. Dabei gibt es viel mehr Stimmen, der Kanon wird durch das Internationale und Generationenübergreifende aufgebrochen: Man findet eigene Communitys für Fans von BIPoC-Autor*innen (Black, Indigenous und People of Color, Anm. d. A.) oder einen Liebhaberkeis für das Lesen Japanischer Klassiker. Man muss sich nur aktiv bemühen, aus dem Kanon auszutreten.

Sind das Richtungen, die dir auch wichtig sind?

Ich lese jedes Jahr sehr gezielt in Feldern, die ich mir mehr erschließen möchte. Neben den feministischen Stimmen oder der asiatischen Literatur sind das immer wieder Lyrik und auch Comics. Diese literarische Richtung wird in Deutschland von den traditionellen Medien und Rezensenten noch immer belächelt, dabei gibt es richtige Kunstwerke, auch was die Zeichentechnik angeht – mir fallen da die surrealen Elemente in der Graphic Novel Ein neues Land ein (original The Arrival, Shaun Tan). Der Comic ist sehr literarisch und kommt dabei komplett ohne Text aus!

Deine Leseerfahrung bildet ein regelrechtes Humankapital. Siehst du dich als Botschafterin für Literatur? Tritt bei dem Pensum eigentlich irgendwann eine Art Leseerschöpfung ein?

Durch die öffentlichen Gespräche zu Büchern werden immer wieder Menschen an Themen herangeführt, denen sie sich vielleicht sonst nicht genähert hätten. Ich lese dann Kommentare in der Art: »Das ist eigentlich nicht meine Literatur, aber wenn es hier gut gemacht ist, versuche ich es doch mal.« Gerade mit schweren Themen ist das der Fall. Genug gelesen hat man eigentlich nie, es gibt so vieles zu entdecken. Man fühlt sich immer, als hätte man noch zu wenig gelesen.

Was sind die Schwierigkeiten, wenn man online Literatur verbreitet?

Die Konstanz zu halten, kann herausfordernd sein. Regelmäßige Veröffentlichungen werden vom Algorithmus belohnt; wenn man – wie ich im Lockdown – 2-mal wöchentlich postet und schnell auf Kommentare antwortet, ist man sichtbarer und wächst schneller. Das legt natürlich Druck an.

Außerdem neigen Online-User*innen durch die Distanz nicht immer zu ausgeprägten Höflichkeitsformen. Es kommt zu Beleidigungen ohne inhaltliche Kritik, früher hat mir das zu schaffen gemacht. Inzwischen lösche ich so etwas einfach. Es ist keine Art, so mit Menschen umzugehen; häufig steckt gar kein Kern in den Aussagen. Das ist ein bisschen traurig, aber man braucht einen Panzer, um sich zu schützen. Die Energie ist mir für Trolle zu schade, wenn ich auch dankbaren Austausch suchen kann.

Welches Buch hat dich zuletzt beeindruckt?

Im Moment ist das von Roxane Gay: Not That Bad (Dispatches from Rape Culture). Es ist eine Sammlung von Essays und Erfahrungsberichten zu dem, was man Rape Culture nennt. Eine harte, zerfetzende Literatur über ein großes Thema, das viele Menschen weltweit betrifft. Ich möchte es jeder und jedem empfehlen, der oder die die Kraft hat, sich damit auseinanderzusetzen.

Das Interview führte Josefine Gottwald

Literaturlärm auf Youtube