Henriette Müller in der Zentralbibliothek, Foto: Frank Buttenbender
09.04.2021
Literaturnetz Dresden

Menschen hinterm Buch: Die Bücherbotin

Henriette Müller liefert einer Rentnerin ihren Lesestoff

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Vollzeitjob oder Ehrenamt – Literatur ist Berufung! Buchbotschafter*innen setzen sich für das gedruckte Wort ein und verbinden Menschen mit Literatur, auf originellen Wegen … Wir sprechen mit Literaturvermittlern und leidenschaftlichen Lesern über Idealismus, Herausforderungen und Kraftquellen.

Henriette Müller ist eine von über 80 ehrenamtlichen Bücherbot*innen der Städtischen Bibliotheken Dresden. Seit 4 Jahren versorgt sie eine Seniorin mit Lesestoff und bildet ihre Brücke zur Bibliothek. Literaturnetz Dresden erzählt sie, warum.

Frau Müller, wie wird man Botin für Bücher?

Ich finde, es gibt ein Grundrecht auf Lesen. Ich wollte gern ein Ehrenamt ausüben und habe einige Zeit nach einer Tätigkeit gesucht, die sich in meinen Alltag integrieren lässt. Ich bin oft in der Bibliothek und stieß dort auf einen Flyer, der mich ansprach. Das ist doch etwas für mich, dachte ich: Einem Menschen Lesestoff bringen, der selbst nicht mehr mobil ist. Nach der Kontaktaufnahme musste ich ein Führungszeugnis einreichen, der erste Besuch fand dann mit der Koordinatorin des Ehrenamtlichen Bücherdienstes, Frau Schwer, statt. Aber es passte auf Anhieb. Seitdem bringe ich Frau Schiebel einmal im Monat Bücher, Zeitschriften und Filme.

Wie viel Idealismus braucht es, einem Menschen seine Literatur zu liefern?

Man bringt schon einige Stunden im Monat auf. Teilweise recherchiere ich länger nach Romanen, die Frau Schiebel gefallen könnten. Ich weiß von Bücherboten, die sich Listen und Tabellen erstellen, um den Überblick zu behalten, was sie schon mitgebracht haben. Es kann auch durchaus passieren, dass man den Geschmack nicht trifft und ein paar Sachen wieder mitnimmt … Einmal – in der Anfangszeit – brachte ich ihr eine GEO mit, aber da meinte sie, das interessiere sie nicht. Solche Ehrlichkeit ist erfrischend. Ich mag ihre trockene Art.

Inzwischen kenne ich Frau Schiebel besser und weiß, was sie gern liest: Biografien und historische Romane. Vor kurzem rief sie mich an und fragte, ob es von Täve Schur, dem Radrennfahrer, ein Buch gibt. Das recherchierte ich, bestellte es über die Bibliothek in einer anderen Zweigstelle und konnte es mittlerweile abholen. Nächste Woche fahre ich zu ihr, dann wird das Buch dabei sein. Es freut mich, wenn ich ihr einen Wunsch erfüllen kann.

Was ist Ihre größte Herausforderung? Wie meistern Sie diese Zeiten?

Ich glaube, für die Betroffenen, die ihre Wohnung oft nicht verlassen können, weil sie körperlich eingeschränkt oder gebrechlich sind, ist es am härtesten. Ich muss jetzt an der Tür mit Maske eine Tüte überreichen und kann nicht mehr auf einen Plausch hereinkommen. Kurz vor dem letzten Lockdown bin ich nochmal in die Bücherei gefahren und habe einen großen Lesevorrat geholt. Vor dem ersten Lockdown griff ich sogar auf Bücher aus meinem privaten Fundus zurück …

Was gibt Ihnen dabei Kraft?

Ich sehe die Aufgabe als gegenseitiges Geben und Nehmen. Wenn ich helfen kann, fühle ich mich auch selbst gut. Für die Menschen ist es natürlich wichtiger, wir sind oft ihr einziger Zugang zu Literatur. Inzwischen ist es mir eine Herzensangelegenheit geworden – ich habe meine 80-jährige Leserin auch schon im Krankenhaus besucht und ihr ein paar Bücher und Zeitschriften dorthin gebracht; selbstverständlich nehme ich dann auch Blumen mit. Wenn ich nach Hause fahre, bin ich meist sehr nachdenklich und dankbar für meine Mobilität.

Verbindet Literatur Menschen?

Auf jeden Fall! Sie bringt uns auch durch Raum und Zeit an Orte, die wir selten, schwer oder nie erreichen können, regt die Fantasie an, öffnet Welten. Lässt uns lachen oder weinen. Unser Tandem befruchtet sich auch gegenseitig, es kam schon mehrmals vor, dass ich durch den Austausch angeregt wurde, die Biografie, die ich für sie besorgt hatte, anschließend selbst zu lesen.

Ohne Kontaktfreudigkeit geht es nicht …

Das kann ich mir nur schwer vorstellen. Man muss schon ein bisschen extravertiert sein und Lust haben, mit fremden Menschen zu agieren. Ich finde das jedenfalls spannend.

Welches Buch liegt Ihnen gerade am Herzen?

Ich habe immer einen ganzen Stapel neben meinem Bett, oft lese ich zwei oder drei Bücher gleichzeitig; momentan den Bericht des Klimaforschers Dr. Markus Rex über die Arktis-Expedition im letzten Jahr und daneben Good Omens von Terry Prattchet und Neil Gaiman – Fantasy vom Feinsten! Am Herzen liegt mir jedoch die Verbreitung des Buches Wer nichts weiß, muss alles glauben von den Science Busters (nach eigener Aussage die »Chippendales der Physik«). Hier wird Wissenschaft mit schwarzem Humor vermischt, scheinbar schwer Verständliches leichtfüßig erklärt und mit Aberglauben aller Colour aufgeräumt. Wäre ich Königin von Deutschland, würde ich dieses Buch zur Pflichtlektüre machen!

Das Interview führte Josefine Gottwald

Kontakt zum Programm Ehrenamtlicher Bücherhausdienst der Städtischen Bibliotheken