Sie haben sich lange nicht gesehen und einander nicht viel zu sagen. Von Anfang an herrscht eine angespannte Atmosphäre zwischen Vater und Tochter. Er besucht sie zum ersten Mal in dem Haus am Ortsrand, das sie mit ihrem Mann und einer Katze bewohnt. Der Mann nennt die Katze wie den Müll im Computer: Spam. Die vierte Figur in Jens Wonnebergers Roman Mission Pflaumenbaum stellt sich als Rottmann vor. Ein verbitterter, einsamer Alter, der die Jetztzeit scharfzüngig kommentiert und zu dem Schluss kommt: »Kein Hahn kräht nach uns.« Wie ein Wutbürger wettert er gegen Flüchtlinge. Rottmann begleitet Vater und Tochter beim Dorfrundgang. Im Bücherbasar der Kirche entdeckt der Vater einen angeschimmelten Bildband über die Montagsdemonstrationen am Ende der DDR, da ist er mit seiner Familie zu sehen. Eine abgelegte Erinnerung, die niemanden interessiert.
Muffig, zerschlissen, ausgeblichen, provisorisch, verwildert, fadenscheinig, schäbig, abgestorben – die Reihe lässt sich fortsetzen. So beschreibt der Autor die Tristesse eines Ortes und seiner Bewohner. Mickrig klingt das Gebimmel der Kirche, panisch das Zwitschern der Vögel. Der Verlust ist ein Grundmotiv von Wonnebergers Prosa. Er muss erzählen, um die Erinnerung an Verlorenes zu bewahren. Seine Figuren platziert er lieber am Rand als im Zentrum. Strahlende Helden sind sie alle nicht. Ihr Verhältnis zur Welt ist häufig ein freundlich distanziertes. Zu Recht wurde der Dresdner Autor nun für den Deutschen Buchpreis nominiert. Seine schmalen Bücher haben längst mehr Aufmerksamkeit verdient: Goetheallee, Sprich oder stirb, Ums Karree oder Ohorn.
Der Ort des Geschehens im neuen Roman könnte überall im Osten liegen, in der Lausitz, im Erzgebirge. Die Befunde ähneln sich. Jugendklub, Bibliothek und Seniorentreff sind geschlossen und auch den Dorfkrug gibt es nicht mehr, den ein Holländer zwischendurch als Möbellager nutzte. Die Leute hatten zu spät bemerkt, dass die neuen Tische und Schränke die schönen alten Holzsachen nicht ersetzen können. Die größte Fabrik wurde nach dem Mauerfall abgerissen. Ein überdimensionierter Granit zwischen Brennnesseln soll Kunst sein und ein Weberschiffchen darstellen. In der Fabrikantenvilla wohnt ein westdeutscher Anwalt, die Auffahrt ist die einzige frisch asphaltierte Straße im Ort. Was sonst noch investiert wurde, steht unübersehbar am Wald: Windpark und Biogasanlage.
Die Bestandsaufnahme klingt wie eine böse Satire – aber nicht bei diesem Autor. Jens Wonneberger erzählt lakonisch, unaufgeregt und urteilsfrei. Er beschreibt lediglich, was er sieht. Als großartiger Alltagsbeobachter hat er den präzisen Blick für das Detail, das fürs Ganze steht. Wonneberger verdichtet die Realität im doppelten Sinn. Für jeden Prosatext findet er einen neuen Erzählton. Die Sprache hat hier etwas Drängendes, Zwingendes. Sie kann nicht behaglich klingen angesichts des Unbehagens, das die Figuren prägt. Sie spiegeln eine Wirklichkeit, in der das Wort Hoffnung nicht vorkommt. Der Roman umfasst nur ein Wochenende und doch viel mehr.
Vater und Tochter unternehmen immer neue Anläufe, um ihre Fremdheit zu überwinden. Einfühlsam wird das Hin und Her zwischen Abwehr und Zuneigung, Vorurteil und Verstehen beschrieben. Vielleicht ist der Rest Zärtlichkeit zwischen beiden der größte Schatz, der in diesem Buch zu vergeben ist. Beim nächsten Mal, sagt die Tochter, möge der Vater den toten Pflaumenbaum umsägen. Einen Pflaumenbaum pflanzen wäre zu viel Optimismus. Immerhin gibt es die Aussicht auf ein nächstes Mal. Und Rottmann, der alte Zausel, hat ein Wochenende lang jemanden zum Zuhören gefunden.
Jens Wonneberger: Mission Pflaumenbaum. Verlag Müry Salzmann. 188 Seiten, 19 Euro