Jörg Scholz-Nollau in der Ausstellung von Amac Garbe (im Bild: Thomas Rosenlöcher), Foto: privat
Voller Hof beim 25-jährigen Jubiläum: Die Buchhandlung LeseZeichen (Foto: privat)
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20.09.2023
Josefine Gottwald

»Mit der Zeit zu gehen, ist essenziell«

Jörg Scholz-Nollau feiert 25 Jahre Buchhandlung LeseZeichen

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Ob Naturkatastrophen oder Digitalisierung … Jörg Scholz-Nollau hat seine Buchhandlung durch alle Widrigkeiten gebracht – mit helfenden Händen und ganz viel Passion. Das Portrait einer Leidenschaft.

Vom Studenten zum Fachbuchhändler

Wie fast alle Inhaber von Buchhandlungen ist Jörg Scholz-Nollau ein Quereinsteiger. Nach einer Facharbeiterausbildung in der DDR kamen mit der Wende neue Möglichkeiten: Ab 1989 machte er sein Abitur an der Abendschule, dann studierte er Architektur. Zu dem Zeitpunkt hatte er zwei kleine Kinder und viele Belastungen, zog gerade von Cottbus her – da kam ihm die Idee einer Buchhandlung mit architektonischem Schwerpunkt. In Berlin gab es so etwas schon, aber in Dresden noch nicht.

Mit der TUD, HTW und HFBK existieren hier gleich drei Unis, die Architekt*innen ausbilden, dazu viele Architekturbüros. Der Buchhändler erklärt: »Ich weiß noch, wie ich mit meiner Frau und meiner Tochter im Karstadt saß und wir über die Möglichkeit einer Buchhandlung in der Neustadt sprachen.« Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, das war 1997.

Aus der Hauptbibliothek im WTC holte er sich einen Ratgeber mit dem Titel Gründung und Führung einer Buchhandlung. »Das war meine Grundlage«, sagt er lachend. Er betrieb Marktanalyse und schrieb ein Konzept für die Bank. Die juristische Beratung machte ein Freund. »Damals war ich ziemlich blauäugig. Als ich den anderen Buchhändler*innen meinen Plan erzählte, dachte ich nicht darüber nach, wie die das finden würden.« Die Reaktion von Frau Maul von der Pusteblume war entsprechend zurückhaltend. Frau Kober aus Löbtau bot dem neuen Kollegen ein Praktikum an. Dort erlebte Scholz-Nollau, wie man mit einem Vertreter verhandelt. Er gesteht: »Im Prinzip war das meine ganze Ausbildung.«

Ursprünglich war ihm eine zentrale Lage wichtig, er recherchierte geografisch, wie das Buchhandlungsnetz aussah. In der Prießnitzstraße gab es einen Eintrag für einen Laden, der offenbar nie realisiert wurde. Er erinnert sich: »Als ich hierherkam, trat mir der Vermieter entgegen, und wir kamen gleich ins Gespräch – als ob es so sein sollte!«

Einen offiziellen Kredit bekam er nicht, das Kapital musste privat aufgebracht werden. Es zeigte sich schnell, dass der Weg lang und steinig werden würde. Gerade befand er sich im Ausbau der Räume, als er mit seinem neuen Partner, dem Großhändler KNV, telefonierte. Dabei stellte sich heraus, dass parallel jemand einen identischen Plan verfolgte: Eine Architekturbuchhandlung in Dresden wurde aufgebaut. Doch Jörg Scholz-Nollau blieb zuversichtlich. Er setzte sich mit dem Mitbewerber zusammen und diskutierte Lösungen. Er war schließlich auch literaturversessen – kurzerhand entschied er sich um und verzichtete auf den Fachschwerpunkt.

Ein Kulturort zum Wohlfühlen

Dafür gestaltete er seine Räume selbst aus: Die Zwischendecke wurde entfernt, ein Fenster bis zum Boden geöffnet; man sollte in den schönen Garten gelangen. Durch die Öffnung des Grundrisses wurde ein neuer Träger für mehr Stabilität nötig; nach und nach bekam der Laden Gesicht. »Ich gestaltete es so, wie ich mir selbst eine tolle Buchhandlung vorstellte«, sinniert der Inhaber. Inspiriert habe ihn ein Antiquariat in Heidelberg: »Das war wie eine Lesehöhle!«

Die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, sollte gegeben sein. »Man fühlt sich dann nicht so beobachtet. Ich mag es selbst nicht, wenn ich in einem Geschäft bin und die ganze Zeit vom Verkäufer observiert werde.« Vertreter hielten nicht viel von der Idee der Verwinkelung, doch mit Diebstählen gab es bisher keine Probleme.

Andere Buchhändler aus der Stadt schätzten, der Laden würde kein Jahr bestehen – nun sind es 25. Jörg Scholz-Nollau entschied sich für einen Schwerpunkt im Taschenbuchbereich, ähnlich wie beim Geschäft in Freiberg von Heike Wenige. Die Marge fällt dann zwar geringer aus, dafür ist der Durchlauf höher. Scholz-Nollau erklärt: »Die Ausgaben sind günstiger, man greift schneller zum Taschenbuch und hat auch mehr Platz im Regal.« Noch heute pflegt er seine Backlist im Paperback.

Die Architekturbuchhandlung des Kollegen wurde schnell abgegeben, vor 10 oder 12 Jahren schloss sie dann ganz. Ob er heut nochmal alles so machen würde, weiß Jörg Scholz-Nollau nicht: »Damals war es eine andere Zeit für das Buch.« Jetzt empfindet er den Markt als zerfasert; es gäbe auch nicht mehr die Standardwerke, die jeder Studierende haben müsste.

Gegen den Strom lesen

Von Anfang an pflegte der neue Inhaber Kontakte zu Autoren und Autorinnen. Im Februar 1998 gab es zur Eröffnung eine Lesung mit Jens-Uwe Sommerschuh. Die Veranstaltung zur Einweihung fand vor leeren Regalen statt – der Selfmade-Buchhändler hatte den Aufwand des Ausbaus unterschätzt.

Erst Mitte März konnte man die richtige Eröffnung begehen, für Jörg Scholz-Nollau begann damit ein neuer Lebensabschnitt. Seine Familie musste voll hinter ihm stehen. Samstags hatte er bis 16 Uhr geöffnet, unter der Woche von 10 bis 20 Uhr. Er dachte, man könne sich das gut merken – heut kann er sich das nicht mehr vorstellen: »Ich gehe jetzt auf die 60 zu – vor 20 Jahren konnte ich auch mal eine Nacht durcharbeiten …«

Für eine Mittagspause blieb meistens keine Zeit. Angestrengt baute er sein Stammpublikum auf. Zu Beginn führte er alle 14 Tage Lesungen durch. »Wenn man mit dem Unternehmen beginnt, kommt drei Jahre lang erstmal nichts raus«, resümiert er.  Von der ersten Stunde an gab es auch Ausstellungen, diese Art, Literatur ins Bild zu setzen, fand er originell. Im Laden hingen Künstlerportraits von Hubertus Giebe, zuletzt auch sein Skizzenbuch aus der Neustadt der 70er Jahre. Von Silvio Colditz zeigte LeseZeichen Die Kalligrafische Bibliothek der Poesie, aber auch Illustrationen kamen gut an: Vor einigen Jahren stellte Jörg Scholz-Nollau Originale der Zeichnungen von Andreas Német zu den Büchern von Hans-Christian Schmidt aus. Er erinnert sich an den Erfolg: »Diese Bilder sind unheimlich kraftvoll!«

2002 kam die Flut. Die Sanierung bedrohte den Buchhändler existenziell, im Laden stand das Wasser einige Zentimeter hoch. Zum Glück packten viele Helfer mit an: Man bildete eine Kette und reichte jedes einzelne Werk bis in eine leere Wohnung im zweiten Stock. Jetzt kann Scholz-Nollau lachen: »Da ging jedes Buch durch viele Hände!«

2013, wieder Hochwasser: Die Elbe floss zurück in die Prießnitz. Dieses Mal half auch finanzielle Unterstützung aus einem Hilfsfond vom Börsenverein. Aber ein bis zwei Jahre danach wurden die Straßen im Umfeld saniert. Finanziell war das noch bedrohlicher, Jörg Scholz-Nollau kam nur noch über eine Brücke in seinen Laden. »Das war eigentlich noch viel schlimmer als die Flut selbst!« Er bastelte große Buchstaben zu einem Schriftzug: Buchhandlung geöffnet. So fanden die Menschen den Weg.

Das bestkuratierte Lyrikregal

Von Jugendzeit an war Scholz-Nollau begeisterter Lyrikleser, damals schrieb er sogar noch selbst. Er hatte die Poesie für sich entdeckt und wollte das weitergeben. Sein Alleinstellungsmerkmal ist heute das größte Lyrikregal Dresdens. Er sagt: »Andere Läden führen viel weniger Gedichtbände, die Lagerdrehzahlen sind zu gering. Wenig Durchlauf bringt auch wenig Absatz.« Buchhändler*innen bestimmen ihren Einkauf nach Warengruppen, darum fällt das Lyrikregal oft schmal aus. Jörg Scholz-Nollau sieht sein Sortiment eher inhaltlich, das gibt ihm die Freiheit, diesen Bereich zu bedienen. Inzwischen nehmen Lyrikinteressierte dafür weite Wege auf sich: »Eine Kundin stammte aus England, jemand hatte ihr einen Tipp gegeben …«

Das Stammpublikum sitzt auf der Prießnitzstraße und im Preußischen Viertel und erstreckt sich dann bis ins Hechtviertel und auf den Weißen Hirsch. Auch Käufer*innen aus Pieschen kommen vorbei – einigen Dresdner*innen blieb LeseZeichen schon in der Anfangszeit im Gedächtnis. Dafür sei die Buchauswahl wichtig: »Immer wieder erlebe ich, dass Menschen reinkommen und die Auswahl in den Regalen loben.« Das macht natürlich stolz.

Lesungen durchzuführen, war Jörg Scholz-Nollau nicht nur ein persönliches Anliegen, anfangs war er sogar wirtschaftlich darauf angewiesen: »Ein neuer Laden braucht Bekanntheit, damit Menschen ihre Gewohnheiten ändern und vorbeikommen. Ohne diese Präsenz mit den Veranstaltungen wäre ich nie ins Gedächtnis wichtiger Kundengruppen gekommen.« Er spricht auch von Apotheken, Anwalts- und Steuerkanzleien – Abnehmern so genannter Periodika. Die regelmäßige Auslieferung loser Blattsammlungen von Gesetzesänderungen und Ähnlichem machen ein Drittel des Umsatzes aus. Angesprochen haben ihn die Geschäftsleute bei Lesungen.

Er findet, eine Buchhandlung sollte auch ein Kulturort sein. Aktuell plant er einmal monatlich eine Veranstaltung. Dabei fließen persönliche Entdeckungen ein: »Dresden hat einen großen Schatz guter Autorinnen und Autoren!« Auch die Kosten sind natürlich geringer, wenn man keine lange Anreise hat. Für die Werbung nutzt er eine gedruckte Karte und den Onlinekalender im Literaturnetz, natürlich auch die eigene Website. Aber auch hier zählt Präsenz: »Eine persönliche Einladung bringt den besten Erfolg!«

Die Investition in eine Veranstaltung werde oft unterschätzt; Lesungen haben auch langfristige Wirkung: »In anderen Ländern gibt es kaum noch kleine Buchhandlungen«, bedauert er. »Das ist eine Kettenreaktion: Man bietet keine kulturellen Inhalte mehr an und verliert sein Alleinstellungsmerkmal. Was will man dem Onlinehandel dann noch entgegenhalten? Man wird einfach ersetzt.«

Der moderne Buchhändler

Für Jörg Scholz-Nollau ist es essenziell, mit der Zeit zu gehen. 1998 war LeseZeichen eine der ersten Buchhandlungen mit Onlineshop. Auch heute gibt es noch Kund*innen, die den Laden damals aus diesem Grund fanden. »Man muss sich etwas ausdenken«, erklärt der Buchhändler. »Laufkundschaft gibt es hier quasi nicht – das ist eben keine Einkaufsstraße …«

Eine Facebookseite für LeseZeichen gibt es aus technischen Gründen gerade nicht mehr. Die Kanäle aktuell zu halten, koste auch Zeit und Mühe. »Social Media ist nicht zuletzt eine Frage der Manpower!«, analysiert Scholz-Nollau. Er will aber wieder in diese Richtung denken, vielleicht dann mit Instagram.

Die kurzfristigen Pläne sehen erstmal vor: »Das Jubiläum verdauen!« Nach der Party zum Buchhandlungsgeburtstag war der Inhaber für Tage in Hochstimmung. Einhundert Leute kamen, um mit ihm zu feiern. »Schon zwei Wochen vorher hab ich im Prinzip nichts anderes mehr geschafft als die Vorbereitungen.«

Zwölf Kurzlesungen wollte er anmoderieren. Bei spontanen Ausfällen las er die Texte einfach selbst. Viele der Protagonisten sind inzwischen Freunde und Freundinnen: »Mit Volker Sielaff bin ich seit den gesamten 25 Jahren verbunden.« Jörg Scholz-Nollau bestellte ihm damals ein Buch direkt beim Verlag, andere Läden hatten den Dichter vertröstet, weil sie nur auf das Barsortiment zugriffen.

Thilo Krause lernte der Buchhändler auf einer Lesung in der Villa Augustin kennen. »Wir kamen über Gedichte ins Gespräch und konnten uns gleich tiefgründig unterhalten.« Lange Zeit führte LeseZeichen samstags am Nachmittag Werkstattgespräche durch: Eine selbst ernannte Lyrikakademie. Johannes Gärtner, Uwe Tellkamp und Stefan Tobler waren damals Teil der Runde.

Für dieses Jahr hat Scholz-Nollau sein Lesungspensum erfüllt. Ab heute übernimmt er die Büchertische bei Literatur jetzt, daneben bereitet er das Weihnachtsgeschäft vor und aktualisiert seinen Buchbestand. Eigentlich ist immer etwas zu tun …

Im Februar gibt es zur Ausstellung Autorenportraits von Amac Garbe eine Lesung zur Finissage. Jörg Scholz-Nollau mag die zweite Ebene in den Fotografien; das Portrait von Durs Grünbein sage beispielsweise viel über ihn aus: »Das Bild ist sozusagen schlauer als der Fotograf, durchlässig für Bedeutungen.« Wie beim Schreiben schleichen sich intuitive Inhalte ein, die zwischen den Zeilen stehen. »Es schwingt immer einiges auch unbewusst mit, das kommt ungeplant in ein Projekt, unterstützt aber die Aussage des Werks.« Man kann also selbst mit Klicks und Durchlaufzahlen noch immer subtil bleiben.

Wir gratulieren herzlich!