Deniz Utlu, Foto: Heike Steinweg
25.10.2024
Tomas Gärtner

Parallelverschiebung in die Fiktion

Charlotte Gneuß lädt Deniz Utlu und »Vaters Meer« ein

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Die großen Blätter sind begeistert von Vaters Meer, dem neuen Roman von Deniz Utlu. Von einem »Meisterwerk« spricht eine Kritikerin. In mehr als 50 Lesungen hat er es deutschlandweit vorgestellt.

Dresden war als Station nicht vorgesehen. Leser hier hätten zumindest auf diesem Weg also nichts davon erfahren. Gäbe es nicht Charlotte Gneuß, Dresdens diesjährige Stadtschreiberin. Sie erlebt dieses Aufenthaltsstipendium als derart beflügelnd, dass sie jetzt schon dankend auch etwas zurückgeben möchte. »Ich habe tolle Autoren auch als Freunde kennengelernt. Die möchte ich mit Dresden teilen.« Dafür hat sie die Reihe Wort & Welt gestartet, bei der sie als Vermittlerin auftritt. Nach Dana Vowinckel (Gewässer im Ziplock) war Deniz Utlu ihr zweiter Gast in der Zentralbibliothek im Kulturpalast.

Mit ihm gelang ihr ein konzentriertes, in die Tiefe gehendes Gespräch über zentrale Themen seines Romans – Sprache, Erinnerung, Authentizität und das Erzählen.

Darauf, dass man das Buch verkennt, wenn man es auf Migrationserfahrung verkürzt, hatten sie sich rasch geeinigt. Auch wenn es darin um einen Sohn, Yunus, geht, der das Leben seines Vaters Zeki zu rekonstruieren versucht, der aus Anatolien stammt, 1980 in Istanbul den Militärputsch erlebte und über Hamburg nach Hannover kam, wo Yunus, der Erzähler, geboren wurde.

Die ungewöhnliche Konstellation entsteht dadurch, dass, als der Sohn 13 ist, der Vater nach zwei Schlaganfällen ins Locked-In-Syndrom fällt, er sich nur noch über Augenbewegungen verständigen kann. In einem Alter, wo man seine Eltern bewusster wahrzunehmen beginnt, hat er einen sprachlosen Menschen vor sich. Alles, wodurch der Vater ihn geprägt haben könnte, liegt in der Vergangenheit.

Diese äußeren Umstände entsprechen den Tatsachen der Biografie des Autors. Dennoch weist Deniz Utlu das Etikett »autofiktional« dafür weit von sich. »Für mich ist es eher eine Parallelverschiebung in die Fiktion hinein.«

Von ihm zu hören, wie memoirenhafte Notizen nur Vorarbeit waren, Literatur erst im zweiten Schritt entstand, gehörte zu den vielen erhellenden Momenten dieses Gesprächsabends. »Zuerst habe ich nach seinem Tod versucht, Erinnerungen an meinen Vater festzuhalten, damit er mir nicht entgleitet.« Immerhin habe sich dabei der Blick auf sein Leben geändert: Der Vater erwies sich als prägender für ihn, als er lange dachte. »Es ging darum, Erinnerung in Schrift zu verwandeln.« Doch nach sechs Jahren musste er sich eingestehen: »Der Text macht nichts mit mir.« Der Versuch, zu seinem Vater zu finden, schien gescheitert. »Das hat mich in eine echte Lebenskrise gestürzt.«

Er hat diese mehr als tausend Seiten beiseite gelegt, nur einen Absatz behalten, der zum ersten im Buch wurde, und noch mal von vorn angefangen. »Ein paar Fakten stimmen, auch das Historische. Aber die Erzählung ist erfunden.« Dieses Erfinden macht er zu einem Thema im Buch. »Ein Roman muss funktionieren, ohne dass ich mich für den Verfasser interessiere.«

Vor allem aber lebt Literatur aus der Kraft des Erzählens. Eine Ahnung davon habe er in frühen Jahren bekommen, als der Vater, das Wohnzimmer in Diagonalen durchwandernd, ihm abenteuerliche Räubergeschichten über sich selbst erzählte. Gewiss, alles erfunden. Aber es löste ein gutes Gefühl aus. Das habe er für später mitgenommen. Ein Märchenerzähler, den er bei Recherchen in Magin, dem Jahrtausende alten Geburtsort seines Vaters traf, habe ihm die die ursprüngliche Faszination des Erzählens begreiflich gemacht: Das Wichtigste ist, dass die Leute stehenbleiben und gebannt lauschen.

Der Roman erzählt uns von einem Leben in verschiedenen Sprachen: Arabisch, Muttersprache der Großmutter, die vermutlich Kurdin war, Türkisch; Deutsch, das der Vater als dritte »herznahe Sprache« in seiner Einsamkeit als Einwanderer sprach. Hinzu kommt für den Erzähler Französisch.

Beeindruckend auch, wie Yunus seine Mutter erstmals begreift. Dass sie eben nicht unter dem litt, was ihr geschah. »Sie tat alles aus freier Entscheidung, um das zu werden, was sie wollte.«

 

Nächster Gast von Charlotte Gneuß ist am 10. Dezember Lena Gorelik mit »Wer wir sind« (Rowohlt).

Zum Buch: Deniz Utlu: Vaters Meer. Suhrkamp. 384 S., 25 Euro.

 

Ein Beitrag aus Dresdner Neueste Nachrichten (DNN) Kultur vom 10. Oktober 2024