Das Werk zum Text, Foto: Volker Sielaff
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13.02.2023
Volker Sielaff

Salon des Zufalls: »Deutsche Teilung«

Eine literarische Kolumne

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Volker Sielaff schreibt in dieser Kolumne, immer ausgehend von einem Zitat, über »Meilensteine« der Literatur genauso wie über Zufallsfunde: Über bekannte und vergessene Bücher, über Marcel Proust und Horaz. Der erste von insgesamt fünf Teilen geht der Frage nach, warum wir auch von schlechten Büchern etwas lernen können.

»Die wir leben müssen zwischen den Feuern,
Ja sagen – Nein denken – nicht denken –«

Das obige Zitat stammt aus einer vergessenen Lyrikanthologie mit dem Titel Deutsche Teilung. Lyriklesebuch aus Ost und West, die 1966 im Limes Verlag Wiesbaden erschien. Der Verfasser dieser Zeilen ist unbekannt, anonym. Wir werden weiter unten darauf zurückkommen.

Ich mag Lyrikanthologien. Es gibt einige, die heute getrost als »Meilensteine« ihres Genres betrachtet werden können, allen voran wohl das Museum der modernen Poesie des gerade verstorbenen Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1960. Vorausgegangen war dem Walter Höllerers epochale Sammlung Transit, bereits 1956 erschienen.  Auch Luftfracht von Harald Hartung (1991) soll hier erwähnt, der Atlas der neuen Poesie von Joachim Sartorius (1995) nicht unterschlagen werden. Michael Braun und Hans Thill nahmen mit Das verlorene Alphabet (1998), Lied aus reinem Nichts (2010) und zuletzt Aus Mangel an Beweisen (2018) jeweils etwa ein Jahrzehnt unter die Lupe. Neben diesen »Meilensteinen« gibt es weitere Lyrikanthologien, wie das legendäre Lyrik von Jetzt, eine Sammlung, mit der 2003 eine komplett neue Dichtergeneration die Bühne betrat. Um all diese aber soll es hier nicht gehen. Sondern um die Sonderkategorie der vergessenen Anthologien, die von der Zeit abgeräumten. Die Frage ist: Sind sie deshalb schon uninteressant?

Eine von diesen vergessenen Anthologien zog ich dieser Tage unvermittelt aus einem Buchregal. Sie heißt Deutsche Teilung, im Untertitel Ein Lyriklesebuch. Auf dem Vorsatzblatt prangt ein dicker roter Stempel: »AUSGESCHIEDEN Stadtbücherei Heilbronn«. Im Nachwort, das ich zuerst durchblätterte, bekam ich Folgendes zu lesen: »Zieht man Bilanz, so ergibt sich (in diesem Buch) ein Defizit an guten Gedichten, dafür herrscht Überfluss an bezeichnenden Bewusstseinsstenogrammen.« Und es kam noch dicker: »Angesichts solchen Ertrags musste der Herausgeber sich entschließen, aus der poetischen Not eine dokumentarische Tugend zu machen … Hätte er nur Gedichte, die diesen Namen verdienen, aufnehmen wollen, es wäre ein recht schmales Bändchen dabei herausgekommen …« Nicht mehr als vierzig oder fünfzig, wie man im Vorwort des Herausgebers Kurt Morawietz erfährt, welcher auch verrät, dass »3.400 deutsche Gedichte von 1.074 Autoren aus achtzehn Ländern in Europa und Übersee« für das Unternehmen eingesandt wurden, »zum Entsetzen des Redaktionsteams, das sich damit eine jahrelange Arbeit eingehandelt hatte.« Ich meinte im ersten Moment, nicht recht zu lesen: Machte da ein Herausgeber etwa sein eigenes Produkt herunter?

Wie kam es zu dieser Anthologie? 1963, kaum zwei Jahre nach dem Mauerbau, hatte ein Redaktionsteam angefangen, um Einsendungen für die geplante Anthologie zu bitten, und zwar um Einsendungen aus Ost und West. Kein leichtes Unterfangen, stellt man sich vor, wie aufgeheizt die Stimmung gewesen sein mag. Von aufgeschlossener, »wenn auch mit viel Zögern und Bedenken gewährter Mitarbeit, die eine Teilnahme von DDR-Autoren ermöglicht hat«, ist denn auch im Vorwort die Rede. Und man erfährt, dass der Vorzeigedichter Paul Wiens – wie heute bekannt: im Nebenberuf Stasi-IM – einer der Kontaktmänner auf DDR-Seite gewesen sei. So darf man unter den versammelten Dichtern sicher weitere IMs ebenso wie schreibende Alt-Nazis vermuten. Es ist, darüber besteht gar kein Zweifel, eine »kontaminierte« Sammlung, mit eher schwachen Gedichten später recht bekannter Autoren und mit unsäglichen Ergüssen zu Recht ewig unbekannter Autoren, kurz: Eine ganz normale Anthologie, die eigentlich gar keine sein will, sondern nur ein »Lesebuch«.

Das Unsortierte aber, es hat seinen Reiz. War es Brecht, der einmal sagte, man könne auch von schlechten Büchern etwas lernen? Deutsche Teilung ist zweifellos eine Anthologie von limitierter literarischer Qualität. Noch ein Zitat aus dem selbstkritischen bis selbstquälerischen Nachwort von Reimar Lenz: »Falsch tönende Fanfaren, Propagandageleier, romantische Seufzer, Melodram, Wutgeheul, Hurrageschrei und Katzenjammer – es ist alles vertreten.« Mit anderen Worten: wenig Poesie, viel Stuss. Herausgeber Kurt Morawietz findet dann aber doch noch einen soziologisch sanfteren Begriff und nennt, was der Leser in dem Buch vorfindet, »die Wiedervereinigung des Widerstrebenden«.

Aber man kann, von heute aus, durchaus auch Entdeckungen machen. Das liegt zum einen an Dichtern wie dem in der Folge häufig zwischen West und Ost pendelnden Christoph Meckel oder dem gewitzten Adolf Endler (beide noch erschreckend jung damals), an Hilde Domin, Marie Luise Kaschnitz und einigen anderen, die weder Hurrageschrei noch falsche Fanfarentöne zur Sammlung beitrugen. Zum anderen führen Anthologien wie diese dem Leser rückblickend vor, dass so mancher heute bekannte Romanautor mit Gedichten zwar begonnen, bald aber selbst eingesehen haben mag, dass er zum Lyriker nicht wirklich tauge. So reibt man sich die Augen: Genazino – Gedichte? Und Delius? Schwamm drüber. Schlimmer wird es bei »eilfertigem Engagement« und »reaktionärer Idyllik« (Reimar Lenz), denn auch davon gibt die Sammlung reichlich Proben. So steht die 1885 in Halle geborene Ina Seidel (Deutschland West), welche dem Führer einst „treueste Gefolgschaft“ geschworen und die auch in der Bundesrepublik nach 1945 weiter reüssierte (im Erscheinungsjahr von Deutsche Teilung 1966 erhielt sie das »Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland«) neben dem Propagandisten Kurt Bartel (genannt KuBa, Deutschland Ost), der mit Heiner Müller zusammen fleißig Stalin-Kantaten übersetzte, jenem ansonsten allerdings kaum das Wasser reichen konnte. Klärend wirkt allemal der Abstand, mit dem man mehr als fünfzig Jahre danach auf solche Lyrikanthologien blicken kann.

Noch ein Wort zum Herausgeber Kurt Morawietz. Der wurde 1930 in Hannover geboren, war als Junge begeisterter HJ-Führer, »Träger sämtlicher Segelflugabzeichen«, Napola-Schüler und Anwärter für die Ordensburg Sonthofen, einer von drei Ausbildungsstätten für das zukünftige Führungspersonal der NSDAP. Später allerdings Pazifist und »unverbesserlicher Menschenfreund, Atomwaffengegner, Nicht-Kommunist« (Reimar Lenz in seinem Nachwort). 1955 gründete Morawietz die bis heute verdienstvolle Literaturzeitschrift die horen und war von 1962 an 30 Jahre lang im Kulturamt der Stadt Hannover tätig. Sein Grab befindet sich auf dem Stadtfriedhof Stöcken in Hannover.

Es gibt in dem Lesebuch Deutsche Teilung, welches keine Anthologie sein will, auch Gedichte anonymer Einsender, und ich wüsste nur zu gern, von wem jenes wunderbare, nur siebenzeilige Gedicht stammt, das mich bewog, das »abgestempelte« Buch aufzulesen und es doch noch einmal einer genauen Prüfung zu unterziehen. Fest steht, dass der ostdeutsche Beiträger (oder war’s eine Beiträgerin?) keine fünf Jahre nach dem Mauerbau allen Grund gehabt haben wird, sein bzw. ihr Gedicht ohne Namensnennung einzusenden. Es ist ein starker, in seiner Direktheit und durchscheinenden Verzweiflung berührender Text, der in jede deutsche Lyrikanthologie gehört.

Anonymer Bürger aus der DDR:
»Die wir leben müssen zwischen den Feuern
Ja sagen – Nein denken – Nicht denken
Die wir dunkle Nächte haben und genormte Gesichter
Die wir leben müssen ohne Erwartung –
und sehen: die Herzen werden alt vor der Zeit.
wir bitten euch:
verschont uns mit eurer Menschlichkeit«