Was denkt die KI zum Gedicht? Solche Fragen beschäftigen Etienne Genedl. Der Kulturreferent und Leiter des Ringelnatz-Geburtshauses betreut im Moment ein Projekt, das Schüler*innen nicht nur in Kontakt mit Dichtung, sondern auch mit modernster Technik bringt.
Kunst K.O.?
»Ringelnatz K. I. – Kunst K. O.?«, fragt der Projekttitel provokant. Ziel ist der »Blick auf das Werk von Joachim Ringelnatz durch menschliche und künstliche Augen«. Seit Dezember kooperiert das Haus dazu mit drei verschiedenen Klassenstufen des Magnus Gottfried Lichtwehr Gymnasiums. Neben der Kreativität der Schüler*innen kommen Bildgeneratoren mit künstlichen Intelligenzen zum Einsatz, mit integrierter Jugendschutz-Funktion. Das Projekt ist sowohl künstlerisch als auch spartenübergreifend angelegt: Die Klassen erhalten einen Gedichtpool, der bildhafte Beschreibungen umfasst. Sehr gegenständliche Gedichte eignen sich für den Einstieg am besten: Die Ringelnatter, die über die Mode schimpft und dabei aus der Haut fährt, das »Gemisch von Stachelschwein und Tintenfisch« und wo man es findet, das Gedicht von den tanzenden Seepferdchen oder der Wal, der auf eine Briefwaage stößt und sich darauf legt, in den Zeilen vom Übergewicht.
Die Schüler und Schülerinnen übersetzen die Poesie in ihre eigenen Assoziationen, die Rezeption erfolgt im Kunstunterricht mit Pastell und Malerei, zusätzlich werden Teile der Gedichte in die KI gespeist. »Als Zwischenschritt braucht es immer die Interpretation durch einen Menschen«, erklärt Genedl. »Das ist das eigentlich Spannende: Welchen Darstellungsauftrag werden die Kinder dem Programm geben? Beispielsweise kann man die volle Texteingabe des Gedichts einmal mit einer Zusammenfassung vergleichen.« Die K. I. arbeite mit dem, was man ihr vorsetzt, eine Anweisung von der Art »Bitte illustriere folgendes Gedicht« funktioniere meistens noch nicht. Aber die Entwicklung rast.
Ein wichtiger Schwerpunkt des Projekts sind Technikgeschichte und die Einbindung von Technologien in den Alltag und den künstlerischen Prozess, um sich damit vertraut zu machen. Zur Ergründung der Beziehungsgeschichte von Mensch und Maschine ist für die Klassen eine Exkursion ins Museum für Buchdruckkunst mit Workshop geplant. Diskutiert werden soll auch das Einsatzfeld für künstliche Intelligenz in der Literatur. Etienne Genedl erklärt: »Mir ging es um das Adaptieren und Rezipieren der Lyrik in bildlicher Form, das lässt sich mit Schulen gut machen; dabei werden neue Gedanken und Kreativität freigesetzt.« Den Schülern und Schülerinnen steht es frei, Teile des Gedichts wortgetreu abzubilden oder mit assoziativer Bildsprache zu arbeiten. Genedl führt aus: »Beispielsweise beschreibt das Gedicht Heimatlose ein Meerschweinchen hinter einem Toilettenspülkasten, inhaltlich geht es aber um Identitätsverlust und Migration.«
Noch bis Anfang Juni experimentieren die Heranwachsenden. Die Vernissage der Ergebnisse findet auf dem Ringelnatz-Sommer statt: Am 11. August werden die Ergebnisse des Projektes der Öffentlichkeit vorgestellt, mit Präsentation im hauseigenen Lesecafé – und natürlich online.
Lyrik-Walk statt Schlafwandeln
Das 23. Kulturfestival rund um Ringelnatz‘ Geburtstag hat sich Safiye Can zur Schirmpoetin gewählt. Thema ist in diesem Jahr »Ringelnatz und die Medien«; die Dichterin schreibt konkrete Lyrik und ist selbst multimedial unterwegs. Geplant werden 25 Veranstaltungen, vor allem am Wochenende, dabei Führungen, Konzerte und Lesungen, auch einen Lyrik-Walk durch die Stadt – mit Turngedichten und dazu passenden Übungen. Auf dem Festival begrüßt das Haus mit weiteren Partnern der Stadt ein Drittel seines Jahrespublikums, dabei stemmt der Verein den Löwenanteil.
Kooperationen und Literaturvermittlung sind wichtige Arbeitsziele des Vereins im Ringelnatz-Geburtshaus. Die Auseinandersetzung erfolgt dabei nicht nur mit Joachim Ringelnatz selbst, sondern auch mit den Zeitgenossen, so mit den »Vater und Sohn Comics« von Erich Oser. Der Kulturreferent erklärt: »Im Jahresprogramm ist das Geburtshaus eher ein Ort der zeitgenössischen Literatur, wir laden Autor*innen der Gegenwart ein und führen Diskussionen.« Zwei der regelmäßigen Reihen sind »erlesen!« und »Freitags im Crostigall«. Die Auseinandersetzung kann aber auch retrospektiv erfolgen.
Mehr 140 Vereinsmitglieder gibt es aktuell. Nach der Gründung 1991, wuchs der Verein ab 2016 exponentiell, als das Geburtshaus von der Stadt verkauft werden sollte – Proteste machten sich breit. Die Stadt Wurzen hatte das Gebäude zum 100-jährigen Geburtstag Joachim Ringelnatz‘ 1983 von privat abgekauft. Neben dem Betrieb der Galerie, des Museums und der Bibliothek war ein weiteres Haus nun nicht mehr zu stemmen. Man einigte sich darauf, dass die Stadt die Sanierungskosten übernahm, der Verein bespielt seither im Auftrag die Räumlichkeiten mit kulturellem Programm. Genedl kümmert sich mit seinem Team um die inhaltliche Arbeit. Zwei halbe Stellen hat er dabei zur Unterstützung. Arbeit gibt es für drei Vollzeitstellen, selbst dann ist noch etwas zu tun. Die Vereinsmitglieder unterstützen das Programm: Die Stellvertretende Vorsitzende Gerlind Braunsdorf agiert im Ehrenamt, André Genedl, der Ehemann des Kulturreferenten, übernimmt die Social Media, und Eva-Maria Hänsel betreut bei Lesungen Kindergruppen.
Ein Jahr ist das Haus nun wiedereröffnet, sein Interimsquartier fand der Verein in einem städtischen Kulturhaus – auch dort wurden Veranstaltungen durchgeführt, außerdem im unsanierten Gebäude. Kinderveranstaltungen fanden schon in früheren Zeiten statt. Die Lese- und Schreibförderung sieht der Verein als wichtige Aufgaben. Seit fast sechs Jahren hat sich zum Beispiel die Schreibwerkstatt Anna Hood Gäng – inzwischen unter der Leitung von Carl-Christian Elze – in Wurzen etabliert. Mit einer Förderung durch den Friedrich Bödecker Kreis können sich Kinder unterschiedlicher Altersstufen ausprobieren, demnächst sogar beim Drehbuchschreiben. Daneben hat das Haus noch zwei andere Kinderprojekte, wie die Veranstaltungsreihe LeseZeichen, bei der Schüler*innen in Kontakt mit Autor*innen kommen. Auch andere Ausstellungen gab es schon, zuletzt die Herstellung lyrischer Fliesen: Analog zu Joachim Ringelnatz‘ »Kachel aus dem Ofen«, die er verschenken würde, wurden Fliesen farbig mit Texten bedruckt und in die Dauerausstellung aufgenommen, aber auch im öffentlichen Raum angebracht. »Die Strahlkraft für Kultur ist sehr wichtig«, glaubt Etienne Genedl. »Es reicht nicht nur, sich selbst damit zu beschäftigen; je mehr wir Menschen Kunst und Literatur nahebringen können, desto besser.«
Text von Josefine Gottwald
Der Ringelnatz-Sommer findet vom 2. Bis 11 August statt.
Aus dem Programm
- 03. August, 10 Uhr – Schreibwerkstatt »Dichter-Club« mit Safiye Can und Hakan Akçit für Kinder (mit Anmeldung)
- 04. August, 16.30 Uhr – Gregor Hens: »Die eigentümliche Liebe für das Meer«, Lesung
- 10. August, 10 Uhr – »Wie die Tiere Soldaten werden wollten«, Themen-Führung im Ringelnatzkabinett des Kulturhistorischen Museums
- 10. August, 16.30 Uhr – »Trimm-dich-Natz« Lyrik-Walk mit Turngedichten
Die Förderung des Projekts »Ringelnatz K. I. – Kunst K. O.?« erfolgt durch die Sparkassenstiftung Muldental. Weitere Unterstützung kommt vom Kulturraum, der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und der Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten.