Ein individueller Literaturspaziergang mit Festivalcharakter, das ist das Schlesische Nachtlesen, das am 9. April nach Görlitz und Zgorzelec einlädt. Agnieszka Bormann, Kulturreferentin für Schlesien am Schlesischen Museum, ist die Hauptveranstalterin und erzählt uns, weshalb ihr die Veranstaltung am Herzen liegt.
Frau Bormann, früher haben Sie selbst beim Nachtlesen vorgetragen, heute organisieren Sie das Event als literarischen Akzent neben vielen anderen Projekten Ihres Kulturreferates, wie dem Blog SILESIA News. Wie wichtig ist Ihnen der Literaturschwerpunkt?
Das Besondere an Literatur ist, dass sie diverse Vermittlungsformate zulässt, sogar erfordert, und dadurch so vielfältig wirkt. Im Angebot des Kulturreferates gibt es neben dem Schlesischen Nachtlesen auch die Deutsch-Polnischen Literaturtage an der Neiße. Beide Veranstaltungen sind für mich absolute Highlights, eine Herzensangelegenheit. Sie finden im zweijährigen Rhythmus abwechselnd statt, sodass jeder Frühling in Görlitz-Zgorzelec mit einem Literaturfest beginnt. Außerdem gibt es auch das Format Schlesien erlesen – unter dieser Überschrift organisiere ich Buchvorstellungen und Autorengespräche über das Jahr verteilt. Das Angebot soll möglichst offenbleiben.
Das Nachtlesen hat eindeutig Festivalcharakter, auch wenn es sich an einem Abend abspielt. Wie jedes Festival lebt es vom Überfluss: An 13 Orten, von denen viele keine kulturellen Orte sind, werden in jeweils 10 Slots (zu jeder vollen und halben Stunde zwischen 17 und 22 Uhr) kurze Abschnitte gelesen. Die Texte sollen Lust auf die Lektüre wecken und nebenbei bekannte Personen, oft des öffentlichen Lebens, in ihrer neuen Rolle als Vorlesende*r zeigen.
Unterschiedliche Textstellen gibt es dabei nur in den Seniorenresidenzen zu hören. Sind Senioren ein unterschätztes Lesepublikum?
Beim letzten Mal haben wir gezielt etwas für Kinder angeboten, diesmal gibt es etwas für die Senioren. Nicht nur um das Angebot zu variieren, sondern um gezielt auf ein Defizit zu reagieren. Ich finde es nach wie vor eine gute Entscheidung, die Senioren einzubeziehen. In einem Haus wie einem Altenheim gibt es immer wichtigere Aufgaben im Alltag, die für Literaturgenuss oder generell kulturelle Impulse wenig Platz lassen. Die Pflege nimmt im Tagesverlauf viel Platz ein. Die letzte Zeit, in der Kultur als »nicht systemrelevant« abgestuft wurde, brachte kulturelle Entbehrungen mit sich – schöngeistige Themen tun den Menschen jetzt gut!
Eine Besonderheit im Programm ist der Vortrag von Szymborska-Gedichten: Zehn Jahre nach dem Tod der Autorin werden sie gelesen und auch musikalisch vorgetragen …
Der Schwerpunkt zu Wisława Szymborska ist in diesem Programm wie eine Blume für mich! Die Vertonung der Lyrik durch den befreundeten Musiker und Freund Jacek Telus erfolgte noch zu Lebzeiten der Autorin. Ich habe zu ihr auch einen starken persönlichen Bezug: Als sie 1996 den Literaturnobelpreis bekam, habe ich gerade in Krakau, also in »ihrer« Stadt, studiert. Eine Zeitlang herrschte in der Stadt ein freudevoller Ausnahmezustand, die Atmosphäre war von ihrer Poesie durchdrungen. Daher freute ich mich, als der Görlitzer Kulturbürgermeister Dr. Michael Wieler meine Einladung zum Nachtlesen annahm und gleich vorschlug, Szymborska-Texte vorzutragen. Zu Schlesien finde ich bei ihr eigentlich keinen Bezug, aber es passt auch zum Nachtlesen, mal über den Tellerrand zu schauen.
Das Konzert als zusätzlicher Programmpunkt in Zgorzelec ist so wie die Lesung in Görlitz gleichermaßen für polnisches wie deutsches Publikum geeignet. Es findet in polnischer Sprache statt, wird jedoch multimedial mit den deutschen Texten von Karl Dedecius unterlegt.
Polen fungiert im aktuellen Kriegsgeschehen als eine Art humanitäre Zwischenstation auf dem Weg von der Ukraine nach Deutschland. Wirkt sich das aus – wachsen wir unter diesem Stern kulturell enger zusammen?
Das Programm des Schlesischen Nachtlesens war lange vor dem Kriegsausbruch fertig. Aufgrund der Kürze der Zeit haben wir diesen Komplex nicht mit eigenem Akzent thematisiert. Andere Kulturschaffende in Görlitz-Zgorzelec organisieren schon unterschiedliche Formate und bieten Hilfe an. Direkt an der Nahtstelle sieht man das Zusammenwachsen von Polen und Deutschland tatsächlich anders. Ich habe persönlich den Eindruck, dass sich in der Ukraine-Frage eher ein Riss bildet: Wie schnell bürokratische Vorgänge in Polen gelöst werden, kontrastiert mit dem Vorgehen in Deutschland. In Polen sind geflüchtete Kinder am dritten Tag schon in der Schule oder im Kindergarten, während bei mir zu Hause eine aufgenommene Mutter mit Kind schon drei Wochen auf den ersten Behördengang wartet …
Im Programm des Schlesischen Nachtlesens gibt es erstmalig auch Buchpremieren. Darunter führen Sie die erste öffentliche Lesung aus den wieder verlegten Tagebüchern von Daisy von Pless. Die Biografie der High Society Lady hat Parallelen zur Evita-Story – wie wichtig sind solche Eyecatcher für Kulturveranstaltungen?
Ich empfinde es als glückliche Fügung, dass die Tagebücher in der deutschen Übersetzung gerade jetzt neu aufgelegt wurden. In Polen wurden sie in den letzten Jahren auch übersetzt. In Schlesien, der Region, in der Daisy von Pless lebte, wirkte und sich sozial engagierte, genießt sie Kultstatus, ist eine Legende, die immer wieder inspiriert, auch in der Literatur. Die preisgekrönte polnische Schriftstellerin Joanna Bator, die ihre Kindheit und Jugend in Wałbrzych (Waldenburg), sozusagen im Schatten des Schloss Fürstenstein, wo Daisy die letzte Herrin war, verbrachte, hat ihr in dem Roman Dunkel, fast Nacht ein kleines literarisches Denkmal gesetzt. Daisys Bekanntheit in Deutschland kann ich nicht eindeutig einschätzen, hoffe aber umso mehr, mit dem Schlesischen Nachtlesen dazu beitragen zu können. Für mich ist sie eine der schillerndsten und wichtigsten Persönlichkeiten der schlesischen Geschichte.
Übrigens, Joanna Bator ist Stargast des Schlesischen Nachtlesens auf der polnischen Seite der Stadt. Sie kommt schon am 8. April nach Zgorzelec mit ihrem neuesten Roman Gorzko, gorzko (wortwörtlich »Bitter, bitter«), der noch nicht in Deutschland erschienen ist.
Das Nachtlesen ist als individueller Literatur-Spaziergang gedacht, den man überall beginnen kann. Wonach wählen Sie die Orte für Ihre Lesungen?
Wir suchen Orte, die Charakter haben und teilweise im Alltag nicht zugänglich oder nicht mit kultureller Nutzung verbunden sind. Das alte jüdische Kaufhaus Totschek ist dabei, das normalerweise geschlossen ist. Manche Menschen kommen vielleicht auch wegen der Orte: Wer gelangt schon als Besucher in ein Werkstattgebäude des Theaters? Ein wichtiges Kriterium ist auch, dass die Orte beieinanderliegen, höchstens 5-10 Gehminuten voneinander entfernt, damit sie in Summe tatsächlich eine Spazierroute ergeben. Mir ist wichtig, dass die Veranstaltung dadurch auch einen Reiz für die Touristen hat, die auf diese Art und Weise die Stadt kennenlernen können, inklusive einiger Orte, die sie bei keiner Stadtführung gezeigt bekommen.
Veranstaltungen wie das Literaturfest Meißen bauen auf ehrenamtliches Engagement und kommen teilweise ohne Autorenhonorare aus. Das Schlesische Nachtlesen finanziert sich komplett über das Kulturreferat aus Bundesmitteln (BKM). Wie sieht es hier mit den Honoraren aus? Leisten Sie einen Beitrag gegen die schlechte Auftragslage für Künstler im Moment?
Am Schlesischen Nachtlesen nehmen nur ganz wenige Künstler oder Autoren teil. Das ist auch eine Besonderheit der Veranstaltung, dass wir Literatur in die Hände derer legen, die sich in den allermeisten Fällen beruflich in einem anderen Bereich bewegen. Unter den Vorlesenden gibt es Personen, die im öffentlichen Dienst oder in leitenden Positionen arbeiten und es gibt solche, die selbständig sind. Nur die Letzteren bekommen ein symbolisches Honorar. Den anderen bin ich für ihren ehrenamtlichen Einsatz sehr dankbar. Die ausrichtenden Orte bekommen eine kleine Aufwandsentschädigung zur Deckung der anfallenden Personalkosten. An jedem Ort gibt es nämlich Kartenverkauf, der personell abgesichert werden muss. Die Kosten des Projektes befinden sich im unteren fünfstelligen Bereich, was für das kleine Kulturreferat eine enorme finanzielle Leistung bedeutet. Trotzdem ist es mir sehr wichtig, sowohl den Lesenden wie auch den Gastgebern der Leseorte einen kleinen Obolus zu zahlen. Die »richtigen« Künstler im Programm (nicht Vorlesende), also Joanna Bator, die beiden Bands und die Aftershow Künstler bekommen natürlich ein Honorar in gewünschter Höhe.
Das Gespräch führte Josefine Gottwald
Das Schlesische Nachtlesen findet am Samstag, den 9. April 2022, ab 17 Uhr statt
Aus dem Programm
- Villa Marie Curie: Tanz auf dem Vulkan – Ina Kwiatkowski liest aus den Tagebüchern der Fürstin Daisy von Pless
- Art Goreliz: Jenseits – Premiere für deutsches Publikum des Romans Zaświaty von Krzysztof Fedorowicz
- Dom Kultury, Zgorzelec: Szymborska & Freunde – Konzert von Jacek Telus und Band (18 Uhr)
Alle Informationen finden Sie unter Schlesisches Nachtlesen 2022
Weitere Links: Wisława Szymborska bei Lyrikline