Von Frühjahr bis Herbst 2009 war die Schriftstellerin Dorothea Dieckmann Stadtschreiberin in Dresden. Neben ihrem neuen Romanprojekt arbeitete die Autorin seinerzeit an einem »Dresden-Poem« – wie sie es bei der ersten Vorstellung des Werks selbstironisch nannte. Die Unsicherheit über den Charakter des Werks lag nicht zuletzt bei der Autorin selbst, die normalerweise nicht auf dem Gebiet der Lyrik beheimatet ist.
Inzwischen ist das Langgedicht, das erstmals in der Dresdner Literaturzeitschrift Signum erschien, in einer bibliophilen Ausgabe beim Verlag Ulrich Keicher in Warmbronn erhältlich. Der unauffällige, dennoch edel gestaltete Band breitet die Langverse in 13 Abschnitten aus. Ja, auch der 13. Februar ist Thema, und eigentlich alles, was Dresden zu bieten hat an Strittigem und Unstrittigem. Das Querdenken der Autorin wird durch Querlesen des Lesers noch offenbarer: Die Langverse des Gedichts sind hochkant gedruckt, man blättert also seitwärts durchs Buch.
Sinnvoll ergänzt wird die Lyrik durch einen Erklärapparat, der uns vor Augen führt, wie allzu schnell man Dinge verdrängt. Wer Marwa El Sherbiny war, mag man noch erinnern, aber dass Präsident Obama 2009 in Dresden war, erscheint heute unendlich weit entfernt. Dorothea Dieckmanns Dresden-Bestandsaufnahme ist durch die Sicht der Autorin gefärbt. Sie will das auch gar nicht verbergen. Das Buch ist ein sehr persönliches. Es breitet eigene Erfahrungen neben Kindheitserinnerungen und -bezügen aus. Sie findet Worte für Orte. Dresden war für viele aus dem Westen – für manche ist es bis heute so – ein Nicht-Ort. Noch nicht einmal die »verträumte kleine Schwester« Hamburgs am Elboberlauf, wie Dieckmann sie nennt. Ein Name nur, mit Klang zwar, aber ohne konkrete Inhalte. Der Name »Dresden« wollte gefüllt werden. Man kann Frau Dieckmann beim Auffüllen zuschauen und sie geht gewissenhaft dabei vor. Für manche, die weniger gewissenhaft sind, wurden Pegida und AfD zum Hauptinhalt.
Manche Zeile scheint wahrhaft prophetisch, doch stellt Dorothea Dieckmann nur eine klug und intensiv beobachtete Bestandsaufnahme her, die im Rückblick betrachtet die Vorahnung der entfremdeten Montagsdemonstrationen zu sein scheint. »Gute alte DDR, Lückenland aus altem Eisen, die Erinnerung kauert in einsamen Laternen und den rostigen Schlössern der Metallzäune.« Der vermutlich am häufigsten zitierte Satz des Gedichts »Dresden, gleich weit entfernt von Wissen und Unwissen«, kann sowohl auf die Bewohner abzielen, als auch auf die Besucher. Denn nur wer herkommt, lernt die Stadt wirklich kennen. Frau Dieckmann ist hergekommen. Sie hat sich die Stadt zu Fuß erlaufen und mit dem öffentlichen Nahverkehr erfahren, mehr als gründlich. Sie kennt nicht nur die Vorder- sondern auch Hintergründe. »Dies ist nicht die Sempersynagoge, zertrümmert in Dresdner Handarbeit, schnell wie die englische Nacht.« Die kenntnisreiche Beschreibung, der genaue und tiefe Blick mag verzeihen, dass – womöglich dem zeitlichen Abstand geschuldet – einige Fehler stehen geblieben sind: Die Flügelwegbrücke wird Flügelbrücke genannt, die Dresdner Chipfabrik fälschlich »Qimoda«. Schwamm drüber, die wichtigen Inhalte stimmen. Und die wunderbaren Wortschöpfungen gleichen die kleinen Ungenauigkeiten mehr als aus: »Bombenlückendickicht« etwa, oder »Feierabendmenschen«, oder das »Bronzekind«, das die Erich-Kästner-Statue am Albertplatz meint.
Dorothea Dieckmann trifft nicht nur die Atmosphäre eines heißen Dresdner Sommers, sondern die Stimmung der Stadt, die konservativem Gedankengut oftmals näher steht als progressivem, aber dadurch nicht automatisch in die Nazi-Ecke gehört. Pegida ist auch ein Hilfeschrei Zurückgelassener, Abgeschriebener. Aber man muss ihn hören wollen.
So wie Dorothea Dieckmanns Gedicht die Suche nach einer Stadt schildert, nach deren Geschichte, deren Diskursen, deren Bewohnern, wird Dresden als eine Stadt auf der Suche nach sich selbst erlebt. Und dies ist es vielleicht auch, das vorherrschende das Lebensgefühl, zweiundsiebzig Jahre nach der Zerstörung und achtundzwanzig Jahre nach der Wende. Dresden ist kein Endzustand, sondern eine dynamische Erzählung. Mag sich querlegen, wer will.
Dorothea Dieckmann: Sommer in Dresden. Ein Gedicht. Verlag Ulrich Keicher, Leonberg-Warmbronn 2017.