Die poetische Energie, die in den Gedichten von Thomas Kling (1957-2005) steckt, konnte am wirkungsvollsten wohl nur er selbst freisetzen. Zeitzeugen, die den Rheinländer bei seinen Auftritten, gelegentlich in Lederjacke und schwarz-gelb gestreiftem Wespenpullover, erlebten, geraten unweigerlich ins Schwärmen. Uns andern bleiben Mitschnitte. Auf denen vernehmen wir eine Stimme, die sich in ihrer Schärfe durch den Raum zu fräsen scheint, die bedrohlich anschwillt, ruft, schreit, Worte wie Befehle über einen Kasernenhof bellt, sich abrupt ins Flüstern zurückzieht, säuselt, jammert, durch die zusammengepressten Zähne raunt, wie im Suff lallt. Wie Theaterstücke muss er seine Gedichte inszeniert haben. Regisseur und Darsteller verschiedener Stimmen in einem. Man ahnt die überwältigende Polyphonie, die er erzeugte, dieser »Sprachekstatiker«, wie ihn Suhrkamp-Lektor Christian Döring genannt hat.
Der Interpret als Teil des Werks
Was bleibt, nachdem diese poetische »Rampensau« – so hat er sich selbst genannt – mit 47 Jahren viel zu früh verstummte? Welch überragende Dichterpersönlichkeit er auch jenseits der Düsseldorfer Szene ist, beweist uns mit sorgsamster Genauigkeit der seit 1996 in Dresden lebende Schriftsteller Marcel Beyer: Gemeinsam mit dem Leipziger Literaturwissenschaftler Frieder von Ammon, Gabriele Wix und Peer Trilcke hat er eine vierbändige Werkausgabe gestemmt. Nun haben wir den ganzen Kling, den frühen, späten, posthumen. Ihn selbst ja nicht, nur seine Texte.
Stellt sich die Frage: Fehlt ihnen ihr wichtigster Interpret? Oder kommt die Schrift ohne den Abwesenden aus? Gewiss doch, meinen Marcel Beyer und Frieder von Ammon, zwei tiefergehend Begeisterten aus der Fangemeinde. »Wir hätten diese Ausgabe nicht gemacht, wenn wir gesagt hätten, das Werk von Thomas Kling hängt so eng an der Person, funktionierte gar nicht ohne die Dichterfigur, die Thomas Kling selber von sich entworfen hat«, sagt Marcel Beyer in einem Gespräch mit Frieder von Ammon, das die Dresdner Stadtbibliothek in ihrer Video-Reihe #weiterlesen aufgezeichnet hat.
Eigenheiten gestalten eine Sprachinstallation
Dass man als Leser mit Klings orthografischen Eigenheiten erst mal fremdelt, ist begreiflich. Er spart sich Vokale (»di«, »hintn«, »altnkrnknheim«), kappt Endungen, ersetzt sie durch Apostroph (»anweisun’«), teilt Worte am Zeilenende ab, auch neben der Silbe (»de-/nkgelind-tafel«), zerlegt Komposita in ihre Bestandteile, verstärkt Zischlaute (»verhunzter / hunzdaxx«), tauscht Konsonanten (»habm«), bildet Rheinländische Umgangssprache ab (»kannzes mir nochma zeign«). Er vergrößert die Abstände zwischen Wörtern, was Pausen markiert. Gelegentlich sehen wir ihn jenseits der Grenze, wo die Verständlichkeit endet, verschwinden.
In dieser phonetischen Schreibweise erweisen sich die Texte als Partituren, wie Gabriele Wix in ihrem Nachwort zu Band 1 anmerkt. Sie sind geschrieben fürs Sprechen. Kling selbst erklärte: »Sprach-Räume mit der Stimme gestalten, Sprache mit der Stimme der Schrift gestalten: Sprachinstallation.« Neben dem, was sie beschreiben, sind die Worte selbst Gegenstand der Betrachtung. Kling packt Sprache auf den Seziertisch und legt wie ein Chirurg ihre Schichten frei.
Da, mutmaßt Frieder von Ammon, der ihn selbst erlebt hat, könnten die Hörer damals Entscheidendes verpasst haben. Fasziniert von seinen emphatischen Gegenwartsbezügen, irritiert von seiner Punk-Attitüde hätten sie sich ablenken lassen von den Tiefenstrukturen seiner Texte. Erst beim eingehenderen Lesen bekommt man mit, wie viel mehr als nur Düsseldorfer Szenenachtbeschreibung zum Beispiel »ratinger hof zb 3« ist, eines seiner berühmtesten Gedichte. Dass dessen Tiefenschichten in die Weimarer Republik, die beiden Weltkriege, ja bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Frieder von Ammon: »Auf gewisse Weise ist es ein in die Gegenwart des 20. Jahrhunderts versetztes Barockgedicht.«
Verse mit Rückspiegel
Das macht den Reichtum dieser bizarren Sprachkonglomerate aus: Angereichert von einem hellwachen Gegenwartsblick, sind sie doch zugleich in eine Tradition montiert. Es sind Verse mit Rückspiegel. Er betätigte sich ja auch als Vermittler, gab die Anthologie »Sprachspeicher« mit 200 Texten vom achten bis ins 20. Jahrhundert heraus, erschloss im Projekt »Vorzeitbelebung« die antiken Dichter Euripides und Ovid neu, übersetzte Catull mit frischer Wucht, löste mit seinem »Berliner Vortrag über das 17. Jahrhundert« eine Barockbegeisterung in der Gegenwartslyrik aus.
Seine Verse sind mit Geschichte aufgeladen. Besonders mit der des Ersten Weltkrieges, Dreh- und Angelpunkt in seinem Werk, die »Eingangskatastrophe des 20. Jahrhunderts«, wie Marcel Beyer sagt. Immer weiter zurück geht er, bis in die Früh- und Vorzeit, wo die Sprache geboren wird. Seine Texte offenbaren ein enormes Wissen. Aber sie lesen sich nie wie die eines gelehrten Dichters. O-Ton Kling: »Das Gedicht hat kein Lehrer-Lämpel-Institut zu sein, es ist didaktikfrei, seine resthumanistische Fracht ist als Konterbande zu betrachten.« Nein, Staubhusten muss man bei ihm nicht fürchten. So einen hätte man sich als Deutschlehrer gewünscht. Bei dem könnten auch jüngere Leser begreifen, wie cool Tradition sein kann.
All das habe sich Kling nicht in Seminaren, sondern als Autodidakt erarbeitet, betont Frieder von Ammon. »Unter Einbeziehung der gesamten Existenz, des Körpers, der Stimme, eignet er sich diese Wissensbestände an.« Was Kling so besonders dabei mache: »Daraus kann er eine Intensität entwickeln, die einem anderen Autor nicht erreichbar wäre.«
Keine Berührungsängste
Die Werkausgabe zeigt Kling zudem als begnadeten Essayisten, was nach seinem Tod in den Hintergrund getreten ist, wie Frieder von Ammon bedauert. Dabei sei Kling nach 2000 durchaus präsent in den Feuilletons gewesen. »Da konnte man regelmäßig von ihm Aufsätze und Rezensionen lesen, die einen von den Stühlen gerissen haben, weil sie so aufregend waren.«
Nun können wir selbst vergessene Filmkritiken von ihm lesen und überraschende Entdeckungen machen: »Bei aller Ernsthaftigkeit und Strenge, die Thomas Kling ausgestrahlt hat, hat er eine Freude an guten Gags, Albernheiten«, sagt Marcel Beyer. »Und keine Berührungsängste mit der Popkultur«, fügt Frieder von Ammon hinzu.
Jedes Gedicht, jede Seite liest sich kraftvoll, vital, energiegeladen. Immer wieder jedoch taucht das Thema des Todes auf. Und gerade in den späten Texten haben die Herausgeber auch einen anderen Thomas Kling entdeckt: in der Idylle der stillgelegten Raketenstation Hombroich, wo er zuletzt mit der Malerin Ute Langanky lebte, den innig der Natur Zugewandten. Frieder von Ammon: »Er ist zärtlich, nahe bei den Dingen. Hält die Schönheit im Moment des Vergehens auf vollkommen neue Weise fest.«
erschienen in: Dresdner Neueste Nachrichten (DNN) Kultur, 9. April 2021
[i] Thomas Kling: Werke in vier Bänden. 2692 S., 148 Euro