Wie all diese »Langen Nächte« ist auch die »Lange Nacht der Autoren« in der Villa Augustin genau genommen keine Nacht. Aber »Langer Abend« klänge nach: zieht sich. Und das tat er wahrlich nicht. Selbst über fast drei Stunden Dauer verstehen es die vier Damen und vier Herren, einen bei gespannter Aufmerksamkeit zu halten. Es ist ein bisschen wie Acht-mal-100-Meter-Staffel mit gemischter Mannschaft. Wobei den Stab hier jedes Mal Autorenkollege Michael G. Fritz als Moderator mit munter-kompakten Steckbriefen der Auftretenden weiterreichte.
Die Fülle und der abrupte Wechsel der sozusagen Laufstile macht die Mischung. Die als Nacheinander ein Nebeneinander bleiben muss.
Miteinander – dazu brauchten alle die Spontaneität von Nancy Hünger, die sich aus der Situation heraus für einen Text entschied. Ein erfrischendes Gespräch mit den Versen Goethes, Hölderlins und Heinz Czechowskis, dieses bitteren Melancholikers. Da knallten die klassisch großen Vokabeln des Tübinger Sängers – »Lethe« und »Styx« – auf coolen Jugendsound: »Ach, ich scheiß auf die entsicherten Zeichen.« Das passte, das traf.
Gefragt sind schneller Antritt und rasche Energieentfaltung. Da ist Lütfiye Güzel stark, die uns in ihren Gedichten durch den Migrantenalltag in Duisburg-Marxloh jagt. So, dass wir ein Stück in diesem anderen Leben mit teilen. Das ist Poesie mit erhöhter Pulsfrequenz.
Kontraste kommen immer gut. Wie bei Ulf Großmann, der mit seinen düsteren Gedichten aus dem Band »Nachtränder« (Elif Verlag) einsteigt, diesen Stillleben mit leergesoffenen Bierflaschen unterm Bett und Staub auf den Möbeln. Die manchmal in surrealistischen Momenten einen überraschend humorvollen Dreh vollführen, wenn sich der Sprecher zum Beispiel »Bügelfalten für die Tassen« wünscht, »damit der Kaffee gerader schmeckt«. Ungebrochen satirisch, passend zum Advent ist »Weihnachtsvorbereitung«, seine Geschichte, in der einer die Schenkerei als bürokratischen Amtsvorgang inszeniert.
Jeder Auftritt öffnet Fenster in andere Gegenden. Kerstin Becker zeigt uns die Wälder ihrer Kindheit. Grandios, wie dicht und wie viel sich darin mischt: kindliche Lust, Angst, Freiheitsdrang mit dem instinktgesteuerten Leben der Tiere, Nachkriegs- und DDR-Alltag. Auch Premiere für Ungedrucktes ist die Lange Nacht. Kerstin Becker ist mittlerweile in ihren Gedichten eingeschwenkt auf eine neue Perspektive: den Mutterblick, mit allerzärtlichsten Neugeborenen-Gedichten. Entzückt möchte man mitsummen mit den Krankenschwestern, die das kleine Wesen im Arm wiegen.
Nie gehörte Kurzprosa stellte Franziska Gerstenberg vor. Diese »Polaroid-Texte« lassen aufhorchen. Für die Smartphone-Generation: Polaroid waren in den 70er und 80er Jahren diese klobigen Kameras, wo vorne sofort nach dem Knipsen das entwickelte Foto rauskam. Wie sie auf engstem Raum dem Geschehen solch verstörende 180-Grad-Wendungen gibt: die vogelkundige Großmutter zum Beispiel, die die Tierchen am Ende brät und verspeist. Da kann man nur staunen mit leisem Erschauern vor diesen abgründigen Paradoxien des Lebens.
Christoph Kuhns Lyrik ist dichter und besser als seine Prosa, wo aus manchem Text die gute Absicht allzu auffällig winkt. Poesiealbum 348 (Märkischer Verlag Wilhelmshorst) ist als gelungene Sammlung seiner Verse sehr zu empfehlen. Dort findet man sein Themenspektrum kompakt vor: DDR-Geschichte, Zeit- und Sprachkritik, christliche Religion. Erheiternde Lockerungsübungen neben so viel Ernst sind seine Kindergedichte und Parodien nach Rilke oder Morgenstern. Dieses Spielbein wünscht man sich öfter in Aktion.
Die ganz großen Themen stellt Uwe Kolbe wie meisterlich in Öl ausgeführte Wortbildleinwände vor uns: Variationen über Schöpfungsmythen aus dem Zyklus »Das Tagwerk« in »Gegenreden« (S. Fischer). Sucht man Berührungspunkte zwischen den Mikrovorstellungen dieses Abends, findet man sie am ehesten in der Handvoll Stanzen aus seinem jüngsten Band »Die sichtbaren Dinge« (poetenladen): Die Tiere, die er in den Kreis seiner Wahrnehmung einschließt – auf andere Art ähnlich wie Kerstin Becker; oder das völlig Andere, das einem in »Verfolgungswahn« in die Quere kommt, etwa statt Krokussen der Schlitten auf der Todesbahn – da klingen die Gerstenbergschen Überraschungsmomente an.
Den poetischen Absacker des Abends servierte uns André Schinkel, bekennender »Anarchoklassizist«. Der hielt sich nur ein Gedicht lang mit Lüge, Vorwürfen und Schuld auf, um unverzüglich auf Erotik und das Erheiternde hässlichster Tiere zu kommen. Spitzenplatz seines Rankings: Axolotl. Wenn schon Fatalismus, dann fröhlich. Mit einem sanften Lilien-Liebesgedicht zog er die Tür mit lässigem Phlegma hinter sich zu, ehe uns Freejazzer Peter Koch noch einmal aufschreckte mit akustischen Ausschreitungen auf seinem Cello.
erschienen in Dresdner Neueste Nachrichten vom 10.12.2019, S. 11 / Kultur