Kunstschaffende sagen oft, sie überließen die Deutung ihrer Werke dem Publikum. Sie geben ihren Kunstwerken mitunter keine Namen, um individuelle Deutungen zu beflügeln. Warum flammte, wenn das der Wunsch vieler Künstler*innen ist, die Diskussion um Interpretationsspielräume und Identitäten über die Vergabe der Übertragung Amanda Gormans (Inaugurations-) Poem so stark auf und Marieke Lucas Rijneveld gab, zunächst hocherfreut, den Übersetzungsauftrag sogar zurück? Liegt die Deutungshoheit eines Kunstwerks also doch bei der, den oder dem Erschaffenden? Für den Deutschen Jugendliteraturpreis etwa wurde in der Vergangenheit gar darüber diskutiert, ob Übersetzungen überhaupt nominiert werden dürften. Dieses Jahr waren glücklicherweise allein in der Sparte Bilderbuch bereichernde vier von sechs nominierten Titeln Übertragungen ins Deutsche.
Kulturelles Verständnis ist von unterschiedlichsten, globalen oder regionalen Erfahrungen und dem Austausch darüber geprägt. Wir erfreuen uns an Exotischem und rezipieren es gespickt durch eigene Erfahrungen, übertragen und verschmelzen es mit persönlichen Ideen und Gedanken. Kultur und Kunst, insbesondere Sprache, bleibt durch Wanderung, individuelle Deutungen und Veränderung lebendig und spannend. Wir sind unzweifelhaft neugierig, begeisterungsfähig, wollen uns kennen- und mehr voneinander lernen. Lernprozesse jedoch unterliegen individuellen Verstehens- und Übertragungsprozessen. Regionale, klimatische, geografische Einflüsse, individuelle Prägungen und Erfahrungen lassen uns Dinge unterschiedlich wahrnehmen. Daher ist es fraglich, ob wir exakt verstehen können, was andere ausdrücken möchten, fühlen oder meinen. Es ist nie identisch wahrnehmbar. Die Gefahr des Missverstehens und das Risiko der Fehldeutung lauert in jeder Veröffentlichung. Gehen wir davon aus, jede*r Leser*in begeht ungewollte Interpretations»fehler« oder versteht den oder die Kunstschaffende*n nicht exakt, da er oder sie einen gänzlich unvorhersehbaren Erfahrungsschatz, Reflektions- und damit Deutungsmöglichkeiten einfließen lässt, sollten wir alle diese Gefahr einkalkulieren. Das Freigeben eigener Werke könnte also als Ausdruck des Wunsches zur Rezeption und Interpretation verstanden werden und ist damit ein an sich sehr mutiger Schritt.
Ich frage mich, ob der Autor und Illustrator Jon Agee von Auf der anderen Seite lauert was mit diesem Titel und der Illustration das von mir als geistige Mauer interpretierte sprachliche Bild wirklich meinen könnte, denn die Originalausgabe mit dem Titel The Wall In The Middle Oft The Book ruft diese Assoziation bei mir nicht hervor. Weichen diese beiden Formulieren nicht wahrlich zu stark voneinander ab? Empfindet Jon Agee ähnlich, kennt er den Unterschied?
Ohne exakte Berücksichtigung der kulturellen und sprachlichen Erfahrungen könnte die Auslegung oder Abweichung bei Übertragungen, so scheint es, tatsächlich zu hoch und daher möglicherweise unzulässig sein.
Die Kritik an der Beauftragung Rijnevelds lässt sich vielleicht auf die Frage nach den individuellen Möglichkeiten durch (nicht) vergleichbare Sozialisationserfahrungen summieren.
Der Wunsch und der Antrieb zur Übertragung eines Kunstwerks von einer in eine andere Sprache oder in eine neue kulturelle Umgebung liegt aber doch im Streben nach Verbreitung, dem Bedürfnis nach Mitteilung und kommunikativem Austausch über eine innovative Idee, ein Kunstwerk. Austausch jedoch verändert unsere Wahrnehmung(en), unsere Sichtweisen und Perspektiven und die Verbreitung bedarf einiger Zeit. Zeit wiederum verändert Deutungen ebenfalls. Selbst Lesarten des gleichen Textes verändern sich oft rasant. Deutungen lassen sich also nicht fixieren.
Warum also sollte die Übertragung eines Kunstwerks identisch mit dem Original sein müssen? Und wie könnte dies sichergestellt werden?
Sicher ist, eine moderne Gesellschaft sollte die Grenzen verhandeln und Zulässigkeiten stetig überprüfen. Allgemeingültige Grenzen festzuschreiben, hieße jedoch, die Mauern in unseren Köpfen wachsen zu lassen. Auch wenn Übertragungen möglicherweise nicht komplett mit der Idee der Erschaffenden übereinstimmen und wir mit einer gewissen Authentizitätsabweichung leben müssen, sind Übertragungen immer auch Bereicherungen! Wie wäre wohl meine Lesesozialisation ohne die mir bekannten Übersetzungen von Lindgren oder Milne, Grahame, Wolkow oder Baum, Travers, Twain, Cooper oder Defoe, Dostojewski, Dijon oder Kafka verlaufen, wie wäre ich?
Wir alle müssen uns einlesen, werden für Autor*innen neue Übersetzer*innen, also neue Stimmen, gewonnen. Dies ist der Irritation über geänderte Synchronstimmen sehr ähnlich. Und wir alle profitieren immens von Kunstwerken, großartigen Texten aus anderen Sprachen und Kulturen. Übersetzungen helfen, unsere Blicke zu erweitern, in andere geniale Köpfe zu schauen und lassen uns zu verständnisvollen Weltbürgern werden. Allzu strenge Regeln dafür bergen zu viele neue Gefahren.
Nicht erst seit Gormans fabelhaften Poem greift auch die Frage um sich, ob Autor*innen selbst in der Lage seien, zu entscheiden, wer Texte übersetzen soll und kann. Sind diesbezüglich Verlage und ihre Lektor*innen die besseren, neutralen Entscheider*innen und wie eigentlich funktioniert zeitgemäßes Übersetzen / Übertragen? Egal, selbst Rezeptionen sind Übertragungen und letztlich Originale, im Grunde eigene, neue Kunstwerke, die neue Zusammenhänge sichtbar machen. Ein Lichtblick der Diskussion ist die Klarheit über den Wert von sprachlich-kulturellen Annäherungen und diesen hochsensiblen Vorgang. Die Empfindlichkeit des Themas und die notwendige Feinfühligkeit für Übertragungen, Inszenierungen, Ausstellungen und Darstellungen in der Öffentlichkeit zeigen, welch Kunstfertigkeit und Leidenschaft vonnöten ist, um dieser Tätigkeit nachzugehen und uns neue Erfahrungswelten sicht- und bewohnbar zu machen.
Deshalb möchte ich Wortkünstler*innen und Akteur*innen dieser feinsinnigen, sensiblen und allzu oft unsichtbaren Übertragungswelten ein eigenes Podium in Dresden geben. Ich möchte sie zu Wort kommen lassen und selbst fragen, nicht über sie, sondern mit ihnen sprechen, von ihren Erfahrungen und Kompetenzen hören und die interessierte Öffentlichkeit zum Diskurs einladen.
Ich möchte wissen, was sind mögliche Herangehensweisen, Notwendigkeiten, was ist zu tun, stößt ein*e Übersetzer*in auf unbekannte Idiome oder entdeckt diese gar nicht? Wie originalgetreu können Übertragungen wirklich sein und wie erforderlich ist die Übersetzung von Titeln…? Diese Fragen können wirklich nur miteinander be- und verhandelt werden.
Maike Beier wurde 1969 nahe Dresden geboren. Nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin studierte sie von 1991–1997 Buchhandel und Verlagswirtschaft in Leipzig, arbeitete dank eines Stipendiums der Carl-Duisberg Gesellschaft von 1995–1996 für New Star Books in Vancouver / Canada und absolvierte die Qualifikation zur Literaturpädagogin an der Akademie für kulturelle Bildung. 2010 gründete sie LiteraTOUR Sachsen, die Agentur für Leseförderung, mit der sie sich seither für Literatur, literarische Bildung und Vermittlung einsetzt. Sie leitete viele Jahre die Programmplanung des Meißner Literaturfestes, initiierte und organisiert Literatur FETZT! – Das Dresdner Kinderlesefest.