Nora Goldenbogen: »Seit ich weiß, dass du lebst« (Hentrich & Hentrich) und Durs Grünbein: »Der Komet« (Suhrkamp), Foto: Juliane Moschell
19.09.2024
Juliane Moschell

Unser Platz in der Welt

Literarische Annäherungen von Nora Goldenbogen und Durs Grünbein an die Dresdner Geschichte

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Erinnern ist Distanzvermessung. Ist die Distanz zum Erlebten zu groß, sehen wir unscharf. Sind wir zu nah, erkennen wir nur den Ausschnitt. Wann ist die beste Zeit, sich zu erinnern? Und wie kann Erinnerung an nachfolgende Generationen weitergegeben werden?

Eine Antwort versuchen zwei in Dresden geborene Autoren – die eine Jahrgang 1949, der andere 1962. Sie haben zuletzt Bücher veröffentlicht, in denen an die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern während der 1930er Jahre bis zum Kriegsende erinnert werden.

Nora Goldenbogen erzählt in Seit ich weiß, dass du lebst (2022) von der ersten Begegnung ihrer Eltern 1934, von deren Liebe, ihrer Heirat – er war Kommunist, sie Jüdin -, von deren abrupter, jahrelanger Trennung und vom überraschenden Wiederfinden nach Kriegsende.

In Durs Grünbeins 2023 erschienenem Buch Der Komet geht es um die Geschichte seiner Großmutter. Sie kam 1936, mit 16 Jahren, aus Schlesien nach Dresden, heiratete, gebar zwei Töchter, musste ihren Mann in den Krieg ziehen lassen und erlebte mit 25 Jahren die Zerstörung der Stadt .

Beide Bücher sind als Berichte angelegt. Sie versuchen, Einzelschicksale in einer politisch aufgeladenen Zeit auszuleuchten, um an ihnen beispielhaft menschliche Lebenswege in der Geschichte festzuhalten. Während die Historikerin Nora Goldenbogen die Biographien ihrer Eltern überwiegend chronologisch nachzeichnet, verwebt der Lyriker Durs Grünbein seine Protagonistin immer wieder neu in die geschilderte Lebenswelt. Das führt dazu, dass die Begegnungen der Großmutter mit Nachbarn mehrmals beschrieben werden, ebenso Alltagssituationen mit dem Ehemann, die Geburten der Kinder oder die die Stadt zerstörende Bombenangriffsnacht, die als Klammer Anfang und Ende des Buches bildet. So verlässt Grünbein den eigenen Anspruch, einen »sachlichen Bericht« verfassen zu wollen, und changiert zwischen Dokumentation, literarischer Fiktion, Analyse und Interpretation. Er entwirft einen Lebenslauf als Teil der Stadtgeschichte. Für geschichtsinteressierte Dresdner bietet er eine interessante Rundschau der Jahre zwischen 1936 und 1945 in der Landeshauptstadt. Was dabei im Hintergrund bleibt, ist die Beschreibung der Gedanken- und Gefühlswelt seiner Protagonistin, die eigentliche Annäherung an seine Großmutter.

Nora Goldenbogen hat sich dagegen vornehmlich mit Erinnerungen an ihre Eltern und mit deren Erinnerungen befasst, hat Briefe gelesen (und teilweise im Buch veröffentlicht), die Notizen und Dokumente ihres Vaters durchgearbeitet, Fakten recherchiert und historische Zusammenhänge aufgespürt. Sie war in Archiven, Gedenkstätten, Fotografie-Sammlungen und führte Gespräche mit Menschen in den jüdischen Gemeinden. Sie schreibt, sie habe lange gebraucht, um die Geschichte ihrer Eltern zu notieren: über 40 Jahre.

Bei Durs Grünbein ist es weniger offensichtlich, wieviel Zeit er in die Recherche zur Geschichte seiner Großmutter gesteckt hat. Den Leser beeindruckt hingegen sein tiefes Wissen zur Dresdner Stadtgeschichte. Der Autor erzeugt eine deutliche Distanz zwischen sich und der eigenen Familie, man erfährt kaum etwas über die Beziehung zwischen Großmutter und Enkel, kaum etwas über die Situationen des Erinnerns, Erzählens oder der Gespräche zwischen den Generationen.

Anders bei Nora Goldenbogen, die vor allem ihren Vater so aus der Nähe schildert – insbesondere durch das Aufarbeiten von dessen Notizen aus der Kriegszeit -, dass er zuweilen fein und detailliert vor dem inneren Auge erscheint. Wir erfahren vom unfassbaren Leiden im KZ Sachsenhausen, wir lesen von einem ungeheuren Überlebenskampf. Nach Kriegsende kehrt der Vater nach Dresden zurück, erblickt die zerstörte Stadt. Die Tochter wirft an dieser Stelle die Frage auf: »Was würde ihn dort erwarten?« Was hat er gedacht, gefühlt, gewusst, als er nach Dresden zurückkam? Sie schildert den Lebensweg nach dem Krieg, das Wiederfinden der Eheleute, den beruflichen Neustart und die kritische Befragung der Vergangenheit Anfang der 50er Jahre in der DDR. »Was Vater damals widerfuhr, das erlebten in jenen Jahren Tausende Frauen und Männer, die als Hitlergegner und überzeugte Kommunisten oder Sozialdemokraten in der Illegalität gekämpft hatten, in den Lagern überlebten oder aus dem Exil zurückgekehrt waren. Sie galten plötzlich als Gegner oder zumindest als nicht mehr vertrauenswürdig.« (Goldenbogen, Seit ich weiß, dass Du lebst, 2022, S. 137). Die historischen Hintergründe in der DDR-Geschichte beschreibt die Tochter anschließend. Sie lassen fragen, wie hält man ein solches Leben aus?

Durs Grünbein hingegen lässt die Schilderung des Nachkriegslebens seiner Großmutter in Dresden bewusst offen. Der Komet endet abrupt am Tag nach der Zerstörung der Stadt. Hier aber, in den letzten Seiten des Buches, wird eine Frau geschildert, die es schafft, scharlachkrank aus dem Hospital zu fliehen und sich stundenlang durch die brennende Stadt durchzuschlagen bis zur Rettung. Hier kommt man ihr sehr nahe, hier schildert der Enkel seine Großmutter und schafft es, ihre Erinnerungen zu erfassen, um sie in die Geschichte einzuschreiben.

Beide Autoren stellen den Leser vor die Aufgabe: Wie kann Erinnerung an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden? Und wie können sich Nachgeborene an das nicht Selbst-Erlebte erinnern? Erinnern ist Verlebendigung, Festhalten, Verstehen, letztlich Selbstvergewisserung und eine Änderung der eigenen Haltung. Die französische Autorin Annie Ernaux schreibt deshalb: »Bei den sich endlos in die Länge ziehenden Familienessen der Nachkriegszeit, inmitten von Gelächter und Zwischenrufen, ›das Leben ist kurz, lasst es uns genießen!‹ wiesen uns die Erinnerungen der anderen einen Platz in der Welt zu.« (Ernaux, Die Jahre, suhrkamp taschenbuch, 2023, S.34)

Die beiden Werke von Goldenbogen und Grünbein verdeutlichen die Vielschichtigkeit der Annäherung an die Geschichte durch die Arbeit mit persönlichen Erinnerungen. Die Distanzvermessung zwischen Autor, Figur und Leser, zwischen Kind und Vater oder Enkel und Großmutter, die Vermessung zwischen Gewesenem und Gegenwärtigem führt letztlich immer zu der Frage: Wo stehen wir selbst? Wo ist unser Platz in der Geschichte, in unserer Stadt und in unserer Gegenwart?