In einem einmaligen Projekt bringt die Dresdner Philharmonie am zum Gedenktag am 9. November 2025 Literatur und Musik zusammen. Grundlage für das Werk des Komponisten Jan Müller-Wieland ist der Roman Der Reisende des jüdischen Autors Ulrich Alexander Boschwitz aus dem Jahr 1938, dessen Wiederentdeckung 2018 als kleine literarische Sensation gefeiert wurde. Heute gilt er als eines der wichtigsten literarischen Zeugnisse der NS-Zeit. Der Komponist Jan Müller-Wieland hat dazu ein kraftvolles Melodram für Sprecher, Solisten, Chor, Orchester und Zuspielungen geschaffen.
Das Buch – eine beklemmende Wiederentdeckung
Deutschland im November 1938. Der jüdische Kaufmann Otto Silbermann, ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft, wird in Folge der Novemberpogrome aus seiner Wohnung vertrieben und um sein Geschäft gebracht. Mit einer Aktentasche voll Geld, das er vor den Häschern des Naziregimes retten konnte, reist er ziellos umher. Zunächst glaubt er noch, ins Ausland fliehen zu können. Sein Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, scheitert jedoch. Also nimmt er Zuflucht in der Reichsbahn, verbringt seine Tage in Zügen, auf Bahnsteigen, in Bahnhofsrestaurants. Er trifft auf Flüchtlinge und Nazis, auf gute wie auf schlechte Menschen.
Der Autor Ulrich Alexander Boschwitz, geboren 1915 in Berlin als Sohn eines jüdischen Vaters und einer protestantischen Mutter, schrieb Der Reisende im Jahr 1938 – im Alter von nur 23 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt war er selbst bereits auf der Flucht. Nach der Machtergreifung der Nazis musste er Deutschland verlassen, emigrierte zunächst nach Schweden, dann nach Norwegen. Weitere Stationen waren Luxemburg, wo er polizeilich ausgewiesen wurde, dann Belgien und schließlich England. Doch auch dort blieb ihm keine Sicherheit: Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Boschwitz – wie viele andere deutsche Exilanten – als »enemy alien« interniert und nach Australien deportiert. Auf der Rückreise nach England im Jahr 1942 wurde sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert und ging unter. Boschwitz starb im Alter von 27 Jahren.
Der Reisende erschien noch zu Lebzeiten Boschwitz’ in englischer und amerikanischer Übersetzung unter dem Pseudonym John Grane , auch eine französische Ausgabe wurde 1945 veröffentlicht. Doch die deutsche Fassung – die Sprache, in der der Roman ursprünglich geschrieben wurde – erschien erst 2018, über 80 Jahre nach seiner Entstehung. Möglich wurde das durch den beharrlichen Einsatz von Boschwitz’ Nichte Reuella Shachaf, die in Israel lebt. Drei Jahrzehnte hatte sie dafür gekämpft, dass das Werk ihres Onkels auch in seiner Heimat gewürdigt wird – lange vergeblich. Der Wendepunkt kam, als ein israelischer Literaturkritiker den Kontakt zum deutschen Verleger Peter Graf herstellte. Der Reisende wurde zu einer literarischen Sensation, in über 20 Sprachen übersetzt, gefeiert von Kritik und Publikum gleichermaßen.
Der Reisende als Musikdrama
Ausgangspunkt der Musik ist ein dissonanter Orchester-Urklang – ein akustischer Rammbock – der den Übergriff auf Silbermanns Wohnung symbolisiert. Das Orchester übernimmt eine zentrale dramaturgische Rolle, weit über bloße Illustration hinaus. Ein kaum hörbares Leitmotiv aus »Berliner Luft« dient als musikalischer Nukleus, eine Art innerer Zündfunke.
Vier Hauptfiguren strukturieren das Musikdrama: Herr und Frau Silbermann treten als Sprecherpaar auf, sie verweigern bewusst jede musikalische Teilnahme. Ihre Form der Rezitation stellt sich gegen die Musik, die hier auch als Symbol für nationalsozialistische Manipulation steht. Nur ihr Sohn Eduard darf singen – als Tenor steht er für eine utopische, aber naive Distanz aus dem Exil in Paris. Der Bariton-Charakter Becker ist zum doppelten Gegenspieler verschmolzen.
Der Chor übernimmt vielfältige Rollen: als attisches Echo, teuflische Masse oder surrealer Kommentar. In der Musik werden Gegenstände zum Gesang gebracht, Träume zur Realität. Besonders stark ist die Idee, dass selbst ein Visum – ein Dokument – musikalisch handeln kann. So führt der Chor die Handlung zur finalen Eskalation: der Verhaftung des Protagonisten in einem wahnsinnig gewordenen System, wie es Boschwitz in seinem Roman visionär vorwegnahm.
Zum Komponisten
Jan Müller‑Wieland wurde am 30. März 1966 in Hamburg geboren und studierte Komposition, Kontrabass und Dirigieren in Lübeck sowie bei Hans Werner Henze in Köln/Rom und bei Oliver Knussen am Tanglewood Music Center. Er war Stipendiat u. a. der Villa Massimo in Rom und der Cité des Arts in Paris sowie Composer in Residence beim Menuhin‑Festival Gstaad, Beaux Arts Trio und Tschaikowsky‑Orchester Moskau. Seit 2007 ist er Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater München. Er hat über 130 Werke geschaffen, darunter rund 15 abendfüllende Musiktheaterstücke, vier Sinfonien, zahlreiche Kammermusik‑ und Vokalwerke. Für sein Schaffen erhielt er u. a. den Ernst‑von‑Siemens‑Förderpreis und den Hindemith‑Preis des Schleswig‑Holstein Musikfestivals.