Ein Freund stirbt bei einem Flugzeugabsturz. Eine Frau geht auf einem Kreuzfahrtschiff über Bord. Ein Therapeut fühlt sich schuldig, weil sein Patient einen Treppensturz nicht übersteht. Ein Mann schikaniert Familie und Firma und wird von einem Lkw überrollt, als er einem Radfahrer hilft. Ein Parkinson-Kranker öffnet sich die Pulsadern im Hotel. Die Reihe lässt sich fortsetzen mit Beispielen aus der Vorzeit. Da liegen in einem römischen Viertel nach einem rituellen Duell sieben Männer in ihrem Blut. In der NS-Zeit wird der Vater eines gefallenen Soldaten hingerichtet wegen kritischer Äußerung.
Ob Mord, Unfall, Suizid oder Schicksal – der Tod ist immer dabei in den Geschichten, die Ferdinand von Schirach in seinem neuen Band versammelt. Ein kriminelles Motiv gibt es selten. Die Figuren sind real wie der Dichter Egon Friedell, der 1938 in Wien aus dem Fenster sprang, oder erfunden. Und nicht alle nehmen das Sterben so gelassen wie die 83-jährige krebskranke Freundin des Ich-Erzählers, die sagt: »Wenn man verzweifelt ist, stirbt man. Wenn man nicht verzweifelt ist, stirbt man auch. Besser also, man ist nicht verzweifelt.« Ganz ähnlich heißt es in einem Bonmot von Kurt Tucholsky über das Deutschsein.
Ferdinand von Schirach streut gern Spruchweisheiten in seine Texte. Mal spielt er den Philosophen alter Schule, der seinen Schülern die Welt erklärt, und zwar so, dass es wirklich alle verstehen. Mal gibt er den wehmütigen Intellektuellen, der freihändig Marcel Proust zitiert und in Gründerzeitvillen diniert. Die Grenze zwischen Ich-Erzähler und Autor wirkt ziemlich durchlässig. »Ich bin Schriftsteller, ich erzähle nur Geschichten«, heißt es bescheiden in der Titelstory Der stille Freund. In den Werbefotos zur Buch-Tournee präsentiert sich der Vortragskünstler mit Smoking und Fliege vor samtschwarzem Hintergrund. Er geht nur noch in die größten Säle des Landes. Im Herbst 2026 tritt er im Dresdner Kulturpalast auf.
Vielleicht liest er Spiegelstrafe, den besten Text des neuen Buches. Hauptfigur ist eine Frau namens Cynthia. Sie wurde von ihrem Mann Mateo so gedemütigt und gequält, dass sie noch Jahre später darunter leidet. Ihr neuer Freund rächt sie. Er vernichtet nicht nur die Firma und die Existenz von Mateo, sondern treibt ihn durch die Scheinamputation eines Arms in den Wahnsinn. Der Vorgang wird über acht Seiten hinweg mit medizinischer Präzision beschrieben. Ein doppelgrusliger Fall von Selbstjustiz. Cynthia ist auch sonst eine schillernde Person mit vierfacher Perlenkette und Oxford-Abschluss, einem Job beim Internationalen Währungsfonds und adligem Stammbaum. Die Großeltern, verarmte Fürsten, achten auf Stil und Anstand und scheuen im Unterschied zur neureichen High Society das Licht der Öffentlichkeit. Die noble Zurückhaltung der Ahnen ist dem Ich-Erzähler sympathisch.
Der Autor selbst, Enkel von NS-Reichsjugendführer Baldur von Schirach, distanziert sich von seiner Familie. Als er in einer TV-Talkshow zu Israel und Palästina befragt wird, meint er: »Jemandem mit meinem Nachnamen steht in den nächsten fünfhundert Jahren nicht zu, irgendetwas dazu zu sagen.« Im Buch ergreift er mit einem Polit-Essay eindeutig Partei. Ausführlich schildert er die Gräueltaten der Hamas-Terroristen vor zwei Jahren in Israel. Doch kein Wort zu den Reaktionen, zu Zehntausenden toten Zivilisten in Gaza. Die Kritik des 61-jährigen Autors gilt nur den sozialen Medien. Sie würden Opfer zu Tätern machen und umgekehrt. »Wahrheit ist heute nur noch eine Meinung – und man darf ja wohl auch anderer Meinung sein.«
Es ist nicht das einzige Mal, dass Ferdinand von Schirach ins Moralisieren gerät. Das bekommt der Literatur nie. Dass die Geschichten trotzdem wirken, erklärt sich mit einem Widerspruch: Ungeheuerliches wird ganz lakonisch und kühl beschrieben. Es ist in jedem Fall besser, wenn nicht der Autor, sondern die Leserschaft Schnappatmung kriegt.
Ferdinand von Schirach: Der stille Freund. Luchterhand, 171 Seiten, 22 Euro
Lesung am 19. Oktober 2026, 20 Uhr, Kulturpalast Dresden