Kurt Drawert, Dresden. Die zweite Zeit
23.10.2020
Annett Groh

Wenn sich Vergangenheit und Gegenwart übereinanderlegen

Zu »Dresden. Die zweite Zeit« von Kurt Drawert

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Eigentlich führt der Titel auf eine falsche Fährte. Dresden. Die zweite Zeit ist kein Buch »über Dresden«. Es ist ein Buch über Kurt Drawert, der – in Dresden aufgewachsen – 2018 als Stadtschreiber in diese Stadt zurückkehrt. Was ist es also, was ihm hier begegnet, ihn bedrängt und umtreibt? Wie wird Dresden in diesem Buch erzählt?

Es ist eine Rückkehr an den Ort, an dem er sich schon 1992 in seinem Roman Spiegelland abgearbeitet hat. Nun beschwört der Autor sich selbst: »Schreib deine Gefühle auf. Schreib auf, was du empfindest, wenn du in Dresden die alten Straßen entlanggehst, die Orte wiederfindest, die dir einmal wichtige Orte waren«, und während er die Orte umkreist, verbinden sich Vergangenheit und Gegenwart miteinander.

Fast dreißig Jahre sind seit Spiegelland vergangen, das eine zornige Abrechnung mit seinem hartherzigen Vater und dem Großvater war – Drawerts »Vatermord«. So, wie sich dort der »antifaschistische« Großvater bei einer Durchsicht alter Fotos als normaler Mitläufer im Dritten Reich entpuppt hatte, so beschreibt Drawert nun, wie sein Vater – ehemals linientreuer DDR-Polizeioffizier – nach der Wende zum Anhänger der Sudetendeutschen Vertriebenenverbände wird.

Es scheint diese schwerelose Anpassungsfähigkeit zu sein, die Drawert – auch an seinen Zeitgenossen – so sehr abstößt. Zu der Debatte um Ungerechtigkeiten der Nachwendezeit schreibt er: »Diesen Ungerechtigkeiten […] stehen so viele Ungerechtigkeiten gegenüber, die vor neunundachtzig liegen, dass es mir schwerfällt, das eine gegen das andere auf- oder abzuwerten und ins Verhältnis zu setzen. […] Wo waren sie, die nach der Wende so schwer enttäuscht und gekränkt worden sind […] vor dem Kollaps der D.D.R.?«

Im Buch zeigt sich Drawert in seinen Selbstwidersprüchen: leidend und vorwurfsvoll, die erzählerische Entfaltung von Schmerz und Klage bis ins Übermaß treibend, zugleich aber voller Selbstironie und leisem Humor. Über Dresden schreibt er: »Dresden ist eine zerrissene Stadt. Zerrissen zwischen links und rechts, arm und reich, Kunst und Kitsch, hohem Anspruch und Gewöhnlichkeit, eine Stadt im Konflikt mit der Welt, am meisten aber mit sich selbst. Mehr als irgendwo sonst ist die Vergangenheit keine Vergangenheit und die Zukunft auch keine Zukunft, es ist, als sprechen die Toten aller Zeiten mit den Lebenden dieser Zeit. Alles antwortet auf alles, jeder auf jeden, die Stimmung der Leute ist ein explosives Gemisch, das sich sofort und jederzeit entzünden kann, wenn ein falsches Wort in den Satzbau fällt wie eine Bombe im Krieg.«

Wie eine Folie schiebt sich das Damals auch bei Drawert immer wieder über das Heute. In den kreiselnden Erinnerungen an Kindheit und Jugend leben gemachte Fehler und erlittene Ungerechtigkeiten wieder auf, stehen ihm vielleicht sogar deutlicher vor Augen als gegenwärtige Phänomene. Und so kommt er zu der Erkenntnis: »Dresden kann für mich keine Stadt sein, sie ist ein familiärer Topos, ein Kraftfeld der Zeiten und Ereignisse, ein System der Kränkung und der Enttäuschung, wie es mich in jungen Jahren bis zu meinem Weggang nach Leipzig und von dort in den Westen begleitet hat; und diese Maschine arbeitet, sobald ich die Fabrik betrete, in der sie noch immer steht. Ich bin es, der Dresden nicht zulässt, die Bilder sind es, die sich hinter den Bildern der Gegenwart öffnen und durch die hindurch sich jedes Erlebnis verfärbt.«

Es ist ein konsequent subjektiviertes Erzählen, das Drawerts neuerliche Annäherung an den Ort bestimmt. Die notierten Eindrücke, die Notizen, Reflexionen und Beobachtungen gleichen vielen kleinen Steinen – wie ein Mosaik, das seine Bruchkanten sichtbar lässt und dazu einlädt, den Zwischenräumen nachzuspüren, die im Bild gelassen sind.

Kurt Drawert: Dresden. Die zweite Zeit. C.H. Beck 2020. 294 Seiten, 22 Euro.