Autorenfoto María Cecilia Barbetta, Bild von Marcus Höhn
12.06.2020
Axel Helbig

Wer liest, muss aufmerksam sein und bleiben

Ein Gespräch mit María Cecilia Barbetta

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Am 17. Juni 2020 ist die argentinische Autorin María Cecilia Barbetta im Dresdner Stadtmuseum zu Gast. Sie liest aus ihrem Roman Nachtleuchten, für den sie mit dem Chamisso-Preis/Hellerau 2018 ausgezeichnet wurde. María Cecilia Barbetta wuchs auf in dem Einwandererviertel Ballester, in dem ihr Roman Nachtleuchten spielt, und besuchte dort die deutsche Schule. 1996 zog sie nach Berlin und blieb. Ihr erster Roman Änderungsschneiderei Los Milagros (2008) wurde unter anderem mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. María Cecilia Barbetta schreibt auf Deutsch. Axel Helbig, Redakteur der Literaturzeitschrift Ostragehege, hat mit der Autorin gesprochen.

Axel Helbig: Liebe María Cecilia Barbetta, ehe wir über Ihren Roman Nachtleuchten sprechen, möchte ich Sie gern fragen, wie die Literatur in Ihr Leben gekommen ist. Welche Rolle haben Bücher in Ihrer Kindheit und Jugend gespielt?

María Cecilia Barbetta: Die allerersten wichtigen Bücher, die ich in Händen hielt, standen nebeneinander aufgereiht auf einem Regalbrett bei meinen Großeltern im ehemaligen Kinder- und Jugendzimmer meiner Mutter. Das erste, an das ich mein Herz verlor – in diesem Zimmer, das seit dem Auszug meiner Mutter die Dinge bewohnten –, war eine stark lädierte Adaption der Märchen von Charles Perrault und der Gebrüder Grimm, in dem der Fließtext eine Art Vignette war, das Ornament der ganzseitigen Farbillustrationen. Die restlichen Bände zählten allesamt zu einer Jugendreihe namens Robin Hood. Vom mattgelben Cover abgesehen war ihnen die stattliche Breite von drei Fingern gemeinsam, eine Maßeinheit, die mich äußerst beeindruckte. Der hohe Respekt, den ich gegenüber diesen mir zugedachten Erbstücken empfand, war zugleich eine Schwelle, die mich nicht über das bedachtsame Durchblättern kommen ließ, bis mir das Schicksal eines Tages unter die Arme griff: Wir hatten gerade Schulpause. Ich lief, immer wieder »Cecilia« laut rufend, den Schulhof ab, auf der Suche nach meiner besten Freundin, die mit mir nicht nur die Bank, sondern auch den Vornamen teilte. Ich fand sie schließlich in einer abgeschirmten Ecke des Hofes abseits des Kinderlärms in einen der gelben Wälzer aus der Robin-Hood-Reihe vertieft. Als ich mich zu ihr hinhockte, verriet sie, als wäre es das Natürlichste der Welt, sie habe den Roman am Vortag angefangen und nun fast ausgelesen. Meine Enttäuschung grenzte fast an Weltschmerz, als ein Blick auf die Coverillustration mir offenlegte, dass es diesen einen Titel bei uns nicht gab. Zu Hause schwärmte ich nach wie vor von Cecilia, die aber jetzt zur Lesenden wurde. Bereits im frühen Alter spürte ich, dass Worte in der Lage sind, Wirklichkeit zu erschaffen. Bei der nächsten Gelegenheit – einem Weihnachten, einem Geburtstag, einem Namenstag – bekam ich das Buch meiner Namensvetterin geschenkt und verschlang es genauso schnell wie sie. Damit war wie im Märchen, einer Vorstellungswelt, die Cecilia und ich gerade erst transzendiert hatten, der Bann gebrochen. Es folgten alle anderen Bücher meiner Mutter, die inzwischen in einem verschlossenen Karton in Buenos Aires unserer aller Vergänglichkeit trotzen.

Aus europäischer Sicht denkt man im Falle der argentinischen Literatur zunächst an die Giganten Jorge Luis Borges, Ernesto Sábato und Julio Cortázar. Sind es wirklich diese Autoren, die Sie als junge Autorin geleitet haben, oder sind da noch andere, in Europa möglicherweise erst noch zu entdeckende argentinische Autoren zu nennen?

Autorin wurde ich strenggenommen erst im Jahr 2005, als ich anfing, an einer Erzählung zu arbeiten, die schließlich der Roman Änderungsschneiderei Los Milagros wurde. So jung war diese Autorin also nicht, wenn man sich die heutige Debütantinnen- und Debütantenszene anschaut. Die Leserin war jung, denn ich habe immer schon gern gelesen. Die Leserin wusste bis 2005 nicht, dass der Moment kommen würde, in dem sie selbst versuchen würde, ein Buch zu schreiben. So war das Lesen von Anfang an losgelöst von didaktischen Absichten oder selbstauferlegten Bildungsaufträgen auf ein zukünftiges Ich. Mit Ausnahme der Promotion war das Lesen in meinem Fall nie ein professionelles, nie Mittel zum Zweck. Es war geleitet durch Neugier und Lust. Ich sehe mich vor allem in Argentinien lesen, in den langen, dreimonatigen Sommerferien. In erster Linie ging es tatsächlich um die heilige Triade, die Ihnen in den Sinn kommt. Dazu gesellten sich mit ähnlicher Dringlichkeit Manuel Puig und Marco Denevi, zuweilen auch Alejo Carpentier. Die Entdeckung Marco Denevis hat mir damals den Atem verschlagen. Ich glaube, hier kennt ihn keiner.

Hat Ihr Besuch einer deutschen Schule in Buenos Aires dazu geführt, dass auch die deutsche Literatur Sie zeitig begeistert und gegebenenfalls auch beeinflusst hat?

Oh, nein. Diese Begeisterung, von der Sie sprechen, wollte von mir leider hart erkämpft werden. Ich musste sie mir regelrecht erarbeiten, die Begeisterung, denn meine Kenntnisse der deutschen Sprache waren lange Zeit nicht ausreichend, um über die Länge einer Kurzgeschichte oder einer Erzählung hinauszukommen. Mit genau dieser Textsorte beschäftigten wir uns fast ausschließlich in der deutsch-argentinischen Schule, denn in diesem Kontext ging es weniger um Literatur um der Literatur willen als vielmehr darum, das deutsche Sprachdiplom zu meistern. Dafür mussten Bertolt Brecht oder Wolfgang Borchert herhalten. Franz Kafkas Miniaturen wiederum wären von der Länge her geeignet gewesen, aber dennoch zu schwer. Kafka las ich erst zusammen mit Goethe, Schiller, Kleist und anderen im Rahmen meiner Lehrerausbildung für Deutsch als Fremdsprache. Die Begeisterung wuchs, nachdem ich nicht immerzu gezwungen war, die Lektüre durch das Konsultieren des Wörterbuches zu unterbrechen.

Ihr Roman Nachtleuchten beschreibt das Leben im Stadtteil Ballester von Buenos Aires in den Jahren 1974 /1975, am Vorabend der Militärdiktatur (1976 –1983). Warum musste dieser Roman in Ballester handeln, warum in dieser Zeit? Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Zeit der Militärdiktatur?

Als Argentinien 2010 Gastland der Frankfurter Buchmesse war, hatte ich den Eindruck, dass die zur Übersetzung ausgewählten Romane den Vorabend der Militärdiktatur ausklammerten, um sich umso emphatischer mit den Jahren 1976 –1983 zu befassen. Die Bücher, die die Militärdiktatur zum Thema machten, rückten, so meine Einschätzung, zumeist die großen Akteure ins Blickfeld, entweder die Helden des Widerstands oder ihre Mörder. Das ist nachvollziehbar, deckte sich aber nicht mit meiner persönlichen Erfahrung. In meinem unmittelbaren Umfeld gab es weder die einen noch die anderen, aber auch so hatten die Menschen, die ich kannte, diese Zeit erlebt und erlitten. Ich zögerte trotzdem lange, das Buch genau in dieser Periode anzusiedeln, bis ich mir meiner Aufgabe sicher war, nämlich genau aus diesem Blickwinkel zu erzählen, aus der Perspektive derjenigen, die damals indirekt mit den Auswirkungen des Terrors konfrontiert worden waren und die trotzdem ihr Leben in dieser extrem schwierigen Zeitspanne zu bewältigen versucht hatten, ohne ihre Ideale zu verraten ; ich gestand mir also zu, von einem eher unspektakulären Standpunkt aus zu erzählen, der seiner Alltäglichkeit wegen irritieren mag, da sich daraus weniger pompös über Heldenmut oder Schuld diskutieren lässt. Ich habe eine Perspektive gewählt, die, weil sie leise ist, dazu einlädt, über Verantwortung und verpasste Chancen, bzw. über die Grenzen dieser Verantwortung, nachzudenken. Dieser Blickwinkel ist insofern raumgreifend, als er die Mehrheit der argentinischen Bevölkerung tangiert. Von diesem Standpunkt aus geht es weniger um die eine große Erinnerung an die Militärdiktatur, weniger um den Einschnitt in der eigenen Biographie, sondern um ein Gefühl für diese Zeit. Im Vergleich zu einer Anekdote oder einem punktuellen Familienereignis ist ein Gefühl weniger greifbar, da es sich verändert. Das war die Herausforderung : Es galt für mich, mithilfe meiner erfundenen Figuren dieses Gefühl so plastisch wie möglich nachvollziehbar werden zu lassen. Dieses Gefühl ist der Nährboden von Nachtleuchten, es ist ein Gefühl, das die Figuren womöglich ein Leben lang begleiten wird, denn Gefühle wissen nichts von historischen Zäsuren wie dem Jahr 1983, womit in Argentinien die Wiedereinführung der Demokratie eingeläutet wird. Verortet ist dieses Gefühl, wie Sie sagen, in Ballester, denn dort bekomme ich es am prägnantesten zu fassen. Ballester ist eine Chiffre. Sie steht in meinem Fall für Buenos Aires oder Argentinien, den Ort maximaler Intensität, den ich als Autorin mithilfe der Erinnerung sprechen lasse, wenn es darum geht, eine Fiktion zu verankern, in der Hoffnung, sie möge aufgehen. Damit sie sich entwickeln kann, braucht eine Fiktion einen hohen Grad an Schwingung. Diese Stärke, diese Frequenz, an der ich schreibend andocke, gibt es immerzu an dem Ort, an dem sich die eigene Kindheit abgespielt hat. Ballester ist somit reiner Zufall. Gleichwohl ist er der Urquell meiner Gefühle, das Reservoir für alles höchst Widersprüchliche, aus dem ich schöpfen kann, um eine Geschichte zu erfinden, die sich nur dann bewährt, wenn sie weit über das Vertraute und anekdotisch Biographische hinausragt. Sobald Ballester aufhört, Ballester zu sein, bin ich auf der richtigen Fährte.

Im Gegensatz zu Julio Cortázar, der in Paris an der spanischen Sprache festgehalten hat, schreiben Sie Ihre Bücher über argentinische Themen in deutscher Sprache. Was kann die deutsche Sprache, dass Sie dieser den Vorzug geben?

Die Fremdsprache transportiert die Erfahrung einer zweiten Kultur. Hiermit möchte ich das Augenmerk nicht auf die Transferleistung lenken, sondern auf ihre Folgen, auf die Chance, die solch eine Transferleistung mit sich bringt, auf die Möglichkeit, dass eine zweite Kultur die erste reicher macht und dass sie sich beide gegenseitig befruchten. Ein Beispiel aus dem Roman, welches das viel zitierte Wortspiel AUSFAHRT FREIHALTEN / FREIHEIT AUSHALTEN variiert: Vor der Männerpension Nayla hängt ein Schild, das der Leser erst am Ende des Romans zu sehen bekommt, nachdem dort nämlich der erste Buchstabe, der zugleich der letzte des Alphabets ist, abhanden gekommen ist, so dass nach der Auslassung nur noch geschrieben steht: IMMER FREI. Auch dieses Wortspiel funktioniert ausschließlich auf Deutsch. Was mich betrifft, ist dieses Gefühl, das hier gleich zwei Mal hintereinander benannt wird, unmittelbar mit dem Gebrauch der Fremdsprache als meiner literarischen Sprache verbunden.

Lassen Sie uns über eine interessante und für mich zugleich mysteriöse Feststellung von Ihnen sprechen. Sie sagen in einem Essay: »Fremdsprachler sind die letzten Romantiker.« Wie darf man das verstehen?

Im Kontext muss man sie verstehen, dann ist die Ironie klar. Wie Sie ja wissen, beinhaltet die Ironie einen Wahrheitskern. Der Text, aus dem der Satz entnommen wurde, erzählt unter anderem von meinen unermüdlichen Versuchen, mir die deutsche Sprache so anzueignen, dass die Grenze zwischen Fremdsprache und Muttersprache verschwinden möge. In der Vergangenheit war ich felsenfest davon überzeugt, dass mir dieses Wunder irgendwann zuteil werden würde, strengte ich mich dafür nur noch mehr an, was ich ohnehin tat: Ich machte ja nichts anderes, als mich zu verausgaben. Doch das Leben belehrte mich eines Besseren. Ich musste kapitulieren, mir irgendwann eingestehen, dass ich diese eine Grenze nie zum Verschwinden würde bringen können. Stattdessen lernte ich sie wahr- und anzunehmen. Das war vermutlich die Voraussetzung, um sie im Jahr 2005 mit geschärftem Bewusstsein zu passieren. Es darf Sie nicht länger überraschen, wenn ich Ihnen an dieser Stelle verrate, dass ich 33 Jahre alt war, als ich anfing, an der Änderungsschneiderei Los Milagros zu arbeiten. Dieser Zufall wurde mir deutlich, nicht bevor das 33. Kapitel und somit mein Debüt abgeschlossen waren.

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Auszug. Das vollständige Interview finden Sie im OSTRAGEHEGE. Zeitschrift für Literatur und Kunst, Heft 94, IV/2019 (nur Print).