Grausiges Mitternachtsschweigen und Gedankenzinnober im Oberstübchen – zwischen beiden Polen bewegt sich der Dichter. Die Zunge ist ein Blindenführer. So heißt das neue Buch von Peter Gehrisch, 1943 in Dresden geboren und heute meist zu Hause in der Heimat seiner polnischen Frau. Das Buch bestätigt, was der Verleger Gerhard Wolf schon dem Erstling bescheinigte: Wie selbstverständlich bringt der Autor Wort-Wunde und Wort-Wunder in eins. Das Debüt erschien 1993. Gehrisch drängte es nicht wie manche andere in der Pubertät zur Lyrik. Er sei spät dran gewesen, erklärte er dieser Tage bei der Buchpremiere in der Dresdner Galerie K. Aber es habe sich sehr viel angestaut, »das musste raus«, das Gelesene wie das Gelebte. Der Dichter Wulf Kirsten habe ihn auf diesem Weg begleitet.
Seitdem sind einige Lyrikbände von Peter Gehrisch erschienen, zwei autobiografisch gefärbte Schelmenromane und andere Prosa, Nachdichtungen aus dem Polnischen. Doch ganz gleich, in welchem Genre der Autor unterwegs ist: Das katastrophische Ereignis der Kindheit schwingt mit. Gehrisch war drei Jahre alt, als er das Inferno von Dresden erlebte, die seelische und reale Trümmerlandschaft danach. Auch einige Gedichte des neuen Bandes tragen das Vergangene weiter: »Und aus der Tiefe glotzt dir die Totenfratze aus finsteren Jahren entgegen.« Erinnert wird an das gestürzte Luther-Denkmal neben der Frauenkirche und an die Schafe, die später dort weideten. Care-Pakete füllten den »Fressnapf der Zeit«. Die Geschichte habe ihm ihr Dasein ins Ohr gebrüllt, heißt es.
Da blieb nur die Flucht. Sie führte in literarische Abenteuer. Peter Gehrisch nahm viele Begleiter mit auf die Reise. Mehr als zwei Jahrzehnte lang unterrichtete er an der Dresdner Volkshochschule und am Abendgymnasium. Manche seiner Schüler*innen erinnern sich heute noch, wie er mit ihnen in Berlin das Haus von Johannes Bobrowski besuchte und sie mit hineinnahm in den Kosmos des Dichters. Wer schreibt, knüpft bei anderen an, greift Fäden auf und spinnt sie fort. Im neuen Buch treten Novalis, Cervantes und Jorge Borges auf, gibt es Bezüge zu Gemälden und Filmen, zur griechischen Mythologie und zur Bibel.
Bei der Buchpremiere erzählt Gehrisch vom Religionsunterricht in einer Baracke am Dresdner Stadtrand. Der Pfarrer habe mit Tränen in den Augen vom Turmbau zu Babel gesprochen, Symbol für den Hochmut der Menschen. Ihre Sprachen verwirrt ein strafender Gott. Mehrfach kehrt das Motiv in den Gedichten von Gehrisch wieder. »Die Zunge berührt nur die Rätsel des Daseins.« Gespräche sind nicht mehr möglich. Die Kommunikation droht zu scheitern. Die Moderne reagiert mit »Smartphone-Hypnose«: »Kurzweil für Knechte«. Der Autor nennt die Künstliche Intelligenz die »Große Gottheit des Wahns«. Um ihr seine Texte zu entziehen, würde er künftig notfalls mit der Hand schreiben, sagt er.
Es steckt einige Verzweiflung in den Gedichten. Irrsinn und Wahnsinn, Ödnis und Leere, Täuschung und Trug sind Schlüsselwörter. Von Blindheit und Absturz ist mehrfach die Rede. Geisterfahrer der Meere hoffen auf den Stillstand im Tod. Es könne schon sein, sagt Gehrisch, dass in den neuen Texten manches düsterer klinge. Das bringe die Zeit mit sich. Doch zugleich staune er immer wieder über die Wunder der Welt, das Unbegreifliche und Unerklärbare. Er fühle sich der Natur ganz unmittelbar verbunden. Sie sei ihm Trost. Seine Lyrik spricht von rettendem Grün, linderndem Laubdach, Zitter- und Zausgras.
Und sie kennt auch das Komische. Dann reimt der Autor Befehlsempfänger auf Botengänger, Hofmusikanten auf Neugiertanten und den Wahlspruch der Zeit auf: Immer bereit. Es scheint fast so, als tauge der klassische Reim für Spott, Ironie und Groteske besonders. Mit seiner wandelbaren, bilderreichen und emotional aufgeladenen Sprache sucht Peter Gehrisch den Absurditäten der Gegenwart beizukommen.
Peter Gehrisch: Die Zunge ist ein Blindenführer. Pop Verlag, 92 Seiten, 15,50 Euro