Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …
»Die Literatur ist ein Versuch, das Leben wirklich werden zu lassen« (Fernando Pessoa)
Die Einladung, eine eigene Lesebiografie zu schreiben, erscheint mir beinahe wie ein musealer Arbeitsauftrag – und wie eine Umkehrung des Lesens. Nicht die Bücher stellen über Räume und Zeiten hinweg Nähe durch Distanz her, nun muss die Leserin die Nähe suchende Rückreise antreten zu Textbegegnungen, die in anderen Wahrnehmungsräumen stattgefunden haben. Ist es nicht eigentlich das Amt der Literatur, neues Licht auf alte Wirklichkeitswahrnehmungen zu werfen? Stattdessen betritt die Lese-Autobiografin ihre eigene Fiktion. Plötzlich erscheint ein Leben (mit Büchern) vor ihr, das nicht nur von dem erzählt, was angeblich war, sondern auch von dem, was hätte gewesen sein können; und von dem, wovon noch immer geträumt wird. Ein ziemlich intimes Portrait seiner selbst hat man da abzugeben, das weder fertig noch fassbar ist. Bin ich eine zuverlässige Leserin?, fragt man sich beklommen. War ich achtungsvoll genug im Erlebnisraum der Literatur? Was wurde übersehen, umgedeutet, zu Unrecht geliebt oder schnöde vergessen?
»Das intensive Buch ist das richtige«, sagt Kurt Tucholsky. »Das Buch, dessen Autor dem Leser sofort ein Lasso um den Hals wirft, ihn zerrt und nicht mehr loslässt – bis zum Ende nicht, lies oder stirb! Dann liest man lieber.« Diese Intensität kenne ich gut – aber was soll man davon halten, wenn es sich dabei um ein Gefühl auf Zeit handelt?
Ezra Pound vertrat die Ansicht, es wäre nicht einzusehen, weshalb derselbe Mensch mit achtzehn und mit achtundvierzig dieselben Bücher schätzen sollte. Erstaunlicher- oder auch nicht erstaunlicherweise blickt fast jeder und jede mit Milde und Entzücken auf die Lektüren der Kindheit. Bei der Verteidigung des jugendlichen Literaturgeschmacks gerät die Standhaftigkeit zuweilen ins Wanken. Dankenswerterweise bin ich mit Bilderbüchern, Gedichten, Liedern und Märchen aus verschiedenen Ländern aufgewachsen. Sprachklänge, Musik, Bilder, fantastische Geschichten, Kindertheater und Bücherkisten gehörten in unsere heimische Spielwelt. Im frühen Lesealter waren es Figuren wie Jim Knopf und seine Freunde oder Munro Leafs Stier Ferdinand, die in meinem Kindergemüt Neigungen, Sehnsüchte, energische Gefühle und gedankliche Suchbewegungen formten. Auch Otfried Preußlers Krabat hat meine mobile Kernbibliothek nie verlassen. Die unbefangene Liebe zu dieser Lektüre wurde später angereichert mit dem Wissen um ihre literarische und zeitgeschichtliche Einordnung. Sehr beeindruckend, wie viel deutsche Geschichte und gesellschaftlicher Wandel in diesen Kinderbüchern stecken! Vergleichbares kann ich über Max Frischs Andorra sagen – ein Text, der mein bis dahin unreflektiertes Vertrauen in Mensch und Gesellschaft an der Schwelle zur Pubertät ziemlich erschüttert hat. Die ausgedehnte Hesse-Phase der Adoleszenz bleibt hier ausklammert; die (Neu)Erweckung als empathische Leserin begann Anfang der 80er Jahre mit Helga M. Novaks autobiografischem Prosaband Die Eisheiligen – auch das eine aufrüttelnde literarische Begleitung, die ich empfehlen kann. Nicht zuletzt biografische Kontexte, Auslandsreisen und persönliche Begegnungen, später die Wahl der Studienfächer, trugen dazu bei, dass die Formen- und Sprachenvielfalt in meinem Leserinnenleben ebenso zunahm wie die Mengen und Tempi. Nicht jedem Buch widerfährt dabei die Behandlung, die seinem Wesen angemessen wäre. Henry Thoreaus Diktum, Bücher müssten mit ebenso viel Überlegung und Zurückhaltung gelesen werden, wie sie geschrieben wurden, blieb zuweilen unbeherzigt. Leider zähle ich nicht zu den expliziten Gedächtnistypen, die Gelesenes und Gehörtes in ihrer Erinnerung bewahren und, ebenso bewusst wie unfragmentiert, weiterverwenden können.
Die Leser-DNA, die ich eher zu besitzen scheine, hat der Dichter Giorgos Seferis folgendermaßen beschrieben: »Die Bücher, die wir lesen, verwirren sich in unserem Inneren. Manchmal denke ich daran, aus allen Büchern, die ich gelesen habe, ein einziges zu machen. Ich würde ihre Seiten zerreißen; würde sie mit der Schere in kleine Schnipsel schneiden, diese dann in einen Korb werfen, gut mischen, und zum Schluß nähme ich sie einzeln heraus und schriebe sie ab.«
Dieses implizite Erinnern und das gleichsam organische Verhältnis zur Literatur erschweren es umso mehr, eine Auswahl von nur 6 Büchern zu treffen, mit denen repräsentative Fragmente der eigenen Biografie abgebildet und Literaturempfehlungen gegeben werden sollen, die überzeitliche Aussagekraft besitzen und von unterschiedlichen Lesergenerationen neu kontextualisiert werden können.
Die nun folgende Zusammenstellung ist nur eine von vielen möglichen. Andere wurden zuvor angedacht, überprüft und wieder verworfen. Die meisten müssen unversucht bleiben.
Ein Spiel von Spiegeln – Katalanische Lyrik des 20. Jahrhunderts (Mit 7 Farbzeichnungen und Collagen von Antoni Tàpies).
Ich beginne mit zwei Büchern, die zu anderssprachigen, mit meinen philologischen Studiengängen der Anglistik und Hispanistik verschwisterten Literaturen gehören. Eines davon ist eine Anthologie auf Katalanisch und Deutsch, 1987 herausgegeben von Tilbert Stegmann im Reclam-Verlag Leipzig. Die Interlinearübersetzungen und einige Nachdichtungen hat der Herausgeber selbst angefertigt. Weitere Nachdichter*innen waren Peter Brasch, Elke Erb, Roland Erb, Thomas Fritz und Uwe Grüning. (Dass ich einigen von ihnen in den 90er und 00er Jahren persönlich begegnen würde, hätte ich mir damals nicht träumen lassen.) 74 Gedichte von 23 Autor*innen, darunter die Nobelpreis-Kandidaten Foix und Salvador Espriu, repräsentieren die große Fülle der katalanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Der Band ist sehr schön gestaltet, gibt einen guten Überblick über die (literatur)historischen Zusammenhänge und enthält zudem eine umfassende Bibliografie. Der Beitrag von Antoni Tàpies gibt ein wunderbares Beispiel für die Wechselwirkung zwischen Literatur und Kunst, die in Katalonien im vergangenen Jahrhundert besonders ausgeprägt war. Zudem zeigt diese Anthologie in exemplarischer Weise die Wirkmacht von transkultureller Literaturvermittlung. Trotz ihrer 800jährigen Geschichte war die katalanische Literatur, dem Frankismus geschuldet, bis Mitte der 70er Jahre in Europa und darüber hinaus nahezu unbekannt. Werke wie diese Anthologie sind wahre Landkarten für literarische Entdeckungsreisende. Hier eines der Fundstücke, ein Auszug aus Kensington von Gabriel Ferrater (1922-1972), nachgedichtet von Uwe Grüning:
Unendlich ist das Licht des nördlichen Sommers,
und jene Nachmittage, die niemals erlöschen.
Wie der Friede, der ihnen folgt. Wenn sie fast
das alte Geheimnis verraten, nach dem wir auf der Suche sind auf immer anderen Wegen.
Und sie spricht und beschreibt mir
die Bilder, die gleichen Wegs mit ihr gehen:
ganz langsam, auf ihrem Pfad,
auf dem ich zum Gipfel sie führe.
»Immer ist’s mir, als verwandle ich mich.
Die Dinge, die du mich glauben machst, wirst du niemals durchschauen,
du, mein Leben. Kensington war ich einmal,
diese Flucht gewundener Gassen,
klar von Licht und ohne Sonne. Seit einer Weile sage ich dir:
Ich bin eine gelbe Blume geworden.«
[…]
Saul Bellow: Seize the Day.
Das zweite Buch meiner Auswahl Das Geschäft des Lebens, dt.-sprachige Ausgabe, übersetzt von Walter Hasenclever, ist der vierte, 1956 erschienene Roman des amerikanischen Schriftstellers Saul Bellow (1915-2005). Der in Quebec geborene Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, studierter Anthropologe und Soziologe, ab 1950 in New York ansässig, erhielt für sein umfangreiches literarisches Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Nobelpreis für Literatur 1976. Neben Bernard Malamud und Philip Roth zählt Bellow zu den bedeutendsten Vertretern der jüdisch-amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Die Möglichkeiten zur Selbsterfindung, zum materiellen Erfolg und zur absoluten Freiheit bilden die Grundlage eines machtvollen amerikanischen Mythos, der diejenigen, die ihn zu leben versuchen, ebenso ermächtigen wie zerstören kann. In einer Nation von Einwanderern, deren Institutionen darauf abzielen, die Herkunft eher als Ausgangspunkt denn als zukunftsentscheidend zu betrachten, wird großer Reichtum nicht nur zu einer Möglichkeit, sondern auch zum Maßstab für den inneren Wert eines Menschen. In Seize the Day (wörtlich: »Nutze den Tag!«) ist die Hauptfigur Tommy Wilhelm vom amerikanischen Erfolgsmythos ebenso inspiriert wie belastet. Der Roman spielt, vorwärts und rückwärts erzählend, an einem einzigen Tag, dem Kulminationspunkt im Leben des 40-jährigen Protagonisten. Tommy hat bisher immer die falsche Entscheidung getroffen. Nun wohnt er auf der Suche nach dem rettenden Geschäft seines Lebens und nach sich selbst verarmt in einem New Yorker Apartmenthotel, in dem auch sein wohlhabender, selbstzufriedener Vater residiert. Mit zwanzig Jahren hatte der Sohn seinen Namen von Wilhelm (Wilky) Adler in Tommy Wilhelm geändert – ein Name, der die Person bezeichnet, die zu sein er sich erträumt. Er erinnert sich dabei an James Gatz, der, indem er sich Jay Gatsby nennt, glaubt, den Mann heraufbeschwören zu können, den Daisy Buchanan unwiderstehlich finden wird. Im Gegensatz zu Gatsby ist Wilhelm jedoch nicht aus seiner Vergangenheit geflohen; er konfrontiert sie täglich durch seinen Vater, der ihn immer noch Wilky nennt.
»Es war ihm nie gelungen, sich wie Tommy zu fühlen, und in seinem Innersten war er immer Wilky geblieben. Wenn er betrunken war, machte er sich als Wilky die schaurigsten Vorwürfe. »Du Idiot, du Jammerlappen, du Wilky!« beschimpfte er sich.«
Aber er bleibt optimistisch, obwohl die Distanz zwischen dem Mann, der er ist, und dem Mann, der er sein möchte, ein endloser Quell der Verzweiflung ist. Seize the Day ist eine zeitlose, melancholisch-ironische Revue des Scheiterns. Ein komplexes Sujet der Menschheitsgeschichte und der Literatur, in dem sich nicht nur amerikanische Protagonisten verfangen.
ADONIS: Ein Grab für New York (Gedichte 1965 – 1971).
Ein zweiter zweisprachiger Gedichtband, den ich vorstellen möchte, kommt aus dem arabischen Raum. Es ist die Lyriksammlung Ein Grab für New York des syrisch-libanesischen Dichters ADONIS (geb. 1930), aus dem Arabischen übersetzt, kommentiert und 2004 herausgegeben von Stefan Weidner. Dieser zweite Band der ADONIS-Werkausgabe im Amman Verlag enthält zwei der berühmtesten Langgedichte des Autors sowie zahlreiche kurze Gedichte aus den 60er Jahren. Ebenso enthalten ist der 1971 mitten im Vietnamkrieg geschriebene Langtext Ein Grab für New York, eine Mischung aus politischem Essay und poetischer Collage. Darin heißt es:
Der Wind weht ein zweites Mal aus dem Osten,
er entwurzelt die Wolkenkratzer, als wären es Zelte […]
Ich vernehme eine Erschütterung, einen Einschlag.
Wall Street und Harlem begegnen sich – die Blätter
begegnen dem Donner;
der Staub begegnet dem Sturm […]
New York + New York = ein Grab
New York – New York = die Sonne
(zitiert nach Stefan Weidner: Ground Zero, Hanser: 2021, S.24)
In der modernen arabischen Dichtung, sagt Islamwissenschaftler, Philosoph und Germanist Stefan Weidner, erfahre man mehr über die – der globalen Entwicklung der letzten ein bis zwei Jahrhunderte geschuldeten – Konfliktlinien zwischen der arabisch-islamischen und der eurozentristischen Welt als aus dem 1400 Jahre alten Koran. Ein Grab für New York ist eine Abrechnung mit dem Hegemoniestreben der USA in Südostasien, in Südamerika und in den zwischen den Weltkriegen entstandenen nahöstlichen Staaten. Der Islam kommt in dem Gedicht gar nicht vor, und das hat Gründe. ADONIS gilt als einer der bedeutendsten arabischen Dichter unserer Zeit, als moderner Klassiker und Mittler zwischen den Kulturen, dem es gelingt, eine Synthese zu schaffen zwischen der großen Tradition der arabischen Dichtung und der modernen westlichen Lyrik. Seine Gedichte sind poetische Kampfansagen an das religiöse Establishment und andere rückwärtsgewandte Kräfte ebenso wie an die Vertreter der rein äußerlichen, technik- und konsum- orientierten Rezeption westlicher Errungenschaften. Damit bewahrt er sich zugleich die Möglichkeit, die westliche Kultur ebenfalls zu kritisieren, insbesondere die Art und Weise, wie das abendländische Andere in die eigene Kultur eindringt. Ein weiteres Textbeispiel aus dem Band:
Das Minarett
Das Minarett weinte
Als der Fremde kam
Er kaufte es ohne Not
Und baute darauf einen Schlot
Wer sich ausführlich mit der Vorgeschichte, den unmittelbaren Folgen und der Nachgeschichte von 9/11 bis in die Gegenwart hinein befassen möchte, dem sei Stefan Weidners in diesem Jahr bei Hanser erschienenes Buch Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart empfohlen.
Ludwig Fels: Hottentottenwerft.
Als nächstes möchte ich mich einem 2015 bei Jung und Jung veröffentlichten Roman des Wahlwiener Autors Ludwig Fels zuwenden, den wir anlässlich der BARDINALE Afrika kurz nach dessen Erscheinen in Dresden vorstellen durften. Den Kontext des Romans Hottentottenwerft bildet die etwa 30 Jahre währende deutsche Kolonialzeit in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Die kaiserlichen Truppen ermordeten dort zwischen 1904 und 1907 schätzungsweise 85.000 Herero und Nama – ein finsteres Geschichtskapitel, das im kollektiven Gedächtnis Deutschlands nach wie vor eher am Rande steht. Die Handlung des Romans setzt im Herbst des Jahres 1903 ein und endet bereits im Sommer des Folgejahres. Korrespondierend mit der zeitlichen Engführung fokussiert der Roman vor allem ein Einzelschicksal. Um den größtmöglichen Abstand zu seiner geliebten Mutter, dem verbitterten, invaliden Vater und einer unerreichbaren Liebe zu gewinnen, bricht der Protagonist Crispin Mohr 1903 als Rekrut der kaiserlichen Armee in die damalige Kolonie auf – mitten hinein in einen Kolonialkrieg, in dem, wie Fels sagte, »mit der gleichen Brutalität gekämpft wurde wie später im Ersten und Zweiten Weltkrieg«. Dem, was Crispin sich erhofft, kommt er aber auch in der neuen Heimat nicht näher. In Swakopmund verliebt er sich in Hulette, die Enkelin eines Stammesführers, die als Faustpfand eines trügerischen Scheinfriedens mit der Kolonialmacht zum Opfer politischer Interessen und rassistischer Gewaltfantasien wird. Eine abenteuerliche, grausame und unglückliche Liebe, der durch die herrschenden politischen Verhältnisse ein unumstößlicher Rahmen setzt wird.
»In diesem Roman ist alles erfunden, sogar das Erfundene«, formulierte der Autor Fels in seiner Danksagung. »Die beschriebenen Personen haben nie gelebt; historische, ethno- und geographische Benennungen hat die Geschichte allein der weltenordnenden Phantasie des Autors zu verdanken. Und trotzdem handelt der Roman im weitesten Sinn von der Wahrheit und ihren Folgen.«
Gerade diese Autor-Position hat, auch wegen der Brisanz des nicht erzählten historischen Stoffes, zu sehr konträren Wertungen innerhalb der Literaturkritik geführt. »Der staubtrockene Stil eines Feldzugberichts« oder »Der Versuch, die grausame Geschichte mit Phantasmen à la Karl May zu verbinden, geht leider schief« meinten die einen, während andere von einem »existentiellen Abenteuerroman«, einem »Klagegesang, der aber in jeder Zeile auch Hymnus auf ein rätselhaftes, grausames und ungeheuerliches Leben ist« sprechen. Ich für meinen Teil stimme dem Rezensenten Uwe Ritzer zu: Ludwig Fels, Autor Dutzender Romane, Gedichtbände, Hörspiele und Theaterstücke, war kein geländegängiger Schriftsteller (der sich zu vermarkten wusste), sondern ein großer Sprachkönner, den die deutsche Literaturgemeinde zu sehr aus den Augen verloren hatte. Seine Sprache ist voller zarter Poesie, aber auch voller Rohheit, wuchtig und sachlich, wütend und mitfühlend, rüde und sensibel. Sie verstört und zieht zugleich in den Bann. Im Januar dieses Jahres ist Ludwig Fels verstorben.
Felicitas Hoppe: Hoppe
Einprägsame Erfahrungen mit der Literaturkritik hat auch die aus Hameln stammende Erich Kästner-Preisträgerin Felicitas Hoppe gemacht, die uns vor nicht allzu langer Zeit einen vergnüglichen Abend anlässlich des Geburtstages unseres Hauspatrons bescherte. Hoppe selbst zählt sich zu den Autoren, die mit den Mitteln der Wirklichkeit Literatur simulieren, deren künstlerisches Ziel es also ist, die Wirklichkeit so erscheinen zu lassen, als sei sie nichts als reine Erfindung, womöglich ein Märchen. »Eine unverschämte Nasendreherin« sei sie, schrieb Rezensent Hans-Jost Weyandt anlässlich der Verleihung des Georg Büchner-Preises, »eine Autorin, deren raffinierte Maskeraden und glatte Lügen einem fantastischen Einfallsreichtum entspringen«. In ihrem 2012 bei S. Fischer erschienenen Roman Hoppe treibt Hoppe, mit allen postmodernen Wassern gewaschen, ihr fröhliches Spiel geradezu auf die Spitze. Das Buch ist ein solcher Sonderfall, dass von Literaturkritik und Wissenschaft anhaltend darüber diskutiert wird, ob es sich um eine Autobiografie, eine Biografie, eine Pseudo-Autobiografie, eine Traumbiografie oder eine Scheinbiografie handle. »Auf jeden Fall das Beste, was bislang über Hoppe geschrieben wurde!«, äußert eine Figur im Roman, der als mehrdimensionales, temporeiches Spiel im Spiel gebaut ist und an keiner Stelle ermüdend wird. Autorin Hoppe lässt eine fiktive Herausgeberin über Kindheit und Jugend der fiktiven Autorin Felicitas berichten, die sich wiederum fiktiv-fiktive alternative Identitäten ausdenkt. Erzählt wird von einer kanadischen Kindheit auf dünnem Eis, von einer australischen Jugend kurz vor der Wüste, von Reisen über das Meer und von einer Flucht nach Amerika. Hoppes Lebens- und Reisebericht wird zum tragikomischen Künstlerroman, mit dem sie ihre Leser durch die Welt und von dort aus wieder zurück in die deutsche Provinz führt, wo ihre Wunschfamilie auf sie wartet. Hoppe (die reale) erzählt Hoppes Leben von ihren Wünschen her und löst damit den wahren autobiografischen Pakt ein: Wir sind, was wir wünschen. Biografin und Biografierte fallen in eins. Felicitas Hoppe, Autorin von inzwischen 22 Buch-Veröffentlichungen, darunter Erzählungen, Romane, Kinder- und Jugendbücher sowie Essays, schreibt eine außergewöhnlich bewegliche und elegante Prosa, mit ausgeprägter Rhythmik, sorgfältig komponierter Vokalmelodie und großer Lust an sprachlicher Sabotage. Ihr Spiel mit Intertextualität und Pseudo-Intertextualität, ein weiteres Markenzeichen, hält Leser*innen wie Literaturbetrieb gleichermaßen in Atem.
Eva Horn: Zukunft als Katastrophe.
Von Lyrik und Roman geht es nun zu einer Autorin, die für ihr literaturwissenschaftlich-essayistisches Schreiben erst kürzlich mit dem Heinrich-Mann-Preis 2020 ausgezeichnet wurde. Mit Zukunft als Katastrophe hatte die in Wien lehrende Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Eva Horn 2014 bei S. Fischer einen klugen, methodischen und packenden Groß-Essay über Weltvernichtungsfiktionen in Literatur, Kunst und Film vorgelegt. Darin geht sie der Geschichte und den Motiven des modernen Katastrophenbewusstseins nach und legt gleichzeitig die politischen Konflikte frei, die in den Untergangszenarien ausgetragen werden. Bezeichnenderweise geht der Mensch des Anthropozäns in seinen Vorstellungen davon aus, dass der Weltuntergang an das eigene Verschwinden gekoppelt sei. In der Natur der Sache liegt, dass eine Apokalypse nicht beobachtet, sondern nur imaginiert werden kann. Jacques Derrida hat dazu bemerkt, dass sie lediglich »textuell« stattfinden könne, da sie nur in dem Augenblick existiere, in dem von ihr erzählt wird. Eva Horn untersucht in ihrer Studie Narrationen als »Werkzeuge des Vorstellungsvermögens«. In sechs Kapiteln durchstreift sie düstere Gedankenlandschaften und Epochen, verfolgt Argumentationslinien, präpariert zentrale Motive und knüpft überraschende Verbindungen zwischen ihren facettenreichen Quellen. Eine ganze Poetologie des Untergangs wird entfaltet, die sowohl einen Blick in die Zukunft (als Konstruktion) bereithält als auch in unsere Gegenwart. Jean Pauls Rede des toten Christus und Lord Byrons Versprosagedicht Darkness gehören ebenso zu den vielfältigen Beispielen wie Samuel Becketts Endspiel oder Cormac McCarthys Roman The Road. Die Suggestionskraft solcher Erzählungen und die Möglichkeiten ihrer politischen Instrumentalisierung sind ebenfalls Gegenstand von Eva Horns Arbeit.
»Seither hat sie sich in vielen Texten mit Weltuntergangsszenarien oder der ‚Imaginationsgeschichte der Klimakatastrophe‘ beschäftigt. All diese Essays verbinden Wissenschaftsgeschichte mit Literatur und Kunst. Wie nur wenigen Autorinnen und Autoren gelingt es Eva Horn, eine Sprache zu finden, die für ein breites Publikum zugänglich ist, ohne dabei an wissenschaftlicher Präzision zu verlieren. Die politische Perspektive verliert sie dabei nie aus dem Blick. Ihr Schreiben ist politische Publizistik«, so die Jurybegründung zur Auswahl der Preisträgerin.
Zukunft als Katastrophe ist eine aufschlussreiche, wenngleich umfangreiche (390 Seiten zuzüglich 75 Seiten Anmerkungen, Bibliographie und Register) Lektüre – und daher überaus passend für die kommenden Wochen!
Abschließend und stellvertretend möchte ich mich bedanken – bei den Achebes, Adichies, Adonis, Aichingers, al-Aswanis, Albertis, Andersons, Andrić, Ardens, Audens, Bachmanns, Bators, Bärfuss, Baudelaires, Baydous, Beckers, Becketts, Benjamins, Benns, Bernhards, Bernigs, Beyers, Bölls, Bonnés, Bonsels, Borges, Bossongs, Brechts, Brodskys, Buchans, Büchners, Bulgakows, Calvinos, Camus, Canettis, Carrolls, Celans, Cervantes, Chandlers, Chaucers, Chomskys, Cohens, Coles, Collodis, Cortázars, Czechowskis, Dantes, Defoes, Dickens, Dos Passos, Dostojewskis, Draesners, Drawerts, Dürrenmatts, Ecos, Eliots, Endes, Endlers, Enzensbergers, Erbs, Faulkners, Flauberts, Fontanes, Fos, Frames, Frieds, Frischs, Fritz, Fuchs, Fühmanns, Fuentes, García Lorcas, Genets, Goethes, Gogols, Hädeckes, Hauptmanns, Heaneys, Heideggers, Heines, Helds, Hemingways, Herrndorfs, Hilbigs, Hölderlins, Hoffmanns, Holans, Homers, Hrabals, Hugos, Ionescos, Jandls, Jimenez, Johnsons, Joyces, Jüngers, Kästners, Kafkas, Kerouacs, Kertész, Kipplings, Kleists, Klings, Kolbes, Kordons, Krastevs, Kraus, Krüss, Kunzes, Lagerlöfs, Lems, Lessings, Lewitscharoffs, Lindgrens, LLulls, Londons, Machiavellis, Mahfus, Malraux, Martins, McEwans, Meddebs, Melvilles, Menasses, Miłosz, Molières, Müllers, Musils, Nabokovs, Nietzsches, Nootebooms, Novaks, Onettis, Ovids, Páramos, Pehnts, Perkins, Pinters, Poes, Preußlers, Quasimodos, Ransmayrs, Rautenbergs, Reinigs, Rhys, Rilkes, Rimbauds, Rosenlöchers, Roths, Różewicz, Sachs, Salingers, Schillers, Seghers, Seilers, Senecas, Sielaffs, Shakespeares, Shaws, Sorokins, Soyinkas, Sperbers, Spinozas, Stasiuks, Steinbecks, Swifts, Szymborskas, Tolstois, Tschechovs, Tucholskys, Turgenjews, Twains, Valérys, Vergils, Verlaines, Vernes, Vonneguts, Walsers, wa Thiong’os, Weidners, Williams, Wilders, Whitmans, Wodins, Wodolaskins, Wolfs, Woolfs, Wonnebergers, Wüstefelds, Yeats, Zarevs, Zweigs und Zwetajewas, die mein bisheriges Leserinnenleben bereichert haben und sie um Nachsicht dafür bitten, dass sie unvorgestellt in meinen Bücherregalen verbleiben mussten.
Letzten Monat lasen Sie Sechs Bücher aus dem Regal von Jayne-Ann Igel.
Andrea O’Brien, aufgewachsen in Freiburg (Südbaden) und San Diego (Kalifornien), hat in Freiburg, Madrid und Frankfurt am Main Anglistik, Hispanistik und Politikwissenschaft studiert. Seit 1993 lebt sie mit ihrer Familie in Dresden. Nach Berufserfahrungen in Büromanagement, Verwaltung, Marketing und Werbung sowie einem Einstiegsjahr in der Abteilung Kunst des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst wurde sie von den Gründungsmitgliedern des Dresdner Literaturbüros als Geschäftsführerin mit dem Strukturaufbau und der Programmleitung betraut. 1998 folgte, gemeinsam mit Ruairí O’Brien, unterstützt durch Experten und Literaturenthusiasten, die Konzeptionierung, Planung und Realisierung des mobilen interaktiven micromuseums für Erich Kästner. Seither ist Andrea O’Brien Geschäfts- und Programmleiterin am Erich Kästner Haus für Literatur. Darüber hinaus engagiert sie sich in Kultur-Netzwerken und in einer NGO.