Axel Helbig, Foto: privat
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12.01.2021
Axel Helbig

Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Axel Helbig

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Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …

Eine Lese-Biografie zu schreiben ist mir nicht möglich. Aus den unzähligen Lektüren ragt zu viel Gebirge heraus. Man müsste mehrere hundert Bücher nennen, die unverzichtbare Lektüren darstellen. Dennoch gibt es Autor/innen, auf die man immer wieder zurückkommt, deren Bücher man – käme die Sintflut – in den einzigen zulässigen Fluchtkoffer packen müsste. Hier fängt das Dilemma an. Der Koffer fasst auch diese allernotwendigsten Lektüren nicht. Stellvertretend für die 100 allerallernotwendigsten seien hier sechs Bücher angetippt, immer mit dem Hinweis »und weitere«, der auf weitere Bücher und Autor/innen lenken soll. Da die Bücher von Wieland, Kleist, Hölderlin, der Droste, Proust, Robert Walser, Kafka, Anna Seghers, Virginia Woolf, James Joyce, Joseph Roth, Ingeborg Bachmann, Celan, Arno Schmidt, Thomas Bernhard und all der anderen Giganten schon in den Koffern der Mitflüchtenden liegen, sollen in meinen Koffer die eher Vergessenen gelegt werden, wenngleich das auf Beckett noch am Wenigsten zutreffen mag. Ergänzt werden die Bücher der hoffentlich nicht Vergessenen durch einen Hinweis auf eine lebende Gigantin.

Samuel Beckett: Molloy (und weitere)

Samuel Becketts Werk ist eine Herausforderung, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Er kommt aus der Tradition und ist dennoch ein Neubeginn. Es kommt freilich aus einer Tradition (Swift, Sterne, Joyce, Kafka, Proust), die von sich aus schon an Grenzen gestoßen war. Aus einer Tradition, in den Bereich des Unsagbaren, des Unterbewussten vorzudringen, einer Tradition auch, die sich auf jene Grenzen zubewegte, die den Menschen vom Absurden trennen.

Becketts Helden haben etwas Anmaßendes und verärgern durch ihre Ehrlichkeit. Sie werden zu einem Spiegel, in dem scheinbar Verborgenes den äußeren Schein zu durchbrechen vermag. Oft sind es allgemeine Geschehnisse, die jedem von uns zustoßen könnten, die ihre konkrete Verlebendigung in Worten, erfundenen Personen und Situationen finden. Becketts Held ist der Landstreicher und der Außenseiter (gehbehindert, oft gelähmt, blind, die Tage im Bett verbringend, im Rollstuhl, in Mülleimern, kriechend im Schlamm oder bis zum Gürtel oder Hals im Schlamm steckend). Schwer anzusprechende Helden, eingesponnen in ihre »reine Geisteswelt«, damit beschäftigt, ein von mehr und mehr eingeschränkten Bedürfnissen geleitetes Dasein auf eigene Weise zu leben und sich dessen im Reden zu vergewissern. Dieses »Reden« entwickelte Beckett zu einer sich gliedernden Sprache, die Pausen schafft, immer neu ansetzt und in erster Hinsicht auf sich selbst verweist (durch Wiederholungen von Worten, Klängen und rhythmischen Silbenfolgen) und die im eigentlichen Sinne immer Dichtersprache bleibt. Eine sperrige Sprache, die oft statisch wirkt und die gleichsam in sich selbst auf Entdeckungsreise zu gehen scheint, eine Entdeckungsreise, die dem Sprechen selbst gilt.

Der Außenseiter ist die zentrale Figur der Literatur des 20. Jahrhunderts. Das sah auch Heinrich Böll so: »Und so produziert unsere Gesellschaft natürlich permanent abfällige Existenzen, die man als Abfall betrachtet, und sie sind, meine ich, der wichtigste Gegenstand der Literatur, der Kunst überhaupt.« Dass Beckett seine Außenseiter so drastisch vorführt, ist ein Zeichen für Konsequenz. Seine Neigung zum Paradoxon ist einerseits in der Traditionslinie der irischen Literatur begründet, andererseits im Kontext mit Becketts statischer, sperriger Sprache auch funktional bedingt.

1906 in Foxrock (Irland) geboren, als Sohn eines Baukalkulators, hineingeboren in eine protestantische, also isolierende (Irland ist weitestgehend katholisch), starke Religiosität und glaubensstrenge Erziehung, angehalten zur ständigen Gewissensforschung, mag diese Kindheit etwas Bedrückendes beinhaltet haben. Auch Becketts Gestalten sind von einem ähnlichen Unbehagen erfüllt. Sie leiden unter einem schwer zu definierenden Gefühl, gegen Reglements verstoßen zu haben und kreisen in ihrem Reden nicht selten um dieses »Unbehagen der Sünde« (»Ich würde ihn um Verzeihung bitten. Verzeihung für was?« Molloy).

»Wohin ginge ich, wenn ich gehen könnte, was wäre ich, wenn ich sein könnte, was sagte ich, wenn ich eine Stimme hätte, wer spricht so und nennt sich ich?« Dieses Zitat aus Becketts Texten um Nichts steht zugleich als Ausgangssituation seiner Romantrilogie: Molloy, Malone stirbt, Der Namenlose. Der Leser wird mit Schreibenden, mit Sprechenden konfrontiert, mit Helden, die sich über das Wortemachen selbst Gestalt geben, die – wie ein Puppenspieler seine Marionetten – erdachte Träume und Visionen aufrichten, damit beschäftigt, ihre ureigensten Möglichkeiten durchzuspielen. Und das geschieht nicht selten antithetisch, mit Wegwischen und Platzmachen für neue Thesen.

Der Roman Molloy besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil beschreibt Molloy – ein Landstreicher, lahmgehend, bedürfnislos, aber frei – sein Sichtreibenlassen und wirkt selbst im Zustand der Bewegungslosigkeit noch stolz über das Minimum an Erreichbarem. Im zweiten Teil beschreibt Moran – ein egozentrischer und in die Abhängigkeit einer Befehlswelt eingebundener Mensch – seine erfolglose Suche nach Molloy. Am Ende erlahmen auch Morans Beine und er wird Molloy immer ähnlicher.
In Malone stirbt wartet der Held schreibend auf seinen Tod, erdenkt sich Geschichten, um sich die Zeit zu verkürzen, erschafft sich Gestalten, die er sich um sein »Totenbett« gruppiert, und stirbt schreibend.
In Der Namenlose erreicht das »Wortemachen« seinen Höhepunkt, der Erzähler verbirgt sich hinter zweckfreier Rede. (»Wo nun? Wann nun? Wer nun? Ohne es mich zu fragen. Ich sagen. Ohne es zu glauben. So was Fragen, Hypothesen nennen. Fortschreiten, so was schreiten nennen, so was fort nennen …«) Damit gerät Beckett an die Grenzen des Erzählens.

Wer Samuel Beckett liest, wird für den Rest seines Leserlebens von dessen Figuren und dessen Sprache begleitet. Wer selbst Schreibender ist, läuft Gefahr, von Beckett beeinflusst zu werden.

 

Henri Michaux: Erkenntnis durch Abgründe (und weitere)

Michaux, geboren 1899 in Namur (Belgien), empfand seine Jugend als reich an zerrissenen Fahnen, Ramsch-Idealen und Lebenskunst fürs Herdenvieh. Nach der Lektüre von Lautrèamonts Maldoror beschloss er, Dichter zu werden. Nach der Bekanntschaft mit den Werken von Paul Klee, Max Ernst und Giorgio de Chirico begann er zu zeichnen. Der Philosoph Emile Cioran, mit Michaux durch eine lebenslange Freundschaft verbunden, nannte ihn einen »Nicht-Weisen besonderer Art«. »Weil er besessen auf Erkenntnis beharrt« habe, sei es ihm gelungen, »mit den Augen eines Fremden seiner eigenen metaphysischen Panik zuzuschauen.«

Bekannt geworden ist Michaux mit den beiden Reisetagebüchern Ecuador (1929) und Ein Barbar in Asien (1933). Beiden Büchern ist gemeinsam, dass hinter der realen Reise eine zweite, imaginierte Reise beschrieben ist. »Man findet seine Wahrheit genauso gut, indem man achtundvierzig Stunden irgendeine Tapete anstarrt«, schreibt Michaux in Ecuador. Der Indien- und Chinareisende stellt fest, dass im Gegensatz zu den »wirkungslosen« westlichen Philosophien, die östlichen Philosophien »die Haare wachsen lassen und das Leben verlängern«. Die östlichen Völker kommen ihm »wirklicher« als die westlichen vor. Dennoch erscheinen ihm diese realen Reisen in der Rückschau imaginiert und die bereisten Länder Erfindungen zu sein.

Die erstaunlichsten Reisen unternimmt Michaux am Schreibtisch: Nach Groß-Garabanien (1936), ins Land der Zauberei (1941), nach Poddema (1946) und zu den Meidosemen (1948). Die Meidosemen sind fluide Wesen – mehr Seele als Körper. Sie nehmen Blasenform an, um zu träumen, und Lianenform, um sich zu erregen. Sie können mit dem Saft in die Bäume steigen. Im Land der Zauberei scheint jedes Ding und Wesen sich selbst zu widersprechen: Das Wasser weigert sich zu fließen, das Feuer brennt nicht mehr. Dem alltäglichen Leben und der Lebensphilosophie der Zauberer sind absurde Gesetze unterlegt, die vom Erzähler, einem Hineingeworfenen à la Gulliver, ethnologisch akkurat aufgezeichnet werden: »… das Kind wird mit zweiundzwanzig Falten geboren. Sie gilt es zu entfalten.« … oder: »Sie wissen den Wert eines Menschen viel genauer zu schätzen, ist er erst einmal tot. Hat er mit seinem Körper seine Betriebsamkeit, seine Durchtriebenheit abgelegt, zeige er sich schließlich unverhohlen, behaupten sie.« In Poddema erlebt der Reisende die Schreckensvision einer gentechnisierten Hochkultur der Dekadenz. Menschliche, tierische und pflanzliche Erbmassen werden zu Homunculi fusioniert, die den perversesten Bedürfnissen entsprechen sollen. Der Mensch als Topfpflanze, bei Bedarf mehrarmig, fleisch- oder pflanzenfressend. Wenn gewünscht, unterhaltsam und mehrerer Sprachen mächtig. Wenn nicht mehr benötigt, der Vernichtung zuführbar. Für etwaige Trauerarbeit können Klagemaschinen geleast werden.

Michaux, als Dichter oft in der Rolle des Voyeurs, plant auch eine Reise zur Erforschung des Meskalins, der kultischen Rauschpflanze der mexikanischen Indianer, die er über den Zeitraum von sechs Jahren unter ärztlicher Kontrolle einnimmt. Doch diese Reise verkehrt sich zu einer Reise ins Ich. Das Meskalin, die spektakulärste aller Drogen, brutal und dazu geschaffen, das Gehirn zu vergewaltigen, beginnt Michaux zu unterjochen und zwingt ihn, die Rolle des Nur-Voyeurs aufzugeben. In parallel geführten Mitschriften protokolliert Michaux die Vision der Kehrseite des Geistes: Fluten von stürzenden Formen; die Hurerei von Bedeutungen; die Zerstörung der Sprache; die totale Schau des Göttlichen und des Dämonischen. Diese Protokolle (Unseliges Wunder. Das Meskalin, 1956, dt. 1986, und Turbulenz im Unendlichen, 1957, dt. 1961) sind keine Dichtung, sie sind die Berichte eines Erschrockenen.

In Erkenntnis durch Abgründe (Essays, 1961) fasst Michaux seine Erfahrungen mit Drogen zusammen: »Wer vom Meskalin überfallen worden ist, wer die geistige Entfremdung von innen her, in statu nascendi und fast meteorartig erfahren hat, wer, plötzlich in tausenderlei Dingen ohnmächtig geworden, den Theatercoups des Geistes beigewohnt hat, wonach alles anders ist, wer, auf bevorzugte Weise, seine Auflösung und sein Auseinanderbrechen erlebt hat, der weiß nun Bescheid… Es ist, als sei er ein zweites Mal geboren worden.« Voyeur und Opfer, weiß Michaux nun, dass es ein anderes geistiges Funktionieren gibt, dass der Wahnsinn ein Gleichgewicht ist, »ein ungeheuer schwieriger Versuch, sich mit einem zerrütteten, desaströsen Zustand zu liieren.« Im Essay Abgrund-Situationen schlägt Michaux eine Verständnis-Brücke zu den Geisteskranken, den gänzlich in den Wahn Gestürzten. Opfer der in ihren Körpern »von den eigenen Organen ausgeschütteten Drogen«, sieht Michaux sie »im tiefen Keller einer einzigen Metapher« und empfindet sich als deren »Bruder«. Im Essay Die Verrückten untersucht Michaux Zeichnungen Geisteskranker – Zeugnisse anhaltender Katastrophen und des Gefühls, von der Gesellschaft entfremdet worden zu sein. Ausdruck auch des zu ertragenden Nicht-Lebens, des Klaffenden, des Gefrorenen des Lebens, der empfundenen Stummheit und Undurchdringlichkeit der Lebewesen.

Einer der vielleicht schönsten Texte von Michaux – Abenteuer der Linien – nimmt auf das zeichnerische Werk von Paul Klee Bezug: »… Eine Linie, nur um lustvoll Linie zu sein, um dahinzuziehen, Linie. Punkte. Punktestaub. Eine Linie träumt. Nie zuvor hat man eine Linie träumen lassen. / Eine Linie wartet. Eine Linie hofft. Eine Linie überdenkt ein Gesicht. …«

Michaux ist keiner literarischen oder künstlerischen Schule zuzurechnen. Er begreift sich als Löschblatt unzähliger Durchquerungen. In seiner Prosa setzt er oft mit viel Ironie einen betulichen Konversationston neben aggressive Expressionen. Seine Gestalten stolpern durch eine Flickwelt aus Abwesenheiten in das »kalte Maul des allesbenagenden Tages«. Die Begegnung mit Michaux‘ Büchern ist so nachhaltig, dass dieses Erlebnis alle weiteren Lektüren als Korrektiv begleiten wird.

 

Emmanuel Bove: Meine Freunde (und weitere)

Bove, ein Mann in Grau, grauer Hut, grauer Überzieher, nachdenklich, sehr diskret, beinahe unscheinbar, war ein Mann des Schweigens. Der Ruhm, den ihm seine ab 1924 in rascher Folge erscheinenden Romane in Frankreich bescherten, schien ihm eher befremdlich. Er liebte es, anonym zu bleiben. Vielleicht mag dies das schnelle Vergessen, dem das Werk Boves nach dessen frühem Tod im Jahre 1945 anheimfiel, begünstigt haben. Obwohl von Autoren wie Beckett, Ionesco und Soupault immer wieder als Geheimtipp gehandelt, fanden seine Bücher erst nach der spektakulären Wiederentdeckung Boves im Jahre 1977 Eingang in die Weltliteratur.

Bove wurde als »Romancier am Rande des Abgrunds« bezeichnet, die Welt seiner Romane als »bovianisch«. Seltsame Einzelgänger, abfällige Randexistenzen, Bewohner des Sumpfes der Großstädte (vornehmlich Paris) sind jene »Bovianer« (Meine Freunde, Armand, Die Ahnung u. a.). Die Welt (die Gesellschaft) erscheint ihnen grausam, unfreundlich, abweisend – sie dem Zwang aussetzend, sich auf die Suche nach einer besseren Welt begeben zu müssen. Diese bessere Welt wird als Phantasie, als Möglichkeitsform aufgebaut und als Erwartungshaltung zum rettenden Konjunktiv – »feinfühlig ginge ich um mit dem Menschen, der mir Freundschaft erwiese«, sagt Victor Baton, die Hauptfigur des Romans Meine Freunde. Vor allem die Figur des Baton steht für das Bovianische, für den mikroskopischen Blick jener Voyeure, die zugleich Wissenschaftler des Sehens zu sein scheinen. Sich selbst betrachtet Baton mit einem nahezu zoologischen Interesse (»Wenn ich aufwache, steht mir der Mund offen. Meine Zähne sind belegt.«). Mit vollendet-friedlich objektivem Tonfall analysiert er seinen Existenzraum – schäbige, feuchte Zimmer und die Viertel der Armen im Bauch von Paris. Die Glühbirnen einer sich durch die Vororte von Paris quälenden Tramway haben für ihn »die Traurigkeit von Lichtern, die man vor dem Einschlafen vergessen hat auszuschalten«.

Das Leiden, keinen Platz unter den Menschen zu finden, die Unmöglichkeit, neidlos respektiert werden zu können, zwingt Boves Gestalten in eine zerstreute, wie abwesende Trauer, die sie körperlich empfinden als Sehnsucht nach Mitleid (»…näherte sich ein Passant, … verbarg ich das Gesicht in den Händen und schniefte wie jemand, der gerade geweint hatte«, Meine Freunde) und die sie auch an anderen wahrnehmen, dann jedoch kühl registrierend (»Er besaß den rührenden Gesichtsausdruck eines Vaters, der einen Sohn verloren hatte«, Die Ahnung). Boves Gestalten leben im Schutzbereich ihrer Phantasie (»Meine Maitresse träfe ein um drei Uhr«, Meine Freunde), reagierend wie fleischgewordene Fotoapparate, die Linse nur öffnend, um ab und an ein wie von einem Blitz scharf beleuchtetes Interieur oder Geschehen aufzunehmen (»…eine Hausfrau, bei der sich für einen Moment das Gebiss vom Zahnfleisch gelöst hatte«, Die Ahnung). Kontrastaufnahmen, die nicht zurückschrecken vor dem Schock und dem Unbehagen, ausgelöst durch Präzision. Das Menschliche, das Verdrängte, der Fotograf nimmt es unerbittlich auf. Zwischen den Zeilen steht Boves Verzweiflung, die Katastrophe kommen zu sehen, ohne dass die Menschen etwas bemerkten. In jener Unfähigkeit, die Dinge vorauszusehen, jener Unbedachtheit, jener Ignoranz sah er die Begründung für das Herdentierdasein der Menschen.

Boves Romane setzen sich wie Mosaike aus Bildern, Gesprächsfetzen und Überlebensphantasien seiner Nicht-Helden zusammen. Wie beim Puzzeln wird Schritt für Schritt das Grundthema deutlich – die Entlarvung der Menschen hinter Ihren Masken. »Ich empfinde mit aller Macht die Nicht-Handlung“, sagt Bove, „sie wird zu einer Handlung in meinem Buch«.

Das Werk Boves wird oft als eine »chronologie triste« der menschlichen Unzulänglichkeiten gesehen, als »düsteres Diagramm zerrissener Seelen«. Dabei darf nicht vergessen werden, dass in den Figuren der »bovianischen Flaneure«, neben aller Tragik, nicht selten auch (wie bei den Spaziergängern eines Henri Michaux oder Robert Walser) das Unernste, ja Komische mitschwingt.

Emmanuel Bove, 1898 als Sohn eines russischen Juden und einer (deutschsprachigen) Luxemburgerin in Paris geboren, hat die Heimatlosigkeit seiner Romangestalten an sich selbst erfahren. Er besucht die Armenküchen in Paris (mit »russischen Schuhen« = um die Füße gewickelten Fußlappen bekleidet), schlug sich bis zu seiner Einberufung zum Militärdienst u. a. als Straßenbahnschaffner und Lastenträger in den Pariser Markthallen durch und stand am Fließband bei Renault.

 

Hans Henny Jahnn: Fluss ohne Ufer (und weitere)

Hans Henny Jahnn (Jg. 1894) ist einer der großen Autoren deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Seine Entdeckung und Würdigung durch einen breiten Leserkreis in Deutschland steht jedoch nach wie vor aus. Allein darin schon zeigt sich sein Schicksal verwandt dem Arno Schmidts, den ein Kritiker einmal den »Solipsisten in der Heide« nannte. Auch Jahnn ist ein Solipsist, zudem ist er ein Erbauer von »Kathedralen«. Kathedralen – architektonische Massen, an die Fjorde der norwegischen Küste gemahnend; darüber urgewaltige Orgelklänge; darinnen mystisch verwobene Lebensfäden wortkarger sinnlicher Gestalten.

»Was hilft es dem als Krüppel Geborenen, dass die moralische Weltordnung ein Postulat der Philosophen ist? Besserer väterlicher Samen würde ihm bekömmlicher gewesen sein. Die Tiere und Pflanzen ertragen geduldig ihre Beschaffenheit, auch den kranken Teil, auch die Entartung, auch das faule Unter- und Nebenleben – nur wir nicht, mit unserer Veranlagung unzufrieden zu sein. Wir horchen auf die Sittenlehren derer, die anders sind als wir, und räumen ihnen Rechte in unserem Dasein ein, weil sie zahlreicher oder schöner oder mächtiger oder überzeugter oder auf andere Weise privilegiert sind…«

Dieses Zitat aus dem Roman Fluss ohne Ufer möge den Spannungsbogen aufzeigen, der in allen Werken Hans Henny Jahnns gegenwärtig ist. Der Widerspruch zwischen dem Natürlichen, in seinem ganzen Variantenreichtum, und dem Zivilisatorischen, in Verhärtung Festgeschriebenen. Zwanzigjährig bricht Jahnn aus der bürgerlichen Enge des Hamburger Elternhauses aus. Verweigert sich aller aufgedrängten Erfahrung. Verweigert den Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg. Verweigert sich der herkömmlichen Moral, die sich ihm aufdrängt durch Staat, Gesellschaft und Kirche. Weiß, dass seine Realitäten andere sind – außenseiterisch, weltfremd. Gemeinsam mit einem Freunde, flieht er gen Norden, in die Fjorde Norwegens, um die Fiktion eines Landes: Ugrino aufzurichten – den Traum von einer erneuerten Menschheit.

Zwei Dramen, Pastor Ephraim Magnus und Die Krönung Richard III., geschrieben während des Ersten Weltkrieges im norwegischen Exil, machen Jahnn früh bekannt, stellen ihn jedoch zugleich von Anbeginn in den Raum zwischen Zuspruch und Ablehnung, der bis zu seinem Tode, 1959, sein Ort bleiben soll. Monströse Handlungszusammenhänge zielen darauf, der bürgerlichen Moral eine Revolution der Sinne entgegenzuhalten und die Verachtung gesellschaftlicher Normen durch pathetisch überhöhte Affekte sinnfällig zu machen. Mord, Selbstverstümmelung, Selbsttötung – Jahnn konstruiert einen Spiegel, der den Mitmenschen vorgehalten, sie erschrecken; aufrütteln und bessern soll. 1920 erhält er für Pastor Ephraim Magnus den begehrten Kleistpreis zugesprochen.

Zur gleichen Zeit wendet sich Jahnn umfangreichen Orgelbau-Projekten zu und befasst sich mit der Herausgabe von Musikwerken alter Meister, vorwiegend des norddeutschen Barock. Die Gründung einer Glaubensgemeinschaft »Ugrino« soll zusätzliche Kräfte freisetzen und ernsthaftes Wirken auf allen Gebieten des Lebens und der Kultur ermöglichen helfen. »Ugrino«, auch der Versuch, auf Biegen und Brechen ein neues Weltbild in die Wirklichkeit einzubauen.

1929 erscheint der Roman Perrudja, in dem die Idee einer Menschheitserneuerung umfassend gestaltet ist. Es ist die Geschichte eines modernen Kaspar Hauser, eines Unhelden, der, von unsichtbaren Kräften geleitet und mit ausreichend Mitteln ausgestattet, an der Verwirklichung von Größenphantasien arbeitet. Das Widersprüchliche im Menschen wird gestaltet, das Grenzenlose der Phantasie, der Träume, der Begierden, und die auferlegten Grenzen, Ängste und Niederlagen. In den Roman eingebettet sind Erzählungen, die aus frühgeschichtlichen Themenkreisen stammen oder aber aus der unmittelbaren Gegenwart – Parallelhandlungen, die kunstvoll Elemente der Haupthandlung auf einer anderen Ebene widerspiegeln. Jahnns Pazifismus im Ersten Weltkrieg gründet sich vor allem auf pantheistische Vorstellungen und auf die Forderung nach Unantastbarkeit und Heiligsprechung des Leibes. Die Gefahren, die sich mit dem Erstarken des Nationalismus in Deutschland ankündigen, sieht er überdeutlich. »Der Nationalsozialismus«, schreibt Jahnn 1932 in einem Brief, »hat biologische Gesichtspunkte seinen Geistesausdeutungen unterlegt, die notwendigerweise früher oder später in eine entsetzliche Katastrophe führen müssen. Man kann nicht den nationalen Gedanken hochhalten, wenn es Giftgase gibt.«

Obwohl seine Bücher 1933 nicht verbrannt werden, zieht es Jahnn, vor, Deutschland zu verlassen, lebt erst bei seinem Freund und Förderer Walter Muschg in Zürich, später bis nach Kriegsende auf der dänischen Insel Bornholm, auf welcher er ein Gut bewirtschaftet, Landwirtschaft und Pferdezucht betreibt. Eigene Werke veröffentlicht er in der Zeit des Nazi-Reiches nicht.

Auf Bornholm arbeitet Jahnn an seinem Hauptwerk, der Romantrilogie Fluss ohne Ufer. »Wie lauter feine Nadeln sickert der Sturm durch das Gewebe meines Mantels und kam leckend bis an meine Haut. Er war mir im Rücken. Er trieb mich auf die Straße hinauf. Wie schwarze Hunde jagte es an meinen Füßen vorbei, mir vorauf. Aber der Atem der nächtlichen Geschöpfe war kalt. Ich schritt aus. Meine Schritte wurden länger und länger… Ich war ganz allein auf einer ertrunkenen Welt.« – Erzählt wird die Geschichte des Komponisten Gustav Anias Horn. Ein Holzschiff wird auf eine geheimnisvolle Expedition geschickt. Ladung und Ziel sind unbekannt, das mysteriöse Verschwinden von Personen, Auflösung der Fäden und neue Verstrickungen. Ein Buch der Mythen, der Gewalten, voller Trauer und voller Sinnlichkeit. Die Individuen werden depersonalisiert. Weder Zeit noch Ort, noch ihre Herkunft haben Einfluss auf ihre Handlungen, und diese werden weder psychologisch noch soziologisch begründet. Jahnn zeigt sich darin Kafka verwandt.

Das Bekanntwerden der Verbrechen der Nazi-Zeit und der erschütternden Berichte über die Folgen der Atombombenabwürfe trägt zu einer zunehmenden Politisierung Jahnns in den fünfziger Jahren bei. Fortschritt versteht Jahnn nun mehr und mehr als ein »Fortschreiten hin zur Verameisung, zur Kollektivierung, zum Konformismus, zum Auslöschen des Individuums.« Die Masse transportiert weder Moral noch Liebe, sie drängt zur Eile, zum Fortschreiten in ein Ungewisses. Leistung, Akkord, Rekord erzeugen Lebensverkrümmungen. »Das uns Nötigste, Muße, ist uns abhanden gekommen«, resümiert Jahnn. Das Anwachsen der Bürokratien begleitet einen Vorgang allmählicher Sinnenschrumpfung. Produziert werden »ideale Befehlsvollstrecker, die sich als bessere Wesen fühlen und die, zur Beruhigung eines nur noch geahnten Gewissens, stets darauf verweisen können, dass hinter ihnen die kompakte Vorentscheidung eines Kollektives stehe, dessen Sittlichkeit nicht diskutiert werden dürfe. Nicht die atomaren Kräfte an sich werden die Ursache für künftige Katastrophen sein, sondern die unzureichende Herzensbildung einer auf Vorteil und Macht bedachten Rasse.« Diese alarmierende und zugleich lähmende Gewissheit begleitete Jahnn ins Grab.

 

Jean Anouilh: Der arme Bitos oder das Diner der Köpfe (und weitere)

Jean Anouilh, ein »Mann ohne Biographie«, wie er sich selbst nennt, lebt ausschließlich auf das Theater bezogen. Er schreibt keine Gedichte, keine Prosa, keine Essays. Er schreibt nicht für Zeitungen. Er gibt so gut wie keine Interviews. Ab und an hält er eine Rede – bezogen auf das Theater. Oder er schreibt einen offenen Brief – bezogen auf das Theater. Den achtjährigen Anouilh begeistern Operetten und Boulevardstücke, der zwölfjährige verfasst Versdramen. Mit 15 ist er Stammgast an den Pariser Bühnen. Mit 19 wird er Sekretär eines erfolgreichen Theaterregisseurs. Mit 20 heiratet Anouilh eine (später von ihm bevorzugt beschäftigte) Schauspielerin. Die Hochzeitsfeier findet in der Theaterkulisse von Giraudoux´ erfolgreichem Stück Siegfried statt. Für die Hochzeitsfeier seiner Tochter, ebenfalls eine Schauspielerin, schreibt er das Stück Cècille oder die Schule der Väter, in dem die Tochter unter der Regie des Vaters die Hauptrolle spielt. Anouilh Biographie ist ein Stück Theatergeschichte – nichts weiter.

Zuweilen bezeichnet sich Anouilh mit unverhohlenem Stolz als einen »Stückefabrikanten«. Und in der Tat ist das exzellente Bearbeiten eines Dialoges, das Herausarbeiten einer dramaturgischen Wirkung, kurzum, das Verfertigen eines wohlgezimmerten Dramas genau das, was den Künstler Anouilh ausmacht. Er ist kein Dichter, aber er kann das schreiben, was man eine »Bombenrolle« nennt. Das Spielerische bleibt dabei stets sichtbar, Slapstick-Gags und Pantomimen, Clownerien und musikalische Untermalung werden eigenwillig einbezogen. Jedoch ist Anouilh mehr als ein Autor von ca. 30 Stücken. Er ist ein Philosoph der Liebe und des Theaters, und vor allem ist er Psychologe. Die Liebe ist ihm wundersames Heilmittel der Seele und Schlüssel zur Wahrheit. Oft sind es gerade die Außenseiter (und vornehmlich Frauen), Ausgestoßene, die bei Anouilh die Reinheit großer Liebe und die Verletzlichkeit dieses Zustandes erfahren: die Mörderin Medea, die sich prostituierende Eurydice und das leichte Mädchen Jeanette (als Pendant zur rechtschaffenen Julia in dem Drama Romeo und Jeanette). Eine Don-Juan-Figur streut in Der Herr Ornifle lustige Aphorismen über die Liebe und Verführungsweisheit ins Publikum. In dem Stück Ardèle oder das Gänseblümchen wird die Thematik der Liebe als absurdes Kabarett in Szene gesetzt.

Neben dem Ahnvater Jean Giraudox, der Anouilh die Erkenntnis vermittelt hat, dass man im Theater eine poetische und künstliche Sprache sprechen kann, die wahrer bleibt als stenographierte Konversation, sind Pirandello und Molière die wichtigen Anreger. Die Auseinandersetzung mit Molière ist dabei zur Lebensaufgabe geworden. Molière, sagt Anouilh, habe das Tier Mensch wie ein Insekt aufgespießt und löse mit feiner Pinzette seine Reflexe aus. Anouilhs Stücke sind oft voller Anspielungen auf das Werk des heiligen Zunftmeisters, nicht selten werden Gestalten aus verschiedenen Molière-Stücken in Anouilhs Theater zusammengeführt . Auch Molière war ja ein reiner Theaterschriftsteller – ein »Ausgestoßener«, dem nach den Gesetzen des 17. Jahrhunderts ein christliches Begräbnis verwehrt bleiben musste, wie all jenen Schauspielern, die ihrer Berufung auch in der letzten Beichte nicht abzuschwören bereit waren.

Anouilh inszeniert »Theater auf dem Theater«. Es ist also dieses »Bleib ruhig, es ist alles nur Theater« mitinszeniert. Das Theater gewinnt so die Anlage eines Experimentierfeldes. Und der Zuschauer wird zum Assistenten des Experimentators. Das Stück Jeanne oder die Lerche – eine Neubearbeitung des Jeanne-d Àrc-Stoffes – beginnt z. B., entgegen der traditionellen Darstellung gleich mit der Befragung durch die Heilige Inquisition. Das Geschehen bis dahin wird in der Art der Collage eingeblendet, wobei die Schauspieler neben ihrem Rollenspiel dieses und den Handlungsablauf zugleich auch kommentieren, ja sogar scheinbar in die Regie des Stückes eingreifen, dieses zerpflücken und auf den Kopf stellen, so dass die Scheiterhaufenszene letztendlich abgebrochen wird zugunsten der Krönungsszene, die einen versöhnlicheren Schluss des Stückes abgibt. Das ist nicht nur Entmythisierung der Historie, es ist auch die Entmythisierung von Theater-Tabus. Das Stück wurde nach der Premiere in Paris 600 mal wiederholt, 208 mal wurde es am Broadway gegeben. Andere Erfolgsstücke Anouilhs, neben den bereits erwähnten Medea, Eurydice, Romeo und Jeanette und der Herr Ornifle sind Der Reisende ohne Gepäck (die Geschichte eines Gedächtnisverlustes), Becket oder die Ehre Gottes (die Geschichte des Erzbischofs Thomas Becket, der die Unabhängigkeit der Kirche gegenüber dem König verfocht und 1170 in der Kathedrale von Canterbury ermordet wurde; diese vielleicht das erfolgreichste Stück, dessen Paraderollen Schauspielern wie Anthony Quinn, Laurence Olivier, Richard Burton u. w. angezogen haben), Antigone (eine eigenwillige Interpretation der klassischen Vorlage) und Der arme Bitos oder das Diner der Köpfe. Letzteres ein Stück mit mehreren Ebenen. Diner der Köpfe – ein Gesellschaftsspiel, bei welchem man die Identität einer historischen Gestalt annimmt und deren Handlungsgrundsätze mit den eigenen Intentionen verbindet. Die Hauptgestalt Bitos/Robespierre gibt das Beispiel eines totalitären Herrschers. Anouilh lässt ihn bekennen: »Es ist gefährlich, wenn Menschen von sich aus etwas entscheiden können. Man muss Komparsen einsetzen, auf die man sich verlassen kann, Kreaturen, die ein Nichts sind, von mir aus sogar Idioten, man muss sie ineinander so verzahnen wie ein Räderwerk und ihre Macht in winzige Verantwortlichkeiten aufsplitten, so dass sie nie persönlich an einer Sache Anteil nehmen können. Man muss alles Menschliche aus diesem Vorgang verbannen, damit sich alles ganz automatisch und wie von selbst erledigt.« Hier weht freilich Auschwitz-Luft über den Bühnenrand. Das Stück als Ganzes betrachtet ist eine Farce, schwarz in schwarz.

Anouilhs Stücke enden zumeist mit dem Untergang der Hauptfigur, mit dem Scheitern des Individuums an den Barrieren der Gesellschaft, den »menschlichen Schöpfungen, die sich gegen den Menschen wenden«, sobald sie ein Eigenleben gewinnen. Die Verteidiger der Menschlichkeit in Auseinandersetzung mit der unmenschlichen Logik der Staatsmaschinerie. Macht, Bürokratie und grassierende Schicksalsergebenheit begünstigen den Zustand der Resignation. Anouilh wird in diesem Zusammenhang nicht selten Desillusionierung vorgeworfen. Seine Stücke, im wesentlichen zwischen 1931 und 1959 entstanden, sind natürlich nicht frei von Skeptizismus. Wichtig ist jedoch festzustellen, dass Anouilh mit Liebe, Hass, Triumph und Untergang als Künstler derart operiert, dass aus der scheinbaren »Desillusion« der Hauptgestalt (Antigone, Romeo und Jeanette) Selbstvertrauen des Zuschauers erwachsen kann. Jener geht gestärkt aus diesem Theaterabend und hat einen Begriff von Freiheit für sich gewonnen – keine von außen verordnete politische Freiheit, sondern ein von innen sich bildendes Gefühl individueller Freiheit.

 

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt (und weitere)

Von ihrem ersten Gedichtband gedächtnisschleifen (1995), dessen bilderreiche, sprachschöpferische Poeme in Form einer Schleife um ein poetologisches Zentrum kreisen, zeigte sich die deutsche Literaturkritik von Ulrike Draesner fasziniert. Ebenso vom ersten Roman Lichtpause, der die Geschichte der unglückliche Kindheit eines sensiblen Mädchens in den 60er Jahren erzählt. In den von Draesner selbst als »Radikal-Übersetzungen« bezeichneten freien Übertragungen von Shakespeare-Sonetten (2000) werden diese unter dem Aspekt des Klonens neu gelesen. Ihr zweiter Roman Mitgift (2002) erzählt in rhythmischer Sprache und poetischen Bildern die komplizierte Geschichte familiärer Verstrickungen. Der eine Erzählstrang handelt von Anita, der zweiten Tochter einer schlesischen Flüchtlingsfamilie. Das Mädchen, geboren mit einer sexuellen »Missbildung« (Hermaphroditismus) wird auf Druck der Eltern verstümmelt und zu einer erfolgreichen Juristin, Ehefrau und Mutter umgemodelt. Erzählt wird dies aus der Sicht der älteren Schwester Aloe, einer Kunsthistorikerin und Fotografin, die mit ihrer Liebe zu einem Astrophysiker, einer intensiv beschriebenen Magersucht und der alten Hassliebe zu ihrer androgynen Schwester ringt. Die Kritik lobte den von vielen Literaturbezügen durchwirkten Roman sowie die »glasklaren Beschreibungen, perfekt rhythmisierten Satzkaskaden, überraschenden Bilder und Assoziationen«. Draesners dritter Roman Spiele (2005) behandelt das Urdrama des Terrorismus, die Geiselnahmen bei den Olympischen Spielen 1972, wobei die Auswirkungen des Politischen auf das private Schicksal im Fokus stehen.

In ihrem 2007 erschienen Essay-Band Schöne Frauen lesen, an dem die Kritik die »intellektuelle Freiheit … und die in jeder Zeile spürbare persönliche Lesart der Essayistin« hervorhebt, nähert sich Ulrike Draesner auf eine sehr erhellende Weise dem Werk von Annette von Droste-Hülshoff, Virginia Woolf, Ingeborg Bachmann u. a. und untersucht deren Relevanz für ein heutiges Schreiben. Sie zeigt, wie sehr die »schreibende Frau« auch immer ein Skandal war, schön und schräg, beängstigend und verwirrend zugleich. 2013 folgte der Essayband Heimliche Helden (über das Nibelungenlied, Heinrich von Kleist, Jean-Henri Fabre, Thomas Mann, James Joyce, Karl Valentin, Gottfried Benn, Hans-Joachim Schädlich u. a.). Ulrike Draesner spürt darin den Ursprüngen der Idee vom Helden nach, sie zeigt Schriftsteller in ihren heldischen und hinreißend unheldischen Posen und erzählt mit stupendem Wissen und großer Originalität von ihren Leseabenteuern.

Thema des vielschichtigen Romans Sieben Sprünge vom Rand der Welt (2014) ist eine Familiengeschichte, die über nahezu 120 Jahre reicht, zugleich die Kreuzung von zwei parallelen Migrationsschicksalen, der Vertreibung einer schlesischen Familie, die in Bayern eine neue Bleibe findet, und der Zwangsumsiedlung (Repatriierung) einer polnischen Familie aus Ostpolen nach Neu-Polen. Der Roman strukturiert sich in zwei Erzählstränge, die neun Ich-Erzählern zugeordnet sind. Für jeden Erzähler ist eine eigene Sprache gefunden worden, jeder Erzähler bringt weitere Themen in den Roman ein, der so auch als Entwicklungs-, Kriegs- und Wissenschaftsroman gelesen werden kann. Die zentrale Gestalt des Romans ist Eustachius Grolmann, der als Kind in der Zeit des Dritten Reichs aufwächst und als Fünfzehnjähriger die Vertreibung der Familie aus Schlesien erlebt, später Medizin und Biologie studiert und ein berühmter Affenforscher wird. Die Alterseinsichten dieser Figur spannen einen weiten Rahmen, in dem Ulrike Draesner eine auf verhaltenspsychologischen und zeitgeschichtlichen Thesen fußende anthropologische Diskussion entfacht, die sich durch den gesamten Roman zieht. Den Kern des Romans bilden die Erzählströme der Elterngeneration der Hauptgestalt. Die Berichte von Hannes und Lilly Grolmann reichen über 80 Jahre, von der Wilhelminischen Zeit bis in die prosperierende Bundesrepublik, und behandeln all jene Fragen, die seinerzeit als unbeantwortete und verdrängte Fragen die Revolte der 68er Generation ausgelöst hatten – Euthanasie- und Kriegsverbrechen im Dritten Reich, dazu die grausamen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung und sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Der Bericht der Halka Nienaltowska, einer jungen Repatriantin, behandelt die tragischen Umstände und Wirren der Zwangsumsiedlung von Lemberg-Lwiw nach Breslau-Wrocław – in ein »deutsches Polen, von Russen bewacht«, ein zerschossenes »Vakuum voller Leichen, Dreck, Schande und Gefahr«. Da der Spannungsbogen des Romans bis in die Jetztzeit reicht, kommen auch die Folgegenerationen bis hin zu heutigen Jugendlichen zu Wort. Auf diese Weise werden aktuelle Weltpolitik und Zeitgeschehen in den Erzählstrom einbracht, wodurch die historischen Vertreibungsszenarien von 1945 und die heutigen globalen Migrationsbewegungen in einen gemeinsamen Kontext gerückt werden.

Draesner nimmt den Standpunkt ein, dass sich die Intelligenz eines Romans in seiner Form zeigt. In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen im Wintersemester 2016/17 fragt sie danach, »was wir durch Literatur erfahren oder wissen können«.

Wir leben in einer Zeit, in der vieles nur noch flüchtig aufgenommen wird, weil uns angeblich die Zeit für ein langsameres und eindringlicheres Aufnehmen fehlt. Bei Ulrike Draesners Büchern stelle ich mit gerade solche Fragen nicht. Hier ist mir alles wichtig, jeder dieser unglaublichen Essays, jeder dieser komplexen Romane, jedes dieser seltsamen Gedichte, die sich oft erst beim mehrmaligen Lesen entschlüsseln lassen. Bei Ulrike Draesners Büchern halte ich es mit der Weisheit der alten chinesischen Philosophie: »Wenn Du es eilig hast, setz Dich.«

 

Letzten Monat lasen Sie Sechs Bücher aus dem Regal von Josefine Gottwald.

 

Axel Helbig (*1955) lebt als Autor, Herausgeber und Rezensent in Dresden. Er ist Lyriker, Essayist, Redakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift für Literatur und Kunst OSTRAGEHEGE. Unter seiner (Mit-)Herausgeberschaft sind zahlreiche Anthologien erschienen, u.a. die internationale Sammlung »Das Land Ulro nach Schließung der Zimtläden«, Literarische Arena, Dresden 2000 (mit Peter Gehrisch), die sächsischen Lyrikanthologien »Es gibt eine andere Welt. Neue Gedichte« (2011, gemeinsam mit Andreas Altmann) und »Weltbetrachter. Neue Gedichte« (2020, gemeinsam mit Róža Domašcyna). Viele seiner Essays und Interviews sind in Buchform erschienen, z.B. »Annäherung an das Unsagbare. 33 Verführungen zur Literatur der Moderne« (Essays, Leipzig 2006) und »Der eigene Ton. Gespräche mit Dichtern« (Leipzig 2007). Helbig ist Mitherausgeber der Reihe »Poesiealbum« im Märkischen Verlag Wilhelmshorst.  Seine eigene Lyrik ist u.a. erschienen in der Edition Dreizeichen Meißen.