Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …
Man liest heute nicht mehr viele Bücher zweimal. Dennoch, ich verbünde mich mit einer Klägergemeinschaft, indem ich sage: Es ist zu viel verlangt, sich für sechs Werke entscheiden zu müssen! Da wäre es ja leichter, nur eins zu wählen – dann würde man natürlich eines nennen, das alles hat, so wie Krabat.
Ich betrachte dieses Essay darum als Stream of Conciousness einiger Werke, die mich zu mir gemacht haben. Schlaglichter, wie sie mir auch in einem Gespräch einfallen würden. Einen Versuch, den man immer ergänzen kann; und jeder darf das mit seinen eigenen Gedanken tun.
Anne Rice: Pandora.
Man kann sich kaum vorstellen, dass es mal eine Zeit gab, in der man Fantasyliteratur suchen musste. Bevor Harry Potter bei uns einschlug, schlich ich in der Bibliothek um die Regale von Stephen King und John Saul – beide habe ich für mein Schreiben als Mentoren empfunden, aber noch enger verbunden fühlte ich mich Anne Rice; sie war es, die mir die Unsterblichkeit zeigte.
Als ich meinen ersten Roman beendete, handelte er von Vampiren, die das Blut Unschuldiger tranken. Heute ist das anders, heute glitzern sie, statt zu verbrennen und ernähren sich vegetarisch. Die düstere Romantik zog mich in meiner Jugend an; vielleicht war der Tag, an dem ich das erste Mal ein Buch von Anne Rice las, der Tag, an dem meine Kindheit endete. Ich hatte vorher nie so tiefe Weiblichkeit erfahren – und das, wo ihre Protagonisten meist Männer mit durchaus homoerotischen Neigungen sind … Es war ihr Stil, der mich tief berührte, eine Perspektive, die nicht nur durch die Augen der Figuren sah, sondern mitten in ihren Gefühlen steckte.
Pandora behandelt die Unsterblichkeit im Kontext des römischen Griechenlands – eine Epoche, die mich fasziniert, da sie Zivilisation und archaische Riten nebeneinandersetzt. Die Römerin Lydia ist eine Frau, deren Familie politisch verfolgt wird, und die darum nach Antiochia flieht. Dort baut sie sich einen Hausstand auf, mit Geld und mit Geheimnissen. Eine Frau, die Entscheidungen trifft. Sie glaubt sich verstanden, als sie dem Isiskult folgt, erlebt Offenbarung in der Lektüre Ovids. Anne Rice hätte als deutsche Autorin vielleicht nicht erfolgreich werden können, weil sie für die Genreliteratur zu viel Anspruch mitbringt. Twilight-Leser werden sie nicht mögen, ihre Vampire heiraten nicht – sie quälen sich, eine Ewigkeit lang. Ihr Stil liest sich so komplex wie der eines Paul Auster, dabei so emotional wie Virginia Woolf, aber ihre Themen entspringen tiefen Sehnsüchten, dem Volksglauben, könnte man sagen. Seitdem suche ich eine zweite Autorin, die so schreiben kann, vielleicht muss ich es selbst werden …
Epilog: Ich glaube – das nur am Rande –, die Kerbe des Vampirismus vernarbte in mir, weil sie zweimal tiefer gefurcht wurde: Bei der Entdeckung von Roman Polanski und dem Musical seines Films mit den wunderbar lyrischen Texten von Michael Kunze. Bis heute schreibe ich am liebsten über Tote.
Carlos Ruiz Zafón: Marina.
Zu den Dingen, die ich liebe, gehört das Iberische. Ich weiß nicht, ob ich das schon sagte … Ich nutze darum Ihren Lesefluss für einen Nachruf auf Zafón.
Carlos Ruiz Zafón starb im Juni mit 55 Jahren an Darmkrebs – nach meinen Erfahrungen mit Gastroenterologie-Patienten ist das einer der furchtbarsten Wege zu gehen. Er hinterließ mehr als Bilder und Gedanken, er hinterließ »verpfützte Straßen« und einen »Wald von Mausoleen«.
Im Schatten des Windes heißt es: »Leider habe ich dieses Exemplar des Roten Hauses nicht mehr. […] Ich könnte versuchen, dir die Handlung zu erzählen, aber das wäre, als beschriebe ich eine Kathedrale als Steinhaufen, der in eine Spitze mündet.« Diese Kathedrale sehen, das ist Zafón lesen.
Marina ist ein echter AllAge-Roman. Daneben sein persönlichstes Werk. Es leitet ein mit: »Wir alle haben im Dachgeschoss der Seele ein Geheimnis unter Verschluss. Das hier ist das meine.« Das düstere Vermächtnis der Puppen und schwarzen Schmetterlinge, das Schattendasein eines genialen Kopfs, der nur von der Gesellschaft isoliert leben kann, und der magische Realismus von Barcelona im Regen … Ich habe nichts Vergleichbares gefunden.
Zafón hat etwas Morbides, wie man es auch bei Marquez oder Isabel Allende findet. Sie malen mit kräftigen Farben. Das kann verstörend sein, denn dieses Aufrütteln hallt im Klangkörper des Lesers als Echo nach. Manchmal geht es nie wieder.
Einmal erlebte ich eine lustige Anekdote mit diesem Buch: Ich fotografierte Marina an einem Gewächshaus am Lingnerschloss, mit einem schwarzen Schmetterling. Just in diesem Moment stieg eine Gruppe von Spaniern aus ihrem Bus und fragte mich (natürlich auf Spanisch), ob das Buch etwa hier spiele. Sie freuten sich alle, an Zafón erinnert zu werden.
Noch ein Gedanke: Ein Denkmal wird ihm, meiner Meinung nach, auch im Werk von Martin Suter gesetzt. Ich weiß nicht, ob das stimmt, es ist nur ein Verdacht von mir: Montecristo, die Geschichte um Jonas Brand und Marina Ruiz ist nicht nur eine Hommage auf Dumas …
Alice Munro: Liebes Leben.
Man schenkte mir den ersten Band von Alice Munro als »Das Buch einer Nobelpreisträgerin«. Danke, sagte ich, und stellte es ins Regal. Doch über die Zeit, die es mich beobachtete, schien es mich in sich aufzunehmen. Und als ich es das erste Mal aufschlug, saugte es mich mit seltener Heftigkeit ein. Es war Der Traum meiner Mutter.
Mittlerweile besitze ich eine eigene Minibibliothek, diese wundervollen Ausgaben werden Short Storys besonders gerecht. Schriftsteller sind Beobachter. So still, wie ihr erstes Buch mich ansah, beobachtet Alice Munro Menschen und ihre Beziehungen. Die Frau, die sterben wird, und sich auf ein Liebesabenteuer einlässt. Das Mädchen, das seine Schwester verunglücken sieht und seinen Eltern nichts sagt. Hier schreibt jemand, der Menschen kennt und Dinge erlebt hat. In den Worten steckt Gänsehaut.
Ich weiß nicht, welches mein Lieblingsbuch von ihr ist. Liebes Leben habe ich deshalb gewählt, weil der Titel beispielhaft für ihr Werk steht. Pfosten und Bohlen ist eine Geschichte aus der Sammlung Himmel und Hölle. Sie handelt von Realitäten und endet mit: »Das geschah alles vor langer Zeit. In North-Vancouver, als sie in dem Pfosten-und-Bohlen-Haus wohnten. Als sie vierundzwanzig Jahre alt war und noch neu im Tauschhandel.«
Seltsamerweise denke ich an die Kanadierin auch immer, wenn ich Lucia Berlin lese. Sie war wie eine Alice Munro, die den Puls Südamerikas spürte. Echtes Leben, mit allen Abgründen.
Und noch ein wunder Punkt: In Munros Biografie spiegelt sich etwas, das ich von Astrid Lindgren kenne, und das mich tief bewegt: Sich von seinen Kindern zu trennen – für die Liebe oder das Überleben – ist das härteste Opfer, das ich mir für eine Frau vorstellen kann. Ich habe es auch gebracht.
Sylvain Tesson: Über die Unermesslichkeit der Welt.
Als ich vierzehn war, hatte ich in Dippoldiswalde Gesangsunterricht. Was mich neben dem Musical interessierte, war die Revolution. Ich las mich auf einem Geländer im Park so tief in Les Misérables hinein, dass ich glaubte, mit Hugo selbst zu sprechen. Spätestens jetzt hätte mir klar sein müssen: Ich war eine Romantikerin. Ich setzte die Traditionslinie mit Jules Verne fort und landete folgerichtig bei Sylvain Tesson.
Die französische Literatur hat etwas, das umso mehr fehlt, je verbissener unser Alltag ist: Leichtigkeit. Wir brauchen sie nicht nur in der Kindererziehung oder der Kunst, wir brauchen sie zum Überleben.
Tesson scheint durch die Turbulenzen der Welt zu tanzen. Im ersten Buch, das ich von ihm las (Matthes und Seitz), erklärt er, wie er nachts ohne Hilfsmittel Kathedralen erklimmt. Inzwischen schreibt er für Luchterhand und lebt als Eremit am Baikalsee, bis ihn seine Geliebte verlässt. Ein Mann für gewisse Stunden: Seine Antwort darauf ist eine Motorradtour auf den Spuren Napoleons und ein Fußweg – durch ganz Frankreich. Schließlich fällt er betrunken vom Dach und stirbt dabei fast. Beim Lesen kann einem leicht dasselbe passieren … Warum schreiben so wenig Autoren über echte Abenteuer?
Tesson hat sich vorgenommen, »sich […] auf die Suche nach den Göttern in seinem inneren Wald zu machen, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen«. Er findet die Inseln, »die dem Seegang trotzen, vom hastigen Leben gleichgültiger Städter umspült«. Bei aller Bildung und Kenntnis des Unrechts in der Welt bleibt ihm ein zwinkerndes Auge. Als Lektüre für den Aufenthalt in der Einöde empfiehlt er Kierkegaards »Krankheit zum Tode« wie auch Lawrence‘ »Lady Chatterlys Liebhaber«. Natürlich daneben »Die Stoiker« und »Robinson Crusoe«. In seiner Liste der Gründe, weshalb er in eine einsame Blockhütte ging, stehen »Ich war zu geschwätzig«, »Zu viel unbearbeitete Post« und »Es ist hier besser geheizt als in meiner Pariser Wohnung«.
Kurzer Bericht von der Unermesslichkeit der Welt handelt von Kathedralen und Wäldern, von den Grenzen des Humanismus und von der Bewegung des Körpers, die der Schnelllebigkeit der Zeit Langsamkeit entgegensetzt. Als eingefleischter Metropolist könnte man hier skeptisch werden. Aber Dresden ist nicht New York. Und selbst Tokio ist leise und grün, wo Menschen in sich ruhen sollen.
Ich ende mit einem Gedichtzitat aus »In den Wäldern Sibiriens«: »Auf dem weißen Schnee/Die gestrichelte Linie:/Heftnaht der Schritte.«
Kennen Sie diese Bücher, bei denen Sie mal im Zug laut lachen mussten und von den Umsitzenden gefragt wurden, was Sie lesen? Warum sollte Kultur kein Genuss sein.
Ray Bradbury: Fahrenheit 451.
Im Moment lese ich fast nur Klassiker. Ab und zu versuche ich es mit jungen Autoren aus dem Selfpublishing, meistens enttäuschen sie mich. Mit steigender Flut ist es umso schwieriger, die Stimmen zu finden, die etwas zu sagen haben. Zu oft werden Gedanken nicht selbst gedacht.
Bradbury ist ein Autor, von dem man ohne Bedenken sagen kann, dass er selbst denken konnte – auch wenn er für seine Zeit unwahrscheinlich bekömmlich ist, ich möchte sagen: modern.
Der American Way of Storytelling hat mir für mein Schreiben viel mitgegeben: Tatsächlich kann man scharfe Gedanken und Lesegenuss verbinden! Heute haben wir keine Zeit mehr, etwas auf den Punkt zu bringen, also schreiben wir »längere Briefe« (wie vielleicht Goethe sagte). Bradbury schrieb noch mit Schreibmaschine, und wie Hemingway schrieb er fürs Geld: Tausende Kurzgeschichten, unglaublich viele Drehbücher, die legendären Mars-Chroniken, natürlich auch ein Buch übers Schreiben – treffend: »Zen in der Kunst des Schreibens«. Auch hier wieder: Langsamkeit.
Fahrenheit 451 interessierte mich lange Zeit nicht. Doch als auf einem Drehbuchkongress das Buch übers Schreiben vom Tisch fiel, wollte ich mir erschließen, wie ein genialer Kopf seine eigenen Ratschläge umsetzt. Ich las mich quer durch die Kurzgeschichten, dann besprachen wir den Roman im Literaturclub ausführlich und kontrovers – seither kommt er mir mit jeden Tag bedeutsamer vor.
Ein Mann, der sein Leben lang Bücher vernichtet und dann lernt, sie zu lieben. Dabei sogar gegen sein System aufbegehrt. Eine Frau, die hoffnungslos verloren ist, in der Welt ihrer Serien lebt und fiktionale Charaktere als ihre Vertrauten sieht. Eine Beziehung ohne Nähe. Dann der Spaziergänger, der sich aus unerfindlichen Gründen nicht vorm Fernseher befindet (und wohl auch Hermann van Veen inspiriert hat). Absurdität des Alltags. Dystopien sind so schön schauderhaft, und man kann erleichtert aufatmen, denn so schlimm ist es mit uns ja noch nicht.
Man kann kaum glauben, wirklich kaum glauben, dass dieses Buch von 1953 ist.
Ich mag die Verfilmung Equilibrium mit Sean Bean, auch wenn sie womöglich nichts mit dem Buch zu tun hat, sie kommt mir inspiriert davon vor. Es geht um »Sinnesverbrechen«, und die Idee, dass Menschlichkeit abgelegt werden muss, weil sie ein Makel ist, der uns von Maschinen trennt. Das beobachten wir heute in Entscheidungsebenen: Je rationaler, desto bewundernswerter. Vielleicht liegt das daran, dass andernorts zu viel Emotionalität herrscht. Auf seine Order zu verweisen, ist aber nicht echte Verantwortung, ebensowenig wie ungerichtete Wut reiner Menschlichkeit entspricht. Zum Glück gibt es einzelne Instagrammer, die sich in Achtsamkeit üben – aber das kann ein ernsthafter Mensch nur belächeln.
Ferdinand von Schirach: Die Herzlichkeit der Vernunft (mit Alexander Kluge).
Auf die Frage »Was macht ein großartiges Kunstwerk aus?« kann man antworten: Eine moralische Frage. Man kann auch anderes sagen: Die Abbildung von Menschlichkeit. Meisterhaftes Handwerk. Atmosphäre, die Faszination erzeugt. Schirach bedient alle Fächer mit großer Sicherheit.
Ich muss gestehen, ich habe mich mit dem Werk von Kluge bisher zu wenig befasst. Aber es ist natürlich, in so wenig Lebensjahren, dass die Liste der geplanten Lektüre länger sein muss als man selbst. Was mir an diesem Buch gefällt, ist der dialogische Charakter. Zwei Männer, die dreißig Jahre trennen, verbindet eine Liebe zu Kleist. Was bedeutete Sokrates für Voltaire, wie kommt man vom »Findling« zur Heisenbergschen Unschärferelation? Die zentrale Frage ist, wie Menschen miteinander umgehen.
Ich kannte Terror vom Hörensagen. Doch damals habe ich noch nicht jede Neuerscheinung von Schirach gekauft. Seit ich Tabu gelesen habe, tue ich es, ungesehen – so muss es doch mit einem guten Autor sein. Selbst wenn er Strafverteidiger ist.
Die Konstruktionen von Schirach stehen für mich den Romanen von Ian McEwan nahe. Ich kann gar nicht sagen, warum. Wunderbare Charakterisierungen? Vor allem wohl, weil sie uns zeigen, wie dicht wir am Abgrund laufen. Hinter der Leinwand war alles Schattenspiel, jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit.
Dieser Mann hat etwas zu sagen, und er tut es auf eine unverschnörkelte, kluge Art. Es lebe die Dramaturgie, die durch geniale Momente Erkenntnisse in uns verankert.
Bleibt mir, Ihnen Dank zu sagen. Dass Sie so tief in mein Regal geschaut haben. Natürlich war das kein Artikel über sechs Bücher. Ich hatte gehofft, Sie merken es nicht.
Letzten Monat lasen Sie Sechs Bücher aus dem Regal von Manuel Frey.
Josefine Gottwald schreibt Artikel, Drehbücher und phantastische Romane. Sie hat an der TU Dresden Biologie studiert und ist seit ihrer Schulzeit selbstständig. Zu ihrer Familie gehören zwei Töchter, drei Bonuskinder und ein Arabisches Vollblut. Gemeinsam mit dem Autor Ralf Günther lebt sie im Dresdner Umland. Künstlerisch hat sie sich der Mythologie und dem Volksglauben verschrieben. Sie nutzt archaische Kulturen, um die Facetten menschlichen Zusammenlebens zugespitzt darzustellen; ihre Figuren sind Elfenköniginnen, Nixen und Dämoninnen und verkörpern weibliche Naturverbundenheit ebenso wie den Kampf des Urvertrauens gegen unsere tiefsten Ängste.