Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …
Ein Leben ohne Bücher ist möglich, aber sinnlos. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mein erstes Buch gelesen habe, aber ich habe sehr früh damit angefangen und nie wieder aufgehört. Dass ich heute mit Bücherlesen sogar Geld verdienen kann, empfinde ich als Geschenk und großes Glück. Denn was gibt es Schöneres?
Als Literaturkritikerin gehört das Lesen zu meinem beruflichen Alltag. Es gibt viele Bücher, die ich lese, weil ein Radiosender sich eine Besprechung wünscht oder weil ich die Lesung einer Autorin oder eines Autors moderiere. Lesen bedeutet in diesen Fällen »Arbeit«, die ich aber gern mache, weil oft Entdeckungen dabei sind, Titel, auf die ich selbst nicht gekommen wäre, Autorinnen und Autoren, die ich noch nicht kannte und die mich mit ihren Büchern überraschen und überzeugen.
Auch als Geschäftsführerin des Sächsischen Literaturrates lese ich viel, vor allem natürlich die Bücher sächsischer Autorinnen und Autoren. Dabei bin ich immer sehr angetan davon, über wie viele schreibende Talente der Freistaat verfügt. Hier entstehen Romane, Gedichtbände, Kinderbücher, Sachbücher von hoher literarischer Qualität, die über Sachsen hinaus glänzen und gern gelesen werden.
Als Autorin, die selber schreibt, lese ich vor allem historische Sachbücher, die sich mit den Themen beschäftigen, für die ich mich interessiere. Zuletzt waren das der Amsterdamer Exilverlag Querido und der Strand als Sehnsuchts- und kulturgeschichtlicher Ort. Hier verbinden sich Arbeit und Vergnügen auf ideale Weise, ich kann in Bibliotheken und Antiquariaten stöbern und echte literarische Schätze heben.
Aber bleibt bei meinen drei professionellen Rollen überhaupt noch Zeit und Lust dazu, Bücher einfach so und rein zum Vergnügen zu lesen? Nicht viel, aber doch und immer gern. Dabei greife ich am liebsten zu Klassikern bzw. Klassikerinnen, Bücher von Autorinnen vergangener Jahrzehnte, die großartige Texte geschrieben haben, später in Vergessenheit geraten sind, aber glücklicherweise von den Verlagen wiederentdeckt werden. Außerdem interessiere ich mich privat für niederländische und flämische Literatur, weil ich oft in den Niederlanden bin und dort immer wieder literarische Entdeckungen mache. Gern lese ich auch Memoirs und autofiktionale Texte von Menschen, die mir schon etwas Leben voraushaben, denn sie haben oft eine Menge zu erzählen. Dass es in letzter Zeit eher Schriftstellerinnen als Schriftsteller sind, war keine bewusste Entscheidung, aber vermutlich eine unbewusste.
Irmgard Keun: D-Zug dritte Klasse
D-Zug dritter Klasse von Irmgard Keun spielt ausschließlich in einem Eisenbahnabteil. Auf dem Weg von Berlin nach Paris kreuzen sich in dieser tragikomischen Geschichte die Schicksale einer Handvoll Menschen. Ein »dicker mondgesichtiger Herr« ist dabei, eine »behäbige Frau« und – die zentrale Figur – Lenchen, ein junges verträumtes Ding »in dem weniger glücklichen als anstrengenden Besitz von drei Männern, von denen keiner die Existenz des anderen auch nur ahnte«.
Als Irmgard Keun diese Zeilen im Jahr 1937 schreibt, hat sie Deutschland, wo ihre Bücher seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr erscheinen dürfen, bereits verlassen und ist ins Exil gegangen. Gerade 32 Jahre alt, war sie zunächst nach Ostende gezogen, ein in die Jahre gekommenes Seebad an der belgischen Küste, wo sie als Kind hin und wieder die Ferien verbracht hatte. Ich habe Irmgard Keun schon immer gern gelesen. Das kunstseidene Mädchen oder Gilgi, eine von uns erzählen von eigenwilligen, schlagfertigen Frauen, die der Welt auch heute noch gut zu Gesicht stünden. Noch näher ist mir die Autorin gekommen, als ich für mein Buch Hölle und Paradies. Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur recherchiert habe. Denn im Querido Verlag ist D-Zug dritter Klasse 1938 erschienen. Auch Nach Mitternacht und Kind aller Länder sind in diesem Exilverlag herausgekommen.
Dass Irmgard Keun nach der Rückkehr aus dem Exil in Westdeutschland kaum wahrgenommen wurde und erst in den 1970er Jahren ein kleines Comeback feierte, kann man rückblickend nur als Skandal bezeichnen. Immerhin werden ihre Bücher seit einigen Jahren wieder aufgelegt, ist mittlerweile ihr Gesamtwerk in drei dicken Bänden erschienen und wird sie auch von jungen Autorinnen als Vorbild genannt.
Brigitte Reimann: Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955–1963
»Wieder – oder immer noch – verstimmt, nervös, aufgebracht gegen jeden und alles. Verfluche das Nest und die Idee, hierherzukommen – und weiß dabei, dass ich übermorgen oder nächste Woche wieder begeistert sein werde, durch irgendein nichtiges Erlebnis, die Begegnung mit einem Menschen, der mir gefällt.«
Als Brigitte Reimann diese Sätze am 14. Februar 1960 in ihrem Tagebuch notiert, ist sie mit großen Erwartungen nach Hoyerswerda gezogen. Hier sollen die Grenzen zwischen der »Intelligenz« und der Arbeiterklasse eingerissen werden, hier will die Schriftstellerin Stoff für ihr Schreiben finden. Doch der Alltag ist von Höhen und Tiefen durchzogen. Die Tagebücher von Brigitte Reimann geben Einblick in das private Leben einer leidenschaftlichen und klugen Frau, die viel schreibt, sich immer wieder neu verliebt, ihre Unabhängigkeit aber nie aufgibt. Gerade weil sie vermutlich nie für die Öffentlichkeit gedacht waren, kann man mit den Tagebüchern von Brigitte Reimann eine außergewöhnliche Schriftstellerin entweder entdecken oder noch näher kennenlernen.
Ich selbst habe Brigitte Reimann erst nach der deutschen Wiedervereinigung gelesen, obwohl ich in der DDR aufgewachsen bin. Doch sie starb bereits früh an Krebs, und zwar in dem Jahr, in dem ich auf die Welt kam. Deshalb sind zu meinen Lebzeiten keine neuen Bücher von ihr erschienen und wurde ihr, wie Irmgard Keun, erst posthum größere Aufmerksamkeit zuteil. Vor allem die Veröffentlichung der Tagebücher Mitte der 1990er Jahre sorgte dafür, dass plötzlich wieder über die Schriftstellerin gesprochen und geschrieben wurde. Die Wiederauflage ihrer Romane, Erzählungen und die erste, von Carsten Gansel verfasste Biografie, haben Brigitte Reimann mittlerweile einen festen Platz im Kanon deutschsprachiger Literatur gesichert. Mittlerweile habe ich fast alles von ihr gelesen und finde ihre Texte großartig, weil sie eine DDR zeigt, an die es sich zumindest zu ihren Lebzeiten zu glauben lohnte. Das mag manche Leute irritieren, aber es wichtig, um das Gesamtbild dieses kleinen merkwürdigen Landes, in dem ich aufgewachsen bin, zu zeichnen und zu verstehen.
Tove Ditlevsen: Gesichter
»Die Hölle umgab sie, und sie verbarg den Kopf in den Händen. Tränen liefen ihr die Wangen herab; es fühlte sich an, als würde ihr Gesicht schmelzen und zwischen den Fingern hindurchrinnen.«
Es ist das Gesicht von Lise Mundus. Sie liegt in einer geschlossenen Abteilung der Psychiatrie, weil sie nach einer Überdosis Schlaftabletten dem Tod nur knapp entronnen ist. Auf den ersten Blick ist ihr Suizidversuch ein unverständlicher Akt, denn Lise Mundus hat scheinbar alles, was sie braucht. Sie ist eine berühmte Kinderbuchautorin, sie hat zwei Söhnen und eine Tochter, ihr Mann ist Staatssekretär, und eine Haushälterin kümmert sich ums Alltägliche. Lises Seelenleben ist jedoch beherrscht von Schmerz und Angst, von Stimmen und einer Obsession für Gesichter.
Nach ihnen hat Tove Ditlevsen ihren Roman benannt. Auch sie gehört zu jenen Autorinnen des 20. Jahrhunderts, die zu ihren Lebzeiten hierzulande nahezu unbeachtet blieben und deren Werk sich erst nach ihrem Tod und in neuer Übersetzung unerwartet erfolgreich erweist. Ihre Kopenhagen-Trilogie Kindheit, Jugend und Abhängigkeit wurde vor einigen Jahren als Meisterwerk der Autofiktion gefeiert. Diese Bücher habe ich atemlos gelesen, weil Tove Ditlevsen schonungslos beschreibt, wie der Wille und das Talent zu schreiben nicht zwangsläufig ausreichen, als gefeierte Autorin glücklich zu werden. Aus einfachen Verhältnissen stammend, viermal verheiratet und in Alltagssorgen gefangen, wird Tove Ditlevsen drogenabhängig und depressiv, und man leidet wirklich mit ihr mit. Eine hochintelligente Frau scheitert am Leben und macht daraus große Literatur. Seit ich selber Bücher schreibe, achte ich besonders darauf, wie eine Autorin schreibt, wie sie ihre Sätze formt, welche Metaphern sie benutzt. In den Büchern von Tove Ditlevsen sind eine gute Schule.
Sigrid Nunez: Der Freund
»Um in unserer Gesellschaft Schriftsteller zu werden, musst du von Anfang privilegiert sein, und die Maxime ist, dass privilegierte Leute nicht mehr schreiben sollten – außer, sie finden eine Möglichkeit, nicht über sich selbst zu schreiben, denn das propagiert nur die Agenda der weißen Vorherrschaft des Patriarchats.«
Dieses Zitat aus Der Freund von Sigrid Nunez klingt wie eine Reaktion auf die drei zuvor genannten erst vergessenen und später wiederentdeckten Schriftstellerinnen.
Sigrid Nunez lebt noch, aber auch sie erfuhrt erst mit 67 und mit diesem Roman die Anerkennung, die sie längst verdient hat. Es ist die wunderbare Geschichte einer New Yorker Autorin mit Apollo, einem sehr großen Hund. Sie hat ihn von einem verstorbenen Freund geerbt, mit dem sie in Gedanken immer wieder das Gespräch sucht. Apollo lebt mit der Erzählerin in einer 45-Quadratmeter-Wohnung, in der Haustiere eigentlich verboten sind. Und obwohl sie anfangs kaum weiß, was sie mit ihm anfangen soll, entwickelt sich zwischen der Frau und dem Hund eine zärtliche Beziehung.
Zugegeben, das klingt alles nach einem leicht abgestandenen Plot, doch die Kunst von Sigrid Nunez liegt gerade darin, diesen Plot bekannten Muster mit scharfem Blick zu sezieren und mit viel Leichtigkeit zu präsentieren. So ist ihr Buch auch eine herrlich bitterböse Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb, in dem es längst schon nicht mehr darum geht, wer das beste Buch schreibt, sondern darum, wer sich am besten verkauft. Die Trauerfeier für den Freund gleicht einer Buchmesseparty, auf dem es vor allem um Gossip, Tratsch und Verträge geht.
Ich liebe Sigrid Nunez, weil sie auf sehr subtile und zarte Art und Weise sehr kluge, sehr feministische, sehr gegenwärtige Romane schreibt. Für mich sind solche Bücher wichtig, weil sie eine Welt beschreiben, die ich kenne, so aber noch nicht betrachtet habe. Denn auch wenn New York weit weg ist, die Befindlichkeiten und Eigentümlichkeiten von schreibenden Menschen sind hierzulande doch ziemlich ähnlich.
Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol
»Das ist er also, der Anfang meiner Mutter. Er liegt in einer wahrscheinlich heißen, dem Bürgerkrieg gestohlenen Julinacht in einem ausgeplünderten, verwüstenden Haus in der ›oberen Stadt‹ in Mariupol. Ein fünfundfünfzigjähriger Mann und eine zweiundvierzigjährige Frau, deren Haare über Nacht schneeweiß geworden ist vor Grauen, zeugen in einem Augenblick unvorsichtiger Selbstvergessenheit ein Kind, das sie beide nicht mehr wollen können in dieser Zeit.«
Natascha Wodin ist 67, als sie den Namen ihrer Mutter in eine Suchmaschine eintippt und unverhofft auf eine Spur stößt, die ihr bisher verborgen geblieben war. Es ist der Beginn einer schmerzhaften Reise in die Vergangenheit, die auch ihr Leben maßgeblich bestimmt hat. Denn die Eltern waren als Zwangsarbeiter aus der Ukraine nach Deutschland verschleppt worden, wo Natascha Wodin 1945 geboren wurde. Ihre Kindheit und Jugend sind geprägt von den Traumata der Eltern, die nie über die Vergangenheit sprechen. Die Mutter ist so verzweifelt, dass sie schließlich Selbstmord begeht.
Als Sie kam aus Mariupol 2017 erschien, musste Natascha Wodin erst den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen, bevor ich sie für mich entdeckte. Um so gewaltiger war der Eindruck, den das Buch bei mir hinterließ. Denn alle Verwerfungen, Verstrickungen, Dramen und Tragödien des 20. Jahrhunderts kommen in dieser Familiengeschichte zusammen. Vor allem die Erzählungen aus dem Osten, der Ukraine und Russland, eröffneten mir einen Horizont, den ich bis dahin kaum beachtet hatte. Zu sehr war ich mit der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte beschäftigt. Außerdem hatte die verordnete deutsch-sowjetische Freundschaft, die ich in der DDR bis 1989 erlebte, mein Interesse an Osteuropa nicht gerade befördert. Sie kam aus Mariupol hat das geändert, und seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine denke ich oft an dieses Buch, genauso übrigens wie an Katja Petrowskajas Vielleicht Esther. Es sind beides Bücher, die davon zeugen, dass wir zwar so tun können, als wäre der Krieg weit weg, aber eigentlich ist er mitten unter uns. Denn die Geschichte verbindet uns alle.
Gaea Schoeters: Trophäe
»Das hier ist Afrika. Ein Menschenleben hat hier einen anderen Wert.« Diesen Satz sagt ein Mann, der für reiche Männer aus dem Westen Großwildjagden organisiert.
In Trophäe ist er mit dem Amerikaner Hunter White unterwegs und dieser Name ist Programm. Für ihn wie für alle, die zum Jagen nach Afrika kommen, geht es in der Regel darum, die sogenannten »Big Five« zu erledigen. Dazu zählen ein Elefant, ein Nashorn, ein Büffel, ein Löwe und ein Leopard. Aber Hunter White wird eines Tages gefragt, ob er schon mal von den »Big Six« gehört hat und man ahnt schnell, welches »Tier« damit gemeint ist.
Gaea Schoeters gehört zu einer jungen Generation flämischer Schriftstellerinnen, die mit ihrer Literatur ganz nahe an den Themen unserer Zeit sind. In diesem Roman spielt sie die zynische Haltung weißer Jäger gegenüber afrikanischen »Bushmen« einmal komplett durch und gerät dabei in eine Region, von der man nur hoffen kann, dass sie tatsächlich nur fiktiv ist. Genau wissen kann man es allerdings nicht. Ich mag dieses Buch sehr, weil es mutig ist, weil es gedankliche Grenzen überschreitet und mich als Leserin dazu auffordert, eine Haltung zu dieser Grenzüberschreitung zu finden. Ich finde, diesen Anspruch hat Gegenwartsliteratur viel zu selten. Zu gern will sie gefällig und geschmeidig sein. Aber genau dort, wo es schmerzt, wo man am liebsten wegschauen würde, beginnt man auch als Leserin zu lernen und zu wachsen. Ich hoffe, dass ich in meinem Leben noch viele solche Bücher in die Hände bekomme.
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Biografisches zu Bettina Baltschev
Bettina Baltschev, geboren 1973 in Berlin, studierte Kulturwissenschaften, Journalistik und Philosophie in Leipzig und Groningen. Sie ist Geschäftsführerin des Sächsischen Literaturrats, Autorin und Redakteurin beim MDR und pendelt zwischen Leipzig und ihrer zweiten Heimat Amsterdam. Ihr letztes Buch »Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand« wurde mit dem Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis 2021 ausgezeichnet und war 2022 für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.