Sechs Bücher aus dem Regal von Guido Glaner (Foto: privat)
Kulturjournalist Guido Glaner (Foto: privat)
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09.02.2024
Guido Glaner

Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Guido Glaner

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Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …

»Schwer ist der Beruf des Menschen« (Georges Simenon)

Lesen gehört zu den mir liebsten Beschäftigungen, von Kindheit an. Lesebiografie ist ein passender Begriff, weil er das Lesen mit Lebensgeschichte verbindet. Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist? Ganz so einfach ist es nicht, aber verkehrt ist es auch nicht. In dem, was jemand liest, spiegelt sich beides: das Buch im Leser, der Leser im Buch. Wer angibt, was er liest, trifft eine Aussage über sich und wie er die Dinge des Lebens sieht. So liest man sich durch sein Leben und trennt dabei Relevantes von Irrelevantem. Bestimmte Bücher hat man für immer. Obendrein wirbt man für das, was man gelesen hat, und hofft darauf, dass die eigenen Leseerfahrungen von anderen als Anregungen aufgefasst werden.

Warum liest man überhaupt? Um Resonanz zu erfahren, wahrscheinlich. Im besten Fall können Bücher für das eigene Leben eine Resonanzachse bilden. In den Lebensverhältnissen der Moderne ist die Resonanz gestört, so lautet die Diagnose des Jenaer Soziologen und Philosophen Hartmut Rosa. »Resonanz« ist der Kern- und Titelbegriff seiner Soziologie der Weltbeziehung. Dieses Buch ist sozusagen das nullte meiner Sechserliste.

Rosa beschreibt als kulturellen Motor der Moderne »die Verheißung einer (individuellen wie kollektiven) Vergrößerung der Weltreichweite.« In Rosas Sicht ist das, was sich hinter diesem augenscheinlich positiv gestimmten Begriff verbirgt, in Wirklichkeit in hohem Maß ambivalent, insofern der Prozess der Vergrößerung der Weltreichweite, wenn er in Gestalt einer dominanten technischen und wachstumsorientierten Verfügbarmachung von Welt auftritt – in Rosas Worten sind »das Sichtbar-, Erreichbar-, Beherrschbar- und Nutzbarmachen von Welt« die »Vier Momente des Verfügbarmachens« –, ein gehöriges Potenzial an negativer Kraft entfaltet und geneigt ist, einen Prozess oder Zustand zu befördern, den man in der Geistesgeschichte als Entfremdung oder Verdinglichung bezeichnet hat, als das Nichtidentische oder die ontologische Differenz.

All diese philosophischen Spezialbegriffe stimmen darin überein, dass der Mensch in dem beschriebenen Prozess das richtige, gute, eigentliche Leben verfehlt, so er nicht Gegenkräfte aufbaut. Rosa setzt an dieser Stelle die Begriffe »Resonanz« und »Unverfügbarkeit« an, wobei jene Resonanz, die das Individuum sein Dasein als erfüllt erleben lässt, eher durch die Gemeinsamkeit mit Mitmenschen, Naturerlebnisse oder andere sinnstiftende Erfahrungen vermittelt wird als durch die Zweckrationalität des Zeitalters, die in schlimmster Konsequenz zu einem Verstummen der Weltbeziehung führt. Resonanz sei »wie eine Antwortbeziehung« im Verhältnis des Menschen zur Welt. Umso stärker wird Resonanz vom Individuum verinnerlicht, als es bereit ist, sich der prinzipiellen Unverfügbarkeit vieler Dinge des Lebens zu öffnen und sich dabei auch dem Überraschenden, Unberechneten, Unerwarteten und Unerwartbaren zu überlassen.

Was hat das mit dem Lesen zu tun, überhaupt mit Literatur? Möglicherweise ist es ja so, dass man, im Sinne Rosas, beides tut, wenn man liest (oder schreibt): die Weltreichweite vergrößern und Unverfügbarkeit zulassen. Der Widerspruch ist nur scheinbar, denn im besten Fall macht mich Literatur klüger, empfindsamer und selbstbewusster und weitet mein Denken und Vorstellungsvermögen, wobei ich in derselben Bewegung meines Geistes erkenne, wie begrenzt und irrtumsanfällig mein Wissen bleiben muss und wie fragil meine Einbettung ins Dasein im Grunde ist. In diesem Sinn ist Lesen zugleich ein Akt der Aneignung von Welt wie des Sichzurücknehmens in der Welt angesichts deren überbordenden Fülle und – unverfügbaren – Komplexität. Lesen als ein Akt von Welterfahrung, als »das Andere von Entfremdung und Verdinglichung«, als Resonanzquelle, die einen »vibrierenden Draht« spannt »zwischen uns und der Welt«,  wie eine andere von Rosas Beschreibungen für den Begriff der Resonanz lautet.

So in etwa.

Sechs Lieblingsbücher auszuwählen, ist nicht schwierig. Ich habe mehr als diese, und manchmal ändert sich da etwas, aber die genannten sechs sind unverrückbar. Der Komponist Darius Milhaud soll gefordert haben, man müsse in Musik wohnen können. Das ist auch auf Bücher anzuwenden. Nicht nur lässt sich mit ihnen, sondern auch in ihnen wohnen. Bücher sind literarisches Mobiliar im mentalen Resonanzraum. Meine Möblierung sieht so aus:

Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel

Die Weltreichweite vergrößern, im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts nahm man das wörtlich. England war die größte Kolonialmacht auf Erden und noch immer auf Ausdehnung aus. Robert Louis Stevenson (1850-1894) war kein kolonialfrommer Schriftsteller wie Rudyard Kipling in vielen seiner Werke. Gleichwohl spielt Stevenson in seinem berühmtesten Buch – neben Der merkwürdige Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde – Die Schatzinsel mit dem Motiv der Seefahrer-Nation. Doch geht es in dem Roman nicht um Eroberung zum Zwecke territorialer Ausdehnung und politischer Herrschaft, stattdessen um die Suche nach einem Piratenschatz, also um die profane Gier nach Reichtum. Keine Heldengeschichte im patriotischen Sinn, sondern ein Abenteuerroman, mit vielen teils zwielichtigen, großartigen Charakteren.

Die Schatzinsel ist Stevensons erstes großes Buch, erschienen 1883 zunächst als Fortsetzungsroman. Die Erzählung spielt im 18. Jahrhundert, präziser als »im Jahre des Herrn 17..« ist die Zeitangabe nicht. Eine Expedition sticht in See, mit Ziel dieser geheimnisvollen, verlassenen Insel, wo der gefürchtete Piratenkapitän Flint, bevor er den Tod fand, einen Schatz vergraben haben soll. Die Geschichte beginnt in der Gastwirtschaft »Admiral Benbow« in der Nähe von Bristol: Ich-Erzähler Jim Hawkins ist der Sohn des Gastwirt-Ehepaars und gerät durch einen abgerissenen »alten Seebär«, der bei ihnen untergekrochen ist, in den Strudel der Ereignisse. Bill Bones, so heißt er, führt eine Seemannskiste brisanten Inhalts mit sich: die Karte, auf der Schatzinsel und Schatz verzeichnet sind. Bones erhält ungebetenen Besuch von einem sinistren Besucher, dem Schwarzen Hund, der kein dunkles Zotteltier ist, sondern ein feindseliger Bursche, der diesen Unheil verheißenden Beinamen trägt. In der englischen Mythologie ist der Schwarze Hund (the Black Dog) ein Todesbote. So kommt es: Ein blinder Bettler taucht noch auf, der Bones eine bedrohliche Botschaft überreicht, bevor dieser vor Aufregung an einem Schlaganfall zu Grunde geht. Als kurz darauf ein Überfallkommando den »Admiral Benbow« stürmt, um die Seemannskiste zu stehlen, können Jim und seine Mutter die Schatzkarte gerade noch in Sicherheit bringen.

Der Schatz muss gehoben werden, beschließen der Gutsherr und Friedensrichter Mr. Trelawny und der Arzt Dr. Livesey. Mit einem von Captain Smollet befehligten Schiff, der Hispaniola, will man in See stechen, Jim darf als Schiffsjunge mitreisen. Am Ende bitten ihn Mr. Trelawny und Dr. Livesey, das Abenteuer aufzuschreiben.

Bevor die Hispaniola die Segel hissen kann, muss eine Mannschaft angeheuert werden. Zu diesem Zweck begibt man sich nach Bristol und gerät in der Taverne »Zum Ausguck« an den einbeinigen Wirt John Silver, der sich als Schiffskoch rekrutieren lässt. Silver führt weitere Männer im Schlepptau mit an Bord, grobschlächtige Kerle, die Böses im Schilde führen. Es ist Flints frühere Mannschaft, die von Silver zusammengetrommelt worden ist, um das Piratendasein wieder auf See zu bringen und der ehrwürdigen Expeditionsleitung den Schatz abzujagen.

Die Schatzinsel hat Epoche gemacht. Das Buch gehört zu den berühmtesten Abenteuerromanen der Weltliteratur, dabei war sein Autor Zeit seines Lebens umstritten. Die Bücher, die er schrieb, entsprachen nicht dem literarischen Zeitgeist. Auch nach seinem Tod blieb sein Werk umkämpft, doch hatte Stevenson namhafte Bewunderer, wie den britischen Kriminalautor Gilbert K. Chesterton oder den deutschen Schriftsteller Theodor Fontane. Letzteres ist besonders interessant, insofern Fontanes Werk dem Realismus zugerechnet wird, einer literarischen Richtung, die Stevenson seinerseits nur bedingt zu akzeptieren bereit war. Für Chesterton war Die Schatzinsel »im Kern, wenn schon kein historischer Roman, so ein historisches Ereignis.«

Für Andreas Nohl, Herausgeber und Übersetzer der jüngsten deutschsprachigen Neuausgabe (2013), ist der Roman »das vollendetste Werk seines Genres.« Und es ist heute noch aufregend, ihn zu lesen, sei es in bearbeiteten und gekürzten Ausgaben für Kinder und Jugendliche oder – viel besser natürlich! – im ungekürzten Original. Der Roman hat alles, was ein junges Leserherz fesselt und erschüttert, und er schafft es noch zu fesseln und zu erschüttern, wenn, wie in meinem Fall, aus dem Jungen ein alter Knacker geworden ist. Das Buch ist voller illustrer Figuren, wobei die interessanteren, wie so oft, unter den Fiesen und Bösen zu finden sind, die noch kraftvoller wirken, wenn sie charakterlichen Mehrwert aufbringen, wie der einbeinige Schiffskoch John Silver (oder Long John Silver), der bei aller teuflischen Skrupellosigkeit ein charismatischer Charmeur ist, was  seine Mitreisenden im Buch und die Leser mit dem Buch vor Augen in gleicher Weise für ihn einnimmt wie frösteln lässt. Selbst Kapitän Flint, der gefürchtete Pirat und Schrecken der Meere, habe Angst vor ihm gehabt, sagt Silver.

»Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste«, singt Silver, »und dann fiel die ganze Mannschaft ein: Jo-ho-ho, und ne Buddel voll Rum!«

Stevenson schafft, was nur Könner schaffen: den Leser in die Geschichte hineinzusaugen und die knisternde Atmosphäre der beschriebenen Schauplätze spüren zu lassen, der Spelunken am Hafen, an Bord der Hispaniola auf See, auf der Schatzinsel. Ein unverwüstliches Buch.

Theodor Fontane: Der Stechlin

Theodor Fontane, ein Vorkämpfer der Meinungsfreiheit? »Es gibt nichts, was mir so verhasst wäre wie Polizeimaßregeln oder einem Menschen, der gern ein freies Wort spricht, die Kehle abzuschnüren. Ich rede selber gern, wie mir der Schnabel gewachsen ist«, lässt er Dubslav von Stechlin sagen, den Protagonisten seines letzten Romans Der Stechlin. Dubslav von Stechlin, Offizier außer Dienst, 66 Jahre alt und damit etwas jünger als Fontane, als er den Roman schrieb, ist kein autobiografisches Abziehbild seines literarischen Erfinders, aber ein bisschen Alter Ego ist er doch. Seine liberale Haltung in vielen Dingen entsprach der Fontanes.

Das Erscheinen des Romans hat Fontane nicht mehr erlebt, er starb 78-jährig im Monat davor, im September 1898. Auch Dubslav von Stechlin, von märkischem Adel, überlebt nicht, er stirbt nach schwerer Krankheit. Mit ihm gehen ein Jahrhundert und eine Epoche zu Ende. Der alte Adel auf seinen Landsitzen, den Dubslav repräsentiert, ist zum Anachronismus geworden. Die unteren Schichten der Gesellschaft arbeiten mehrheitlich längst nicht mehr auf dem Land, sondern als Arbeiter in den städtischen Industrien. Auch der politische Einfluss schwindet zunehmend. Das Bürgertum verdrängt den Adel, die Sozialdemokratie wächst. Dubslav spürt die Veränderungen und akzeptiert sie in Gelassenheit, für manches bringt er sogar Sympathie auf. Gleichwohl lässt er – im Herzen ein Liberaler, politisch ein Konservativer – sich überzeugen, in einer Wahl zum Reichstag als konservativer Kandidat gegen einen Sozialdemokraten anzutreten. Zu seiner großen Erleichterung verliert er.

Das Buch beschäftigt im Zentrum des Romans und in der Peripherie viele Figuren. Sie stammen aus Landadel, Militär, Klerus, städtischem Bürgertum, Ärzteschaft, Lehrerschaft, Handwerk – es ist gesellschaftlich ein fast komplettes Bild des kaiserlichen Deutschlands. Dubslav residiert auf dem Familien-Schloss am Stechlin-See. Das Anwesen hat gelitten, es spiegelt den Verfall. Der Schlossherr ist umgeben von Hausangestellten, voran sein Diener Engelke. Pastor Lorenzen, der sozialdemokratische Ideen vertritt, kreist um ihn und viele andere Figuren, die ihm mehr oder minder nah sind. Dubslavs Sohn Woldemar, Soldat wie der Vater, kommt mit zwei Freunden zu Besuch. In Berlin lernt Woldemar die Familie des Grafen Barby kennen, der mit zwei Töchtern zusammenlebt, der geschiedenen, emanzipierten Melusine und der stillen Armgard. Zwischen Woldemar und Armgard entsteht etwas, am Ende wird geheiratet.

Dubslav ist im Roman mehr Beobachter als aktiv Handelnder. Dann und wann macht er Besuche, hauptsächlich bekommt er Besuch. Eine geschwisterliche Abneigung verbindet ihn mit seiner Halbschwester Adelheid, die ein Kloster führt. Adelheid ist Woldemars Patentante. »Heirate heimisch und heirate lutherisch«, rät sie dem Patensohn, »und nicht nach Geld«, denn: »Geld erniedrigt«. Er kenne das, spottet Woldemar, »wenn’s nur recht viel ist, kann es schließlich auch eine Chinesin sein. In der Mark ist alles eine Geldfrage. Geld – weil keins da ist – spricht Person und Sache heilig.« Zuletzt wird Armgard für ihn eine gute Partie sein. Nach der Hochzeit des Sohnes erkrankt Dubslav ohne Hoffnung auf Heilung. Während das Paar auf Hochzeitsreise ist, stirbt er.

Der Stechlin ist Abgesang auf eine Epoche, ähnlich dem Jahrzehnte später erschienenen Roman Der Leopard des italienischen Autors Giuseppe Tomasi di Lampedusa, der das gleiche Sujet bearbeitet. Lampedusas Titelheld, der Fürst von Salina auf Sizilien in den 1870er-Jahren, muss wie Dubslav erleben, wie die moderne Zeit ihn und seine Ordnung verdrängt. Im Unterschied zu Lampedusa schildert Fontane das Geschehen nicht im Rückblick auf Vergangenes, sondern als Zeitzeuge. Der Roman spielt zur Zeit seines Entstehens, während einiger Monate Mitte der 1890er-Jahre.

Fontane ist literarisch ein Vertreter des Realismus. Man kann davon ausgehen, dass die sozialen und politischen Verhältnisse, wie er sie charakterisiert, das Zeitgefühl, wie er es wiedergibt, so waren wie beschrieben. An Handlung ist nicht viel in diesem Buch. »Zum Schluss stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht«, so lautet Fontanes viel zitierte Zusammenfassung. Sie trifft zu und nicht zu. Tatsächlich steigt der Plot keine Treppen, sondern wandelt in der Fläche. So werden im Roman keine bedeutenden Konflikte verhandelt, die Entwicklung der Figuren ist bemerkenswert undramatisch. Es ist, als sehe man einer Gruppe von Personen in ihrem Alltag zu. Die Dialoge zwischen den Figuren sind unspektakulär, plaudernd. Nicht jedem gefällt das. Der Literaturkritiker Michael Maar (Sohn des Sams-Erfinders Paul Maar) kreidet dem Roman »Dauergeplauder« an, »hoch gebildetes, amüsantes, geistreiches, oft bummeliges, manchmal biblisch feierliches«, doch »leicht ausrechenbar und schwer ermüdend.«

Man kann das anders sehen. Der Roman, seine Dialoge graben tiefer. Aus den Plaudereien schimmert jene Melancholie hindurch, die sich gern an den Zeitenwandel heftet und vor allem jene befällt, die nicht mehr mitkönnen oder mitwollen. Es geht um Abschied. Was sich überlebt hat, in Gelassenheit ziehen lassen, ist wohl Lebenskunst. Dubslav von Stechlin, beherrscht sie. Auch das eigene Ableben nimmt er hin, beunruhigt in manchem Moment, aber nicht erschüttert. »Fontanes Sprache vibriert nicht vor Erregung; doch sie flimmert, scheint getränkt von Abendlicht«, stellt der Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner fest.

Deutlicher als sein Protagonist spürt Fontane längere Zeit schon, dass der Landadel, das Preußische und vieles von dem, was sich daran knüpft, wankt und weicht. Er sieht das nicht nur ohne Sentimentalität, er begrüßt es und schimpft auf Nationalismus und Vaterlandsliebe. Er werde immer demokratischer, schreibt er in einem Brief an seine Tochter. »Mensch ist Mensch«, auch dieser Ausspruch von ihm ist überliefert. Das sind starke Aussagen in einem autoritär geführten Land, das sich zur Kolonialmacht aufgeschwungen hat, um seine Weltreichweite zu vergrößern, indem es sich andere Völker gewaltsam unterwirft. So gar nicht passen will es zum Antisemitischen, dem Fontane anhängt. Sehr oft äußert er sich gehässig über das Jüdische, privat wie literarisch, die Gleichstellung der Juden lehnt er ab. Auch Der Stechlin ist in mehreren Motiven, zum Beispiel in der Charakterisierung der Figur des Geldverleihers Hirschfeld, vom Antisemitismus berührt. Im Widerspruch dazu pflegte Fontane zu Juden enge Freundschaften.

»Menschen sind keine Rechenaufgaben, die am Ende aufgehen, und Fontane geht an vielen Stellen eben nicht auf«, sagt Peer Trilcke, Leiter des Potsdamer Fontane-Archivs. Ein bisschen Ratlosigkeit schwingt mit.

Wir wissen, was später kam. Fontane wusste nicht, was kommen wird. Trotzdem ist das Antisemitische bei ihm und im Stechlin nicht zu rechtfertigen. Mit dieser Einschränkung lässt der Roman sich denn doch bewundern.

Thomas Mann: Die Joseph-Romane

Was für ein Buch! Oder besser: Was für vier Bücher! Ein erfüllteres Leseerlebnis als mit dieser Tetralogie lässt sich kaum vorstellen. Die vier Bände Die Geschichten Jaakobs, Der junge Joseph, Joseph in Ägypten und Joseph, der Ernährer vergrößern die Kurzgeschichte aus dem Alten Testament zu einem annähernd zweitausendseitigen Roman. Thomas Mann folgt damit gewissermaßen einer Aufforderung Goethes: »Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen.«

Die vier Romane erschienen im Zeitraum 1933 bis 1943, die ersten beiden noch in Berlin, der dritte in Wien, der vierte, verfasst im kalifornischen Exil, in Stockholm. 1926, mitten in den viel gerühmten Goldenen Zwanzigern, hatte Mann, inspiriert von einer Palästinareise, mit der Arbeit begonnen, doch lässt das Buch sich mit einigem Recht in seiner Gesamtheit der Exilliteratur zurechnen, denn schon bei Beginn der Arbeit war der Autor den Nazis und ihrem Gedankengut spinnefeind, vielleicht ließe sich von »innerem Exil« sprechen. Das Erscheinen der Bücher erlebte er im physischen Exil.

Die Joseph-Romane markieren die wohl wichtigste Buchveröffentlichung der Exilliteratur. Ihre eminente politische Bedeutung gründet in der Hinwendung Thomas Manns zum Jüdischen, denn der vom Autor frei und erfindungsreich gestaltete Stoff aus dem Buch Genesis ist Teil des jüdischen Tanachs wie des Alten Testaments. Der Kosmos, dem Thomas Mann Gestalt gibt, markiert die Grundlage des jüdischen wie des christlichen Weltverständnisses und ist ein Gegenentwurf zur Naziideologie.

Er denke oft an Thomas Mann, der während und nach dem Zweiten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten für die Würde der deutschen Sprache gekämpft habe, sagte der russische Schriftsteller und Kriegsgegner Michail Schischkin jüngst in einem Interview, mit Bezug auf den russischen Angriffskrieg und Propaganda gegen die Ukraine. Mehr noch als die Sprache war es ein ganzes Weltverständnis, das Thomas Mann den Nationalsozialisten entgegenhielt.

»Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?« So beginnt der Höllenfahrt benannte Einleitungsteil des Romans. Es ist ein Buch über Religion, aber kein religiöses Buch. Thomas Mann beschreibt, wie sich die Religion aus Mythen und wie sich überhaupt alles aus Mythen herausschält. »Denn wir wandeln in Spuren, und alles Leben ist Ausfüllung mythischer Formen mit Gegenwart«, heißt es da. Den Anfang allen Geschehens? Man sucht ihn vergeblich. »Das Weltgeschehen ist ein Kulissengeschiebe von Anfängen, das zu immer älteren Anfängen ins Unendliche lockt, und der Dinge Uranfang liegt, unserer stillen Mutmaßung nach, nicht in der Zeit, das heißt: er ist transzendent«, schreibt Thomas Mann. Und er erzählt von der Entdeckung Gottes durch den Urvater Abraham, dem Gründungsmoment des Monotheismus. Er dürfe »ausschließlich dem Höchsten dienen«, spricht Abraham, sehr zu des Höchsten Freude: »Bisher hat kein Mensch mich Herr und Höchster genannt, nun werde ich so geheißen«, lässt Thomas Mann Gott an einer Stelle zitieren. Dass nicht allein der Mensch Gottes bedürfe, sondern ebenso Gott des Menschen, um sich als erkannt zu erkennen, ist ein grundlegendes Motiv des Romans.

Das Verhältnis von Mensch und Gott ist ein zwiespältiges. Was der junge Joseph von seinem Erzieher Eliezer lernt, ist Folgendes: »Am allerletzten Tag schuf Gott den Menschen erstens, damit niemand sagen könne, er habe mitgewirkt bei den Werken; zum zweiten um des Menschen Demütigung willen, damit er sich sage: ›Die Schmeißfliege ging mir voran‹, und drittens, als der Gast, für den alle Vorbereitungen getroffen.«

Joseph ist der Lieblingssohn seines Vaters Jaakob und dessen Lieblingsfrau Rahel, die bei der Geburt seines jüngeren Bruders Benjamin stirbt. Ein verhätscheltes Kind, das von seinen Brüdern gehasst wird, ums Leben gebracht werden soll und schließlich doch nur verkauft wird. Joseph gerät als Sklave nach Ägypten, wo er Karriere macht als Traumdeuter des Pharaos Echnatôn und von diesem zum Wirtschaftsminister ernannt wird. Als Spitzenfunktionär Ägyptens versöhnt er sich schließlich mit seinen Brüdern, reist zum greisen Vater und holt die Familie mit dem Segen Echnatôns zu sich nach Ägypten.

Das Buch ist ein Füllhorn illustrer Figuren und ihrer Geschichten. Es sind keine Heiligengeschichten, sie handeln von Menschen in all ihrer Widersprüchlichkeit. Der Autor schont das Menschengeschlecht in seiner Abgründigkeit nicht, wenn er ausmalt, wie Jaakob seinen älteren Bruder Esau um das Erstgeburtsrecht bringt, wie die Brüder die Entführer ihrer Schwester Dina mit einem Massaker überziehen, wie sie den selbstbesoffenen Bruder Joseph in den Brunnen werfen, damit er dort verrecke, wie der missgünstige Zwerg Dûdu alles tut, um Joseph am Hofe Potiphars, des ägyptischen Hofbeamten, in Misskredit zu bringen, oder wie Joseph Potiphars vernachlässigtes Eheweib Mut-em-enet, seine Herrin, die ihn offen begehrt, zu verführen beginnt, um sie im letzten Moment zurückzuweisen. Als diese ihn der Vergewaltigung anklagt und vor das Tribunal zwingt, hat der Roman eine Art von #MeToo-Moment. Josephs Camouflage als ägyptischer Wirtschaftsminister, der sein Antlitz vor den Brüdern beim Wiedersehen nach vielen Jahren zu verbergen sucht, um die Überraschung hinauszuzögern, ist reiner Slapstick. Phänomenal die empathisch-distanzierte Schilderung  des Sterbens von Potiphars Hausmeier Mont-kaw, Jaakobs Eheweib und Josephs Mutter Rahel, schließlich Jaakobs. Überhaupt stirbt es sich nirgendwo stilsicherer als in den Romanen Thomas Manns.

Ins Einzelne ausmalen sollte man den Joseph-Stoff, darüber hatte Goethe sinniert. Thomas Mann erfüllt diese Aufforderung in allen schillernden Farben der literarischen Kunst, wie wohl nur er es ausführen konnte. Die Weite seines Denkens in diesem Buch und die Gabe, diesem Denken jederzeit die treffende dichterische Gestalt zu geben, dürfte in der deutschen Literatur nach Goethe einzigartig sein. War Buddenbrooks. Zerfall einer Familie im Kern ein deutsches Buch und Der Zauberberg ein europäisches, ziehe in der Joseph-Tetralogie »T.M. seine Kreise um ein Land, einen Erdteil, einen Stern«, so beschreibt es Erika Mann, die Tochter des Schriftstellers.

Es ist eine Menschheitsgeschichte, die Thomas Mann erzählt oder, in den Worten Erika Manns, »die Menschheit«, die er »besingt«, »und zwar nicht die Erdbevölkerung einer bestimmten, historisch genau belegbaren Epoche, vielmehr den Menschen der Frühe, ihn, den kein Historiker kannte und der vom Dichter dingfest gemacht, hingestellt, beseelt sein wollte.« Dabei ist es bei allem Entsetzlichen, von dem dort auch erzählt wird, ein menschenfreundliches Buch, geschrieben aus ironischem Abstand und mitunter schreiend komisch. Keine göttliche, sondern eine zutiefst menschliche Komödie. In eingewobenen Reflektionen über Mythos, Philosophie, Religion und Geschichte, in essayistischen Passagen wie in Sentenzen und Dialogen zwischen den Protagonisten über das Leben, die Liebe und das Menschsein überhaupt bricht sich die enzyklopädische Bildung des Autors Bahn. Dass sich, wer dieses Buch liest, in gleicher Weise gebannt, verblüfft und bestens unterhalten fühlt wie belehrt, macht die Meisterschaft Thomas Manns aus. Dieses Buch, diese vier Bücher sind mir eine nie versiegende Resonanzquelle.

Albert Camus: Die Pest

Der wichtigste Satz des Buches steht am Ende. Er wolle, bekennt der Erzähler, »schlicht schildern, was man in den Heimsuchungen lernt, nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt.« So oder ähnlich hätte es auch in den Joseph-Romanen stehen können.

Was Albert Camus von Thomas Mann unterscheidet: Gott ist keine Möglichkeit für ihn, nicht einmal als literarische Bezugsgröße. Das Dasein des Menschen ist ein diesseitiges, nicht metaphysisches, vielmehr sinnloses, hoffnungsloses. Und dennoch ein unbedingt lebenswertes.

Camus ist der Philosoph des Absurden. Absurd ist das Leben, weil es die Frage des Menschen nach dem Sinn des Lebens nicht beantwortet. »Für Camus ist die tiefste, unverstellte, existentielle Welterfahrung keine Resonanzerfahrung, sondern das genaue Gegenteil: Die Erfahrung der existentiellen Fremdheit im Sinne der Unmöglichkeit, sich Welt wirklich anzuverwandeln und sie zum Sprechen zu bringen«, notiert Hartmut Rosa.

Von der »zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt« schreibt Camus in Der Fremde, seinem ersten Roman. »Nicht in der göttlichen Fabel, die unterhält und blind macht, sondern in Gesicht, Tat und Drama dieser Erde vereinigen sich eine wunderliche Weisheit und eine Leidenschaft ohne ein Morgen«, heißt es an anderer Stelle. Ohne ein Morgen? Allein vom Tode her empfängt der Mensch den endgültigen Sinn: »Abgesehen von diesem einzigen Verhängnis des Todes ist alles, Freude oder Glück, Freiheit.« Das Leben als Auflehnung gegen den Tod, der Mensch als Rebell gegen das Sinnlose.

Die Pest ist nach Der Fremde der zweite große Roman, in dem Camus seiner Philosophie literarische Gestalt gibt. Der Roman ist die Chronik eines Ausnahmezustandes. »Am Morgen des 16. April trat der Arzt Bernard Rieux aus seiner Wohnung und stolperte mitten auf dem Flur über eine tote Ratte“, so heißt es im Buch. Es sind die 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen der Roman spielt, die genaue Jahreszahl lässt der Autor aus. Die Ratte ist Vorbotin der Krankheit, die wie aus heiterem Himmel über die algerische Küstenstadt Oran während neun Monaten hereinbricht. Zunächst wird die Pest geleugnet, dann die Bedrohungslage verdrängt. Als es der Toten immer mehr werden, versucht die Stadtpräfektur, die Lage mit restriktiven Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Ein Heilmittel gibt es nicht, deshalb wird die Stadt abgeriegelt. Ausgangsverbote werden erlassen. Angehörige von Erkrankten und Sterbenden ferngehalten. Täglich werden die Toten gezählt. Mittendrin Rieux, der Arzt, der unermüdlich gegen die Aussichtslosigkeit ankämpft.

Gegen die Sinnlosigkeit aufzubegehren, indem er sich seiner Freiheit bewusst werde, leidenschaftlich lebe, sich von keinem System vereinnahmen lasse und mitfühlende Verantwortung für seine Mitmenschen übernehme, war für Camus das Prinzip, durch das der Mensch gegen die »Gleichgültigkeit der Welt« bestehen kann. Er nannte dieses Prinzip eines engagierten Humanismus fern jeder Religion oder Ideologie Revolte. So revoltiert im Roman Doktor Rieux in seinem unermüdlichen Einsatz für die Pestkranken gegen das Verhängnis, den Tod, und für das Leben.

Ich habe den Roman zum ersten Mal Ende der 70er-Jahre gelesen, noch als Teenager, und wieder vor drei Jahren. Kein anderes Buch passte besser zum Corona-Lockdown. Vielen ging es so, allein im Jahr 2020 verkaufte Rowohlt 150 000 Exemplare des Romans.

1947 erschienen, las man Die Pest zunächst als Versinnbildlichung des Lebens unter der deutschen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg. Camus, der Algerier aus armen Verhältnissen, lebte in Paris und hatte im Widerstand gegen die Deutschen agiert. Doch ist das Buch viel mehr als zeitgebundene Widerstandserzählung, nämlich grundsätzlicher in seiner Aussage, seiner Ethik, seinem Realismus. Ein Roman für alle Zeit.

Die Pest in Oran endet schließlich, jedoch grundlos. Sie hört einfach auf, besiegt ist sie nicht. Sicher sei, »dass der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet«, lässt Camus seinen Erzähler Rieux die Chronik beschließen. Der Ausnahmezustand ist jederzeit wieder möglich, Bedrohung und Beunruhigung bleiben allgegenwärtig. Doch hat Doktor Rieux angesichts von Zusammenhalt, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft unter den Menschen etwas Wichtiges erfahren während der Seuche, »nämlich dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt«.

Ulrich Becher: Murmeljagd

Das wohl unbekannteste Meisterwerk der deutschen Nachkriegsliteratur. Ulrich Becher hat in der öffentlichen Wahrnehmung kaum Spuren hinterlassen. Immerhin wiederentdeckt wird er in jüngerer Zeit (auch schon fünfzehn Jahre), durch Neuveröffentlichung seiner Bücher bei Schöffling & Co (Taschenbuchausgaben bei Diogenes) und publizistische Unterstützung wie jener der Schriftstellerin Eva Menasse, die diesen Roman rühmt, wo sie kann.

Bechers Leben war ein schillerndes. 1910 wurde er in Berlin geboren, 1990 starb er in Basel. Dazwischen lagen das Exil in Österreich, der Schweiz, Brasilien, den Vereinigten Staaten und die Rückkehr nach Europa. Becher gehörte während der Weimarer Zeit politisch nach links, was Konsequenzen für ihn hatte: Die Nazis fanden sein künstlerisches Werk »entartet«, seine Bücher wurden öffentlich verbrannt. Ist die Rede von seinem künstlerischen Werk, betrifft das neben der Literatur auch das Bildnerische. Becher war Meisterschüler von George Grosz, der in seiner gesellschaftskritischen Kunst verschiedene zeitgenössische Stile verband. Murmeljagd ist vom Expressionismus berührt, der Roman scheint an manchen Stellen vor sprachlicher Energie beinah zu bersten.

Möglicherweise ist das ein Grund für den zunächst mangelnden Erfolg. Als der Roman 1969 bei Rowohlt erschien (später in der DDR bei Aufbau), hatte man, so lässt sich vermuten, nurmehr wenig Sinn und Sympathie für derart ausschweifende Sprachartistik. Vielleicht lag es auch daran, dass dieses Buch, das wie ein Exilroman daherkommt, eben das nicht war: ein Roman aus dem Exil. In einer Zeit, Ende der 60er, in der man in Westdeutschland die zwölf Nazijahre mit Vorliebe aus historischem Abstand reflektierend zu begreifen versuchte, passte diese wie unmittelbar aus dem beschriebenen Erleben heraus, in überbordendem Stil erzählte Geschichte wohl nicht in die Zeit.

Murmeljagd ist ein zu gutem Teil autobiografischer Roman, wenn auch nicht in jedem Detail. »Alles war so gewesen. Nichts war genauso«, das Resümee aus dem Film Die Stille vor dem Schuss (Volker Schlöndorff/Wolfgang Kohlhaase) trifft wohl auch für Ulrich Bechers Roman zu. Verheiratet mit Dana, der Tochter des österreichischen Dichters Alexander Roda Roda, bürgerlich Sándor Friedrich Rosenfeld, lebte Becher ab 1933 in Österreich, bis er nach dem Anschluss Österreichs 1938 in die Schweiz emigrierte. Letzteres deckt sich mit dem Schicksal des Protagonisten des Romans, Albert Trebla (der Nachname ist ein Palindrom des Vornamens), der mit seiner Ehefrau Xane vor den Nazis in die Schweiz flieht, wo er sich weiter von ihnen verfolgt fühlt. Trebla hat Verbindungen zum Widerstand, Xane ist die Tochter des berühmten Clowns Giaxa, der die Emigration verweigert und schließlich den Nazis zum Opfer fällt. Der Kosename »Rosenvater«, den ihm die Erzählung verpasst, stellt eine Verbindung zum bürgerlichem Namen Roda Rodas her (der 1945 in New York an Leukämie verstarb).

Xane ist im Roman präsent, bleibt aber über weite Strecken Nebenfigur, derweil Trebla sich in einer Art Verfolgungswahn befindet und diesen Zustand vor ihr verbirgt. Überall wittert er Schergen der Nazis, die ihn zur Strecke bringen wollen. Zeitgleich gehen in dichter Folge bedrohliche Schreckensmeldungen ein, die von Verfolgung und Tod berichten, wenn wieder einmal Freunde und Bekannte umgebracht wurden. Dramatischer wird die Situation für Trebla dadurch, wie es auch seinem Erfinder Becher geschah, dass die Schweizer Behörden ihm die Arbeitserlaubnis verweigern. Macht man sich in der Schweiz zwar mit den Nazis nicht gemein, will man ihnen auch nicht in die Quere kommen, da gilt ein widerständiger Exilant als Störenfried.

Der Titel des Buches, Murmeljagd, zielt auf das Murmeltier, dem sich Trebla verwandt fühlt, weil er im übertragenen Sinn als Verfolgter, wie das Erdhörnchen, unter- wie oberirdisch zu leben gezwungen ist.

Der Roman ist von ungeheurer Vitalität, in der erzählten Zeit hin- und herspringend, fast übervoll von Motiven und exzentrischen Figuren. Dabei ist er ohne jede Gefühligkeit. Sentimentalität, Pathos bleiben außen vor, an ihre Stelle treten Ironie und Aberwitz. An mancher Stelle lässt sich laut auflachen, andere Stellen lassen beklommen schlucken. Ein furioses Buch.

Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall

Thomas Bernhard zu lesen ist eine Zumutung. Wer sich in seine Bücher hineinbegibt, durchläuft während der Lektüre oft Phasen von Anstrengung und Ermüdung, inhaltlich ausgelöst durch die für den Autor typische Redundanz, formal durch lange Sätze und Blocktext. Wie aufmunternd wäre allein mal ein Absatz! Inhalt und Form sind nicht ein und dasselbe, doch ist immer beides zugleich. Kein Inhalt ohne Form. Als Paar sind sie ein wichtiger Bestandteil dessen, was man den Stil eines Autors nennt. Bernhards Stil ist so berühmt wie berüchtigt.

Aufmunterung ist das Letzte, was dieser Roman beabsichtigt. Auslöschung. Ein Zerfall, 1986 erschienen, gilt als Bernhards bedeutendstes Buch. Es ist mit 650 Seiten sein umfangreichster Roman, sein letzter und schwärzester, Quintessenz seines Schreibens, Zuspitzung seiner Lebensthemen: das lieblose Aufwachsen, die dysfunktionale Familie und das verachtete Heimatland Österreich, das er von Nationalsozialismus und Katholizismus und deren unseligem Zusammenwirken verdorben sieht. Dabei ist Bernhard kein Autor des mäßigenden Abwägens, er schimpft, stellt bloß, klagt an, dabei oft aus der Perspektive eines in Bandwurmsätzen monologisierenden Ich-Erzählers. Mit Sicherheit ist sein Schreiben autobiografisch, aber auf unterschiedliche Weise. Unmittelbar sich selbst zum Thema macht er in einer fünfteiligen Buchreihe, in der er sein Leben erzählt. Für weitere Bücher, auch dieses, bildet das Persönliche den Unterton für eine Art eingefärbter Rollenprosa.

Protagonist ist der Literat Franz-Josef Murau, der in Rom als Lehrer lebt und es besonders mit einem Schüler zu tun hat: Gambetti. Diesem Gambetti hat er alles erzählt, was er wiederum uns erzählt. Als eigenständige Figur erscheint Gambetti nicht, er ist der immer nur namentlich Angesprochene, die Wendung »… hatte ich zu Gambetti gesagt« ist allgegenwärtig. Murau stammt aus Österreich, wo er mit zwei Schwestern und einem Bruder auf Schloss Wolfsegg aufgewachsen ist. Die dominante, in Muraus Augen bösartige Mutter und der charakterschwache Vater haben in einer Melange aus Sympathie und Anbiederung mit den Nazis gemeinsame Sache gemacht, weshalb Murau sie verachtet. Allein sein weltgewandter Onkel Georg, Bruder des Vaters, ist anders, Dessen Besuche in Wolfsegg gehören zu den seltenen hellen Momenten in seinem Leben.

Die Erzählung, die der Ich-Erzähler Murau einen Bericht nennt, beginnt mit der Nachricht an ihn, der sich in Rom in einer Art selbstgewähltem Langzeitexil befindet, dass Eltern und Bruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Alleinerbe des Familienanwesens ist er, Murau. Die Schwestern Caecilia und Amalia gehen leer aus. Murau beginnt zu erzählen von den »Scheußlichkeiten« seines Aufwachsens unter der Herrschaft seiner Eltern, die, durch und durch katholisch, zu eigenem Vorteil Kumpanei betreiben mit den Nazis. »Leute wie die Meinigen sind am skrupellosesten vor allem gegen ihre Familienmitglieder, wenn es darauf ankommt. Sie scheuen letztlich vor keiner Infamität zurück. Unter dem Mantel ihrer Christlichkeit und Großartigkeit und Gesellschaftlichkeit sind sie nichts anderes als habgierig und gehen, wie gesagt, über Leichen.«

Murau ist ein feiner, freilich parteiischer Beobachter, der detailliert berichtet. Er bleibt in seinen Schilderungen im Wesentlichen bei den Angelegenheiten seiner Familie, doch ist diese nun mal in das große Ganze verstrickt, das Österreich heißt, so dass der Familiensitz Wolfsegg zum Mikrokosmos wird.

Auslöschung. Ein Zerfall: Es ist typisch für Thomas Bernhard, im Titel eines Buches dem Schlagwort die knappe Erläuterung folgen zu lassen. Als ob Auslöschung nicht gereicht hätte! Düsterer, präziser geht es nicht. Was sollte da noch kommen? Der Titel lässt an Thomas Manns Buddenbrooks. Verfall einer Familie denken, wo es gleichfalls um einen Niedergang geht, mit dem Unterschied, dass bei Mann das Titelschlagwort erst durch die Erläuterung inhaltliche Richtung bekommt.

Das Titelschlagwort, »Auslöschung«,  ist programmatisch für den Roman, denn Murau erinnert sich nicht, um sich etwas von der Seele zu reden, mit etwas Ungeheuerlichem fertig zu werden, eine Katharsis zu erfahren oder um, im Sinne Hartmut Rosas, Resonanz zu erlangen. Er ist ein Fremder, wie bei Camus, aber keiner, der wie Dr. Rieux lebensbejahend gegen das Grundübel revoltiert. Es geht ihm um das Gegenteil, die komplette Dekonstruktion, den Zerfall ohne Rückstände. »›Auslöschung‹ werde ich diesen Bericht nennen, hatte ich zu Gambetti gesagt, denn ich lösche in diesem Bericht tatsächlich alles aus, alles, das ich in diesem Bericht aufschreibe, wird ausgelöscht, meine ganze Familie wird in ihm ausgelöscht, ihre Zeit wird darin ausgelöscht, Wolfsegg wird ausgelöscht in meinem Bericht auf meine Weise, Gambetti.«

Thomas Bernhard hat Kritiker, zum Beispiel Michael Maar, der, wie angeführt, schon Fontanes Stechlin nicht so recht mochte. Maar kritisiert die Redundanz Bernhards als »Monotonie-Maschine« und lästert über »die letztlich verhockten und vermufften Bösartigkeits-Sermone und Grollschwälle des menschlich ohnehin unerträglichen, wenn auch von jeher schwer gebeutelten Herrn Bernhard!«. Immerhin lobt er dessen Bandwurmsätze als »gut gegliederte« und gesteht dem Autor zu – »Unbedingt!«, – ein Stilist zu sein.

Der vorangegangene Absatz könnte abschrecken, sich auf Thomas Bernhard im Allgemeinen und dieses Buch im Speziellen einzulassen. Im Gegenteil empfehle ich, Bernhard zu lesen, besonders diesen Roman Auslöschung. Ein Zerfall. Begibt man sich in das Buch hinein, lässt einen diese nicht enden wollende, sorgfältig komponierte, in ihrer Theatralik, Egozentrik und Radikalität virtuose Tirade nicht mehr los. Muraus Monolog ist einer des Nichtentfliehenkönnens – der zeitgeschichtlichen Fesselung, der Familie – und implizit der Selbstverachtung. Und ich bin einer von ihnen! So dringt es, wie von eigener Schuld beladen, noch aus dem Subtext hervor. Als Dokument der mentalen Verwüstung, wie sie die Nazizeit in vielen Gemütern hinterlassen hat, gehört dieser Roman zu den eindrücklichsten Zeugnissen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Bernhards räsonierende Redundanz erzeugt Resonanz. Sie spannt einen vibrierenden Draht zwischen uns und der Welt.

 

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Biografisches zu Guido Glaner

Guido Glaner studierte Politische Wissenschaften und Germanistik an der Universität Hamburg. Seit 1991 ist er Kulturredakteur, seit 2000 Leiter der Kulturredaktion der Dresdner Morgenpost.