Sechs Bücher aus dem Regal von Katharina Bendixen (c) privat
Katharina Bendixen © Christiane Gundlach
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06.02.2023
Katharina Bendixen

Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Katharina Bendixen

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Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …

Eigentlich mag ich keine Listen, jedenfalls keine Longlists, Shortlists oder Hotlists. Ich mag kein besser und kein schlechter, kein gelungen und weniger gelungen, kein Das muss man gelesen haben! und kein Waaas, die Autorin kennst du nicht? Ich bin für ein Ich finde in jeder Bewertung, wenn die Dinge (aka Texte) schon unbedingt bewertet werden müssen. Und ich erinnere immer wieder gern an Mithu M. Sanyal, die im Jahr 2021 gemeinsam mit Sarah Jäger, Volker Jarck, Karosh Taha und Stefan Thoben für den Literaturpreis Ruhr nominiert war und, nachdem ihr der Preis zugesprochen wurde, das Preisgeld mit ihren Kolleg*innen teilte. Natürlich: das muss man sich leisten können. Aber längst nicht jede*r, der*die das sich das leisten kann, vollzieht auch wirklich einen solch kollegialen Akt.

Zum Ende meiner Dresdner Stadtschreiberinnenzeit habe ich aber doch einen Blick in mein Bücherregal geworfen. Die Auswahl meiner sechs Bücher ist mir insofern leicht gefallen, als dass ich extrem wenige Bücher besitze – es sind nicht mehr als hundert, denn ich leihe mir fast alles in Bibliotheken aus. Noch dazu habe ich die Auswahl rein intuitiv getroffen. Mein einziges rationales Kriterium war eine gewisse Ausgeglichenheit im Genre. Jedes Buch auf dieser Liste kann gegen fünf, gegen zehn, gegen fünfzehn seiner Kollegen getauscht werden, ohne dass die Liste ihre Gültigkeit verlöre. Meiner Meinung nach gilt das auch für viele Longlists und Shortlists. Das ist der Grund, aus dem ich sie nicht mag.

 

Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand

Als ich Mitte zwanzig war und noch in einer Buchhandlung arbeitete, hat mir eine Kollegin diesen Roman ans Herz gelegt. Nach wenigen Seiten habe ich die Lektüre abgebrochen, die Figuren und die Sprache erreichten mich nicht. Als ich Mitte dreißig war, hat sich Franziska Linkerhand dann für mich geöffnet, und ich konnte mein damaliges Hadern absolut nicht mehr verstehen. Atemlos habe ich verfolgt, wie Franziska Linkerhands Idealismus im Alltag zerrieben wird und wie sie ihre große Liebe gewinnt und wieder verliert, aber das beschreibt nur einen Teil meiner Faszination. Ebenso faszinierend finde ich die komplexen Figuren (Schafheutlin!) und die Sprache. Den Leser*innen des Literaturnetz Dresden verrate ich mit alldem aber vermutlich nichts Neues, hierzulande wurde schon viel über Franziska Linkerhand geschrieben. Wenn ich bei Lesungen in den alten Bundesländern Brigitte Reimann als eine meiner Lieblingsautor*innen nenne, kann mit diesem Namen oft niemand im Raum etwas anfangen. Schon allein deshalb gehört dieses Buch für mich hierher – wenn es schon eine Liste sein muss.

Brigitte Reimann, Franziska Linkerhand. Roman. Aufbau Verlag, 1998. (erstmals 1974 im Verlag Neues Leben)

 

Abe Kobo: Der Schachtelmann

Dieses Buch ist keines der rund hundert Bücher in meinem Regal. Ich weiß nicht, an wen ich es verliehen oder wo ich es verloren haben könnte. Ich weiß aber noch, dass mich der Held (oder Anti-Held) dieses Romans vor fünfzehn Jahren direkt ins Herz traf: Er gibt seine gesamte Existenz auf, um fortan in einem Pappkarton zu leben. Durch einen Sehschlitz beobachtet er die Welt, so ist das Leben für ihn einfacher. Eine Formulierung ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Der Held beschreibt, dass er mit seiner Schachtel verwachsen ist wie ein Einsiedlerkrebs mit seiner Muschel. Ich wüsste gern, ob mich die Weltabgewandtheit dieses Romans heute, fünfzehn Jahre später, noch genauso berühren würde. Aber wie gesagt: Ich habe es verloren.

Abe Kobo, Der Schachtelmann. Roman. Aus dem Japanischen von Jürgen Stalph. Eichborn Verlag 2000. (nur noch antiquarisch erhältlich)

 

Marie T. Martin: Rückruf

Kurz- und Kürzestprosa habe ich schon immer gern gelesen (Julio Cortázar! Unica Zürn! Daniil Charms!), zur Lyrik bin ich erst in den letzten Jahren gekommen. Ich kenne also viel zu wenig, und dass ich Marie T. Martins Gedichtband ausgewählt habe, hat zwei Gründe: Zum einem liegt es an ihrem unmittelbaren Zugriff auf die Sprache. Marie T. Martin scheut sich nicht, Worte wie »Schmerz« oder »Ende« oder »Wunden« zu verwenden, und obwohl ihre Gedichte nicht intellektuell im herkömmlichen Sinne sind, finde ich sie hochanalytisch. Zum anderen liegt es daran, dass Marie T. Martin die erste engere Freundin ist, die ich verloren habe. Das Zusammenleben mit Kindern hat meinen Blick für Generationen geweitet und mir auch eine Art Denk- oder Fühlraum für etwas so Unfassbares wie den Tod eröffnet – wenn das überhaupt geht. Wie der Tod eines jungen Menschen in diesen Raum passen soll, weiß ich allerdings nicht. „Rückruf“, Marie T. Martins letzte Publikation, fragt auch danach.

Marie T. Martin, Rückruf. Gedichte. Poetenladen Verlag, 2020.

 

Michael Escoffier & Matthieu Maudet: Bitte aufmachen!

Dass dieses Pappbilderbuch überhaupt noch in meinem Regal steht, ist ein Wunder. Denn unsere Kinder wollten es so oft ansehen, dass wir die vielen Türen darin immer wieder mit Klebestreifen befestigen mussten. Die Tür, an der zuerst der Hirsch auf der Flucht vor dem Wolf klopft und kurz darauf der Wolf auf der Flucht vor dem Ungeheuer. Aber Ungeheuer gibt es nicht, und von wem der Wolf da in Wirklichkeit verfolgt wird, wird natürlich nicht verraten. Ich verrate nur, dass sämtliche Figuren über ihre Klischees hinauswachsen. Inzwischen ist das Buch unseren Kindern etwas zu langweilig geworden. Dass es noch nicht im Karton mit der Aufschrift »Kitsch & Sentimentalitäten« gelandet ist, liegt daran, dass ich es immer noch zur Hand nehme – nämlich jedes Mal, wenn ich ein Schreibseminar leite. An den rund zwanzig Doppelseiten kann man wunderbar das Drei-Akt-Schema erläutern. Man muss es ja nicht befolgen.

Michael Escoffier & Matthieu Maudet, Bitte aufmachen! Aus dem Französischen von Markus Weber. Pappbilderbuch. Moritz Verlag, 2016. (ab 2 Jahren)

 

Almut Birken & Nicola Eschen: Links leben mit Kindern

Wie erkläre ich meinen Kindern, dass ich kein Fleisch kaufen möchte? Oder dass sie in ihrer Klasse die einzigen sind, die noch nicht in einem Flugzeug gesessen haben? Darf ich von ihnen verlangen, dass sie ihr Spielzeug anderen Kindern im Sandkasten ausleihen, auch wenn deren Mütter sagen: »Tut mir leid, der Leon kann seinen Bagger gerade nicht teilen«? Almut Birken und Nicola Eschen versammeln in ihrer Anthologie rund vierzig Beiträge, die sich mit Care-Gemeinschaften und gemeinsamem Haushalten ebenso beschäftigen wie mit dem Streben nach Individualismus, das in den kleinen Köpfen schon auf Spielplätzen angelegt wird. Die vielen Autor*innen dieses Bandes haben natürlich auch keine Lösungen, aber ihre Beiträge geben mir das beruhigende Gefühl, bei weitem nicht die einzige zu sein, die die Widersprüche nur schwer aushalten kann.

Almut Birken & Nicola Eschen, Links leben mit Kindern. Care-Revolution zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Unrast Verlag, 2020.

 

Raymond Queneau: Stilübungen

Wenn ich das Schreiben oder mich selbst mal wieder zu ernst nehme, ziehe ich die Stilübungen von Raymond Queneau aus dem Regal. Ich schaue mir an, auf wie viele Weisen eine Geschichte erzählt werden kann – visuell oder taktil, rückwärts oder vulgär, als Klappentext oder in freien Versen. Ich bewundere die Kunst der Übersetzer*innen, die wir zu oft vergessen. (Wie haben Ludwig Harig und Eugen Helmlé das nur gemacht?) Und ich erinnere mich daran, was Literatur im besten Falle ist: Nichts, was mit der Macht über Listen verbunden ist, sondern ein großer Spaß.

Raymond Queneau, Stilübungen. Aus dem Französischen von Ludwig Harig und Eugen Helmlé. Suhrkamp Verlag, 1961.

 

Zuletzt lasen Sie Sechs Bücher aus dem Regal von David Klein.

Biografisches zu Katharina Bendixen

Katharina Bendixen, geboren 1981 in Leipzig, studierte Buchwissenschaft und Hispanistik in Leipzig und Alicante und lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Sie schreibt Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschien ihr Jugendbuch Taras Augen (Verlag Mixtvision, 2022). Außerdem ist sie Mitherausgeberin von Other Writers Need to Concentrate, einen Blog über Autor*innenschaft und Elternschaft. 2022 war sie Dresdner Stadtschreiberin.