Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …
Sechs Bücher sollen es sein, die ich als Repräsentanten meines Leselebens vorführe – keine leichte Aufgabe.
Erster Schritt: vor die Bücherregale, Bestand sichten! 24 Bretter á 80 Zentimeter, schnelles Nachrechnen: reichlich 19 Meter Literatur, eigentlich nicht viel für vier Jahrzehnte Lebenslesezeit. Nun gut, es gibt noch einige laufende Meter Musiknoten – mit diesen habe ich bislang sicher ebenso viel Lebenszeit verbracht, wie mit Büchern. Hieraus sechs Stücke auszuwählen, wäre eine Qual – gut, dass diese Aufgabe nicht steht.
Zweiter Schritt: kategorisieren!
- Helden der Kindheit, heute etwas verschämt versteckt: Jules Verne, Karl May, Arthur Conan Doyle, Alexander Wolkow
- Idole der Jugend, später mit stark abfallendem Interesse: Hermann Hesse, Max Frisch, Heinrich Böll, Günter Grass, Milan Kundera
- Mit Respekt gelesen, ohne wirklich Zugang zu finden: Marcel Proust, James Joyce, Robert Musil
- Interessante Erinnerungen, müsste man einmal wieder lesen: Ingeborg Bachmann, Christa Wolf, Salman Rushdie, John Steinbeck, Ernest Hemingway, Sandór Márai
- Beeindruckend, aber einmal lesen reicht mir (vorerst): Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Theodor W. Adorno
- Nicht schlecht, aber letztlich hinter meinen Erwartungen zurückgeblieben: Erich Maria Remarque, Lion Feuchtwanger, Philipp Roth, Martin Walser, Zeruya Shalev
- Reine Zeitverschwendung: eine ganze Reihe sogenannter Bestseller aus drei Jahrzehnten (ein Viertel des Regelbestandes könnte also das Haus verlassen – mentale Notiz auf der »to-do«-Liste für die langen Wintertage)
Dritter Schritt: meine sechs »Favoriten« auswählen. Ist dann doch einfacher als gedacht: eine Handvoll Romane, die ich in den vergangenen, sagen wir, zwanzig Jahren immer wieder in die Hand genommen habe. In deren Übersicht fällt auf: alles Belletristik, mehr oder weniger bildungsbürgerlicher Kanon, nichts jünger als ein Vierteljahrhundert, überwiegend weiße männliche Autoren. Oh je. Na dann:
Thomas Mann: Joseph und seine Brüder
Thomas Mann habe ich mit fünfzehn, sechzehn Jahren begonnen, zu lesen. Er war für mich damals einer der Autoren, mit dem ich bewusst den Schritt in die Welt der erwachsenen, intellektuellen Leser vollziehen wollte. Das musste natürlich auch nach außen demonstriert werden, in erster Linie dadurch, dass ich Autoren wie Thomas Mann regelmäßig in meinen Deutschunterricht mitbrachte, dort unter und über der Schulbank las und meiner Deutschlehrerin auf Nachfrage und Ermahnung herablassend zu verstehen gab, dass ich mich den Inhalten ihres Unterrichts bereits weit entrückt sah. (Ich war in diesen Jahren ganz sicher ein unerträglicher Schüler.)
Verstanden habe ich Manns große Romane, vor allem den Zauberberg, den Doktor Faustus und den Joseph, damals nicht wirklich, aber ein Gefühl von Beziehung zu diesen Werken, davon, dass sie mir etwas zu sagen haben, nahm ich aus der ersten Lektüre mit. Seitdem habe ich Joseph und seine Brüder fünf- oder sechsmal in Gänze gelesen. Diese »ruhig fließenden dreißigtausend Zeilen«, wie Mann sie selbst genannt hat, sind für mich das literarische Pendant zu großen Sinfonien etwa von Bruckner oder Mahler: der Versuch, eine ganze Welt in einer bestimmten Form auszudrücken, episch im Ausmaß, auf die großen Menschheitsfragen gerichtet, im Detail höchst artifiziell und emotional bewegend, kurz: Kunst für die Ewigkeit (zumindest nach menschlichem Maßstab).
Interessant finde ich, wie sich mein Blick auf Joseph und seine Brüder mit jeder neuen Lektüre verändert. Bei der Erst- und Zweitlektüre beeindruckten mich vor allem die metaphysischen Passagen zur Entstehung des Glaubens, zur historischen Zeit, zum Verhältnis zwischen Zufall, Vorsehung und menschlichem Handeln. Danach kam die Bewunderung für die Ironie und Sympathie, mit der Mann seinen Stoff und seine Figuren behandelt. In jüngster Zeit verneige ich mich insbesondere vor der extremen literarischen Kunstfertigkeit und dem Detailreichtum, welche Thomas Mann vielen Schlüssel-, aber auch Nebenszenen angedeihen lässt: Jaakobs Flucht vor Laban und Rahels Tod, Josephs Gedanken im Brunnen, der Tod des ägyptischen Hausvorstehers Mont-Kaw, das lange Gespräch zwischen Potiphar und seiner Frau, Josephs Traumdeutung vor Pharao…. jedes für sich ein Leseerlebnis erster Klasse, das man durchaus auch einmal jeweils für sich allein stehend genießen kann. Auch wenn es ein wenig merkwürdig klingen mag: auf meine weitere Beziehung zu diesem Buch freue ich mich sehr!
Gabriel Garcia Marquez: Hundert Jahre Einsamkeit
Dieser Roman ist für mich auch nach mehrmaliger Lektüre eine literarische Urgewalt: ein Buch, das man am liebsten in einem Zug lesen würde, so fieberhaft, wie es angeblich geschrieben wurde (Marquez soll ja während der Niederschrift nur von Kaffee und Zigaretten gelebt haben, aber wahrscheinlich ist das eine dieser treffenden, aber nicht ganz der Realität entsprechenden Kunstlegenden, die sich oft um die Entstehung großer Werke ranken).
Ich habe Hundert Jahre Einsamkeit erstmals als Student gelesen und war sofort fasziniert von diesem Gemisch aus ungebremster Fantasie, geographischem und historischem Lokalkolorit sowie fiktiver Familiengeschichte. Bewundernswert, dass der Roman trotz aller Fülle nicht chaotisch wirkt: allein der Kunstgriff, für alle männlichen Hauptpersonen praktisch nur zwei Namen zu verwenden, ist ein geschickt konstruierendes Detail, welches den schier überbordenden Inhalt zugleich ordnet und verschleiert.
Hundert Jahre Einsamkeit ist ganz sicher kein Buch für alle Lebenslagen. Während meines Musikstudiums stand mir der Roman zum Beispiel näher, als während der biographischen »Rush Hour“ Anfang und Mitte Dreißig. Mittlerweile lese ich das Buch wieder sehr gern. Nach wie vor gilt: möglichst in großen, zusammenhängenden Abschnitten aufnehmen!
Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita
Dieses Buch habe ich tatsächlich erst in die Hand genommen, nachdem ich 2005 meine in Russland geborene, spätere Ehefrau kennengelernt hatte. Ganz kurz packte mich damals der Ehrgeiz, das Werk im Original zu lesen, aber das war angesichts meiner rudimentären Russischkenntnisse vollkommen aussichtslos. Immerhin, ein paar originale Brocken wie »kot Begemot« sorgten im neuen russischen Familienkreis für Heiterkeit.
An diesem Buch liebe ich vor allem die beißende, stets treffende Ironie und die Karikatur der Akteure im sozialistisch-kommunistischen Staat, die sich mit der großen Parabel über Herrschaft, Ideologie und Individuum verbindet. Die vielen kleinen Betrügereien, Korruptionen, Vorteilsnahmen und kleinen und großen Lügen, die von den Protagonisten begangen werden; die Absurditäten des angeblich fortschrittlichen sozialistischen Lebens (herrlich zum Beispiel der »Stör zweiten Frischegrades«!); und im Kontrast dazu die alternative, ironiefreie Jesus-Erzählung und die Auftritte des Satans – das alles verbindet sich zu einem einmaligen Kunstwerk. Großartig bereits die Eingangsszene, die Bulgakow an den Moskauer Patriarchenteichen spielen lässt: was für eine genaue, bis in subtilste Details durchgearbeitete Literatur! Dieses Niveau hält Bulgakow in diesem Buch bis zu letzten Zeile. Ein Staatssystem, das ein solches Buch jahrelang unterdrückte, musste früher oder später scheitern!
Lew Tolstoi: Krieg und Frieden
Bleiben wir bei russischer Belletristik: auf Krieg und Frieden greife ich ähnlich regelmäßig zurück wie auf die Romane von Thomas Mann. Dieses Buch habe ich im Alter von achtzehn oder neunzehn Jahren zum ersten Mal gelesen, damals mehr aus dem Impuls heraus, »das müsse man einmal gelesen haben«. Seitdem fasziniert mich immer wieder Tolstois Blick auf die (aus seiner Perspektive offenbar unveränderlichen) Abläufe geschichtlicher Ereignisse. Die Figur des Generals Kutusow wirkt auf mich in Tolstois literarischer Darstellung wie das Idealbild, in dem der Autor seine Geschichtsphilosophie manifestiert. Interessanterweise beeindruckt mich beim stetigen Wiederlesen diese Philosophie immer weniger, während die damit verbundene Beschreibung von Führung (sowohl politischer, administrativer wie auch individueller Führung) mich immer stärker fasziniert.
Natürlich hat Krieg und Frieden abseits der philosophischen Aspekte auch unglaubliche literarische Qualitäten. Die Handlungsbögen wirken sehr realistisch, die Figuren (obwohl erkennbar als Typen angelegt) lebendig und individuell. Einige Szenen und Details, wie Nataschas Abschied und Bolkonskis Tod oder Sonjas Verzicht auf Nikolai, berühren immer wieder sehr direkt emotional. Eindeutig ein Buch für lange Lesetage oder -wochen!
Golo Mann: Wallenstein
Dieses, wie man neudeutsch vielleicht sagen würde, »Biopic« des kaiserlichen Heerführers aus dem dreißigjährigen Krieg lässt mich seit der ersten Lektüre in Studienzeiten nicht mehr los. Golo Mann gelingt es in, wie ich finde, einmaliger Art und Weise, Fachbuch und Roman miteinander zu verbinden. Das liegt natürlich auch daran, dass sein Gegenstand, das Leben und die Handlungen Wallensteins, geradezu sagenhaft ist (was ja nicht zuletzt Friedrich Schiller und Alfred Döblin zu ihren dramatischen oder erzählerischen Umsetzungen veranlasst hat).
Für mich trifft Golo Mann in diesem Buch genau die richtige Mischung aus wissenschaftlicher Distanz und erzählerischer Nähe. Er bettet zudem die Lebensstationen seines »Helden« ein in spektakuläre historische Abrisse, die an keiner Stelle trocken oder langatmig wirken. Mit über 600 Seiten ist das Buch natürlich eine ganz schöne »Schwarte«, aber in seiner Art äußerst lesenswert und immer wieder eine (ent)spannende Lektüre.
Joanne K. Rowling: Harry Potter
Diese Buchreihe wirkt sicher wie ein »Ausreißer« auf dieser Liste. »Harry Potter« verfügt jedoch über alle Eigenschaften, die ich an Literatur schätze: eine fesselnde Story, nachvollziehbare Themen und Figuren, epische Breite (wer bis hierher gelesen hat, war sicher bereits überzeugt, dass meine »Favoritenliste« keine Lyrik mehr enthalten wird) – kurzum: intelligente Unterhaltung.
Ich habe die Harry-Potter-Reihe 2003 zum ersten Mal in die Hand genommen, nachdem ich nach meinem Klavierstudium entschied, einen anderen Beruf zu wählen. Der »Abschied« von der aktiven Kunst fiel mir nicht ganz leicht – und eröffnete doch Möglichkeiten. Allein die Tatsache, nicht mehr jeden Tag mehrere Stunden am Instrument verbringen zu müssen, gab neue Freiheit. Ich las die Bände 1 bis 4 im Sommer 2003 weitgehend am Badestrand, meine Faulheit genießend. Immerhin redete ich mir ein, durch den Griff zur Originalausgabe mein miserables Schulenglisch aufzubessern und so doch (wenigstens indirekt) etwas »Sinnvolles« zu tun. Band 6 kaufte ich 2005 während einer Hospitanz bei den Salzburger Festspielen, Band 7 begleitete mich dann durch den ersten Sommer mit Kind. Heute interessieren sich meine drei Kinder ebenso für das Harry-Potter-Universum, wie ich vor fünfzehn Jahren. Die Bücher und ihre Geschichten sind eine geteilte Erfahrung mehrerer Generationen in unserer Familie geworden (auch die Großmutter hat die komplette Reihe durchgeschmökert). Das muss Literatur erst einmal schaffen!
Zuletzt lasen Sie Sechs Bücher aus dem Regal von Julia Meyer.
Biografisches zu David Klein
David Klein, Jahrgang 1978, studierte Musik, Musikpädagogik und Kulturmanagement und promovierte in Musikwissenschaft. Seit 2007 arbeitet er in der Dresdner Kulturverwaltung. 2018 übernahm er die Leitung des Büros »Europäische Kulturhauptstadt Dresden 2025« und damit die Koordination der Bewerbung der Landeshauptstadt Dresden um diesen Titel. Seit 2020 ist er Leiter des Amtes für Kultur und Denkmalschutz in Dresden.