Sechs Bücher aus dem Regal von Julia Meyer (c) privat
Julia Meyer (c) SLUB Dresden
Anstreichungen im Buch von Herta Müller (c) privat
Manuskript von Mascha Kaleko
Typoscript Mascha Kaleko
handschriftlicher Eintrag von Thea Sternheim in ihr Tagebuch
Alfred Flechtheim, fotografiert von Thea Sternheim
Ausstellungsvitrine in der SLUB zu »Common Sense«
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09.03.2022
Julia Meyer

Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Julia Meyer

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Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …

So etwas wie einen Hort oder organisierte Freizeitangebote gab es nach unserer Übersiedlung von West-Berlin in das abgelegene Eifeldorf nicht, wir Kinder waren nachmittags ohne Erwachsene unterwegs und mussten erst zum Abendbrot nach Hause kommen, zeitliche Orientierung gab die Straßenlaterne, die pünktlich zu leuchten begann. Meine Grundschulzeit 1976-1980 verbrachte ich meist auf dem Pferderücken in den weiten Wäldern des Nationalparks Kermeter, und passend dazu liebte ich die Pferdebücher mit Britta oder Bille und Zottel aus dem Franz-Schneider-Verlag. Es waren mehrbändige Reihen, die junge Leseratten wie mich süchtig machten, ich fieberte jedem neuen Band entgegen. Mit zunehmendem Alter änderte sich jedoch mein Büchergeschmack, und als ich 16 Jahre alt wurde, schenkte mir meine Mutter Literatur von Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir. An diese Lektüre kann ich mich allerdings kaum erinnern, vielleicht war es doch noch ein wenig zu früh. Hingegen weiß ich noch sehr genau, wie mich der neue Roman von Milan Kundera Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins fesselte. Und als wir im Deutsch Leistungskurs den Expressionismus behandelten, war ich so tief bewegt von Else Lasker-Schüler, dass ich ihr Gedicht »Weltende« an das Schwarze Brett pinnte.

Herta Müller: Niederungen

Nach dem Abitur arbeitete ich eine Sommersaison lang als Hilfskraft in einer Alpenhütte und zog dann im Herbst 1989 nach Freiburg, um dort Germanistik, Philosophie und Soziologie zu studieren. Ich lernte, meine Kindheit und das Dorf aus der Distanz zu betrachten, und vielleicht faszinierten mich gerade deshalb die Dorfgeschichten aus dem Band Niederungen von Herta Müller, die ich in meinem ersten Semester 1990 in der Buchhandlung »jos fritz« entdeckte. Es handelt sich dabei um ihr erstes Buch, das 1982 zensiert in Bukarest und 1984 unzensiert in Berlin erschien. Die sprachliche Präzision und die stark atmosphärische Verdichtung der Kurzprosa wirken beklemmend und missen dennoch nicht den für Herta Müller typischen Humor, wenn sie Dorfszenen von Drinnen und Draußen beschreibt, vom samstäglichen Bad bis zum Dorffest mit Tanz. In meiner ersten literaturwissenschaftlichen Hausarbeit interpretierte ich die Kurzprosa »Das Fenster« aus dem Band Niederungen und stürzte mich mit großer Leidenschaft in die Tiefen des Textes. Meine mit zahlreichen Annotationen versehene und von der späteren Literaturnobelpreisträgerin signierte Erstausgabe nehme ich nun zärtlich aus dem Regal und erinnere mich an die Zeit vor 32 Jahren.

Herta Müller, Niederungen, Berlin, Rotbuch 1984.

Birgit Vanderbeke: Das Muschelessen

Die in die tiefen Schichten grabende Auseinandersetzung mit der Literatur habe ich während meiner gesamten Studienzeit sehr geliebt, nach Herta Müller las ich weitere starke Autorinnen wie Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer, Franziska zu Reventlow oder Evelyn Grill. Weil für die Lesebiografie aber insgesamt nur sechs Titel vorzustellen sind, und ich nach dem Studium ja auch noch gerne und viel gelesen habe, beschränke ich mich hier auf die Rahmenhandlung des Studiums, also auf das erste und das letzte Semester. Nach dem Anfang mit Herta Müller folgt nun deshalb schon der Schluss: In meiner Magistra-Arbeit interpretierte ich das 1990 erschienene Debüt Das Muschelessen von Birgit Vanderbeke, die mit diesem Text den Bachmannpreis gewann. Die Autorin schildert eine Familientragödie nach der Flucht aus der DDR, der Vater tyrannisiert die Kinder nicht nur bei den Schulaufgaben:

  • »[…] und da hat mein Vater, weil der SPIEGEL deutsche Geschichte seit 48 ist, alle Nummern gekauft, ebenso wie er den Ziegler, ein zwanzigbändiges Geschichtslexikon, komplett gleich als erstes nach unserer Flucht auf Kredit gekauft hat, weil nach unserer Flucht in den Westen ein neues Geschichtsbild fällig war und entstehen musste, mein Vater hat sein Geschichtsbild zwanzigbändig und auf Kredit bei Herrn Ziegler erworben, vieles haben wir drüben ja gar nicht gewusst, hat er gesagt und den Mangel bei Ziegler komplett geschlossen; […] und dann hat er uns alles gründlich historisch erklärt, weil wir historisch nicht sehr gebildet waren, in unseren Schulen, so hat mein Vater gesagt, hat man uns ein falsches, zu oberflächliches Geschichtsbild beigebracht, eine Husch-husch-Bildung, aber nichts gründlich und vollständig und ganz von Anfang an, wie man es drüben getan hat, nur war es drüben eben leider das Falsche gewesen, deswegen auch die Flucht […] wir wollten nur eine kurze Antwort, während es kurze Antworten gar nicht gibt und nicht geben kann, sondern nur Breiten- und Tiefenantworten, und wenn ich durchgekommen bin in der Schule mit meinem Punkt- und Flächenwissen, dann hat das daran gelegen, hat mein Vater gesagt, dass für Dünnbrettbohren und Trittbrettfahren heute schon Einsen verteilt werden, statt wie früher nur Vieren, wo es auf anderes angekommen ist.«

Wieder ein Debüt, wieder eine Autorin im Exil: Ich interessierte mich von Beginn an für die zeitgenössische Literatur, für den Schreibprozess und das Werden von Literatur und Autorschaft, sodass ich schon als Studentin persönlichen Kontakt zu den Autorinnen aufnahm, über die ich gerade schrieb. Deshalb wollte ich auch nach dem Studium in einem Literaturverlag arbeiten und hatte großes Glück, im Frühjahr 1996 eine Volontariats-Ausbildung in der gerade erst von Joachim Unseld neu gegründeten Frankfurter Verlagsanstalt antreten zu dürfen, die sich explizit über die enge Beziehung zu ihren Autoren und Autorinnen definierte.

»Ist denn ein Verlag ein Wirtschaftsunternehmen?«, fragte ich recht naiv im Bewerbungsgespräch, sodass man mir empfahl, vor dem Volontariat zunächst ein Praktikum im Buchhandel zu absolvieren. In meiner Lieblingsbuchhandlung »jos fritz« wechselte ich für zwei Wochen lang den Status der Kundin gegen den der Praktikantin und erhielt einen ersten Einblick in die Grundzüge des Literaturvertriebs. Danach konnte ich endlich das Volontariat in Frankfurt beginnen, durfte Lesungen organisieren und stand in persönlichem Kontakt mit den Autorinnen und Autoren. In dem jungen Wirtschaftsunternehmen (!) arbeiteten wir nur zu dritt: der Verleger, eine festangestellte Mitarbeiterin und ich als Volontärin. Es war sehr interessant für mich und ich habe das ganze Büchermachen von der Pieke auf erlernt, von der Begutachtung des Manuskripts über das Lektorat, den Satz und die Herstellung, die Programmvorschau und die Werbung, den Vertrieb und Buchhandel, die Pressearbeit bis hin zum Erstellen von Absatz- und Umsatzstatistiken oder Auflagenkalkulationen. Meinem ersten Chef Joachim Unseld verdanke ich unheimlich viel, denn von ihm habe ich nicht nur den lebensnahen Umgang mit Literatur gelernt, sondern auch, wie man während der Buchmesse richtig feiert!

Birgit Vanderbeke, Das Muschelessen, Berlin, Rotbuch 1990.

 

Mascha Kaléko: Werke und Briefe

Nach dem einjährigen Volontariat wechselte ich zum Wallstein Verlag und zog deshalb 1996 von Frankfurt nach Göttingen um. Der auf Literaturwissenschaft und Geschichte ausgerichtete und sehr angesehene Fachverlag bringt hervorragende Editionen wie z.B. die Tagebücher von Thea Sternheim heraus, auf die ich jedoch erst später eingehe. Was ich damals als Verlagsmitarbeiterin noch nicht kannte, war die Theorie von der Autorschaftsinszenierung, auf die ich erst viele Jahre später im Promotionsstudium an der TU Dresden von meinem Doktorvater Prof. Walter Schmitz aufmerksam gemacht wurde. Ihm möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen, zunächst für das Vertrauen, das er mir schenkte, und dann für die intensive Betreuung und Begleitung während der Promotionszeit. Im Nachhinein betrachtet erscheint mir meine frühere Arbeit im Verlag als eine aktive Beteiligung an der Ausgestaltung von Autorschaft. Für meine Promotion über die deutsch-jüdische Dichterin Mascha Kaléko war die Verlagserfahrung auf jeden Fall sehr hilfreich. Denn meine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kalékos Gesamtwerk umfasste auch die sogenannten Paratexte aus der Verlagswerbung, und ich konnte anhand von Rezensionen, Werbetexten und Waschzetteln rekonstruieren, wie Kaléko ihr Dichterbild vom »Enfant Terrible« zeit ihres Lebens weiter entwickelt hat. Um den Schreibprozess einer verstorbenen Autorin spürbar begreifen zu können, ist der direkte Umgang mit dem Nachlass im Archiv unerlässlich. Die kritische Werkausgabe existierte noch nicht, und Walter Schmitz empfahl mir, mit den originalen Quellen zu arbeiten. Ich verbrachte eine Woche im Deutschen Literaturarchiv Marbach und nahm den gesamten Nachlass in die Hand, sämtliche Briefe und Postkarten von und an Kaléko, ihre Manuskripte und Typoskripte, ihre gesammelten Zeitungsausschnitte und Fotos. Im Anschluss daran besuchte ich die Nachlasserbin Gisela Zoch-Westphal in Zürich und interviewte sie, für die offene Atmosphäre und große Unterstützung bin ich ihr sehr dankbar. Sie berichtete mir ausführlich von ihrer Arbeit als Herausgeberin und als Vermittlerin. Da die Gedichte von Kaléko von der Performativität leben und Zoch-Westphal eine hervorragende Rezitatorin war, gestaltete sie zahlreiche Lesungen und Radiosendungen und brachte neben der Biografie auch verschiedene Tonträger heraus. Zum Abschied überließ sie mir ihre Sammlung von Rezensionen ab 1975 zur Auswertung.

Dank der Vermittlung von Zoch-Westphal gilt Mascha Kaléko heute wieder als eine der beliebtesten deutschsprachigen Dichterinnen, nachdem sie lange Zeit in Vergessenheit geraten war. Sie wird inzwischen vornehmlich als deutsch-jüdische Exilautorin gelesen, als junge Kabarettistin aus dem Berlin der frühen Dreissigerjahre ist sie hingegen weniger bekannt. Ich widmete mich wieder einmal verstärkt dem Debüt und beschäftigte mich intensiv mit dem illustrierten Magazin Der Querschnitt, da dort 1929 erstmalig Kalékos Berliner Gedichte erschienen, die sie in der Rolle einer Bänkelsängerin im Kabarett »Kü-Ka« selber auf die Bühne brachte. Im selben Jahr erschien Jean Cocteaus Roman Les Enfants terribles, die junge Künstlergeneration war fasziniert. Nachdem die deutsche Übersetzung erschien und die Galerie Flechtheim Cocteaus Werke ausstellte, reiste der Künstler und Schriftsteller zu diesem Anlass nach Berlin und wurde als Star gefeiert. Nicht nur die im Querschnitt als »Dichterkinder« bezeichneten Jungen Wilden wie Klaus und Erika Mann, Pamela Wedekind und Dorothea Sternheim imitierten den Habitus, auch die aufstrebende Mascha Kaléko inszenierte sich nach der damaligen Mode des »Enfant Terrible« und erzielte damit schnelle Erfolge, ihre Gedichte wurden ab 1930 flächendeckend in den bekannten Zeitschriften und Zeitungen der späten Weimarer Republik abgedruckt. Das Dichterbild verwendete sie durch die verschiedenen Stationen des Exils bis zum Lebensende, noch eines ihrer letzten Gedichte trägt den Titel »Enfant Terrible«. Kalékos Werk ist nicht zuletzt aufgrund der verschiedenen Exil-Orte Berlin, New York und Jerusalem sehr vielfältig, neben den frühen Berliner Gedichten empfehle ich auch die weniger bekannte Kurzprosa, ihre Rezensionen für die »Deutsche Grammophon« und Beiträge für die Jüdische Rundschau in den Jahren nach dem Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer, den an Tucholsky angelehnten Monolog »Wendriner in Manhattan«, die 1973 in der Eremiten-Presse erschienenen Epigramme »Hat alles seine zwei Schattenseiten« oder die erst postum veröffentlichten späten reimfreien Gedichte, nicht zuletzt sind auch Kalékos Briefe sehr lesenswert. Seitdem 2012 die von Jutta Rosenkranz herausgegebene vierbändige Werkausgabe erschienen ist, sind alle Texte leicht zugänglich, und die wertvollen Kommentare erläutern hilfreich den Kontext. Den Gedichtband Verse für Zeitgenossen liebe ich jedoch am allermeisten. Für die Neuauflage 1958 kamen 33 Gedichte hinzu, die während der ersten Reise nach Deutschland aus der Perspektive der Remigrantin entstanden sind. Eine stets gebrochene Melancholie, voller Humor und mitunter beißendem Spott, eine Reminiszenz an den jüdischen Exilanten Heinrich Heine, wie im Gedicht »Deutschland, ein Kindermärchen (Geschrieben auf einer Deutschlandreise im Heine-Jahr 1956)«:

[…]

Ich sang einst im preußischen Dichterwald,
Abteilung für Großstadtlerchen.
Es war einmal. – Ja, so beginnt
Wohl manches Kindermärchen.

»… Da kam der böse Wolf und fraß
Rotkäppchen.« – Weil sie nicht arisch.
Es heißt: die Wölfe im deutschen Wald
Sind neuerdings streng vegetarisch.

Jeder Sturmbannführer ein Pazifist,
So lautet das liebliche Märchen,
Und wieder leben Jud und Christ
Wie Turteltaubenpärchen.

[…]

Mascha Kaléko, Werke und Briefe, hg. von Jutta Rosenkranz, München, dtv 2012.

 

Thea Sternheim: Tagebücher 1903-1971

Die Zeitschrift Der Querschnitt entstand ursprünglich als Magazin des Galeristen Alfred Flechtheim und erschien erstmalig 1921. Flechtheim brachte als einer der ersten Kunsthändler die avantgardistische Kunst aus Paris nach Berlin, stellte Cézanne, Picasso und Braque, Jules Pascin und Marie Laurencin aus. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg erwarb er Werke von Vincent van Gogh und verkaufte sie an die Kunstsammlerin Thea Sternheim (1883-1971). Sie war eine bedeutende Integrationsfigur für die künstlerischen und literarischen Kreise im Expressionismus und in der Weimarer Republik, korrespondierte mit Schriftstellern und Künstlern und schuf als Amateurfotografin ausdrucksstarke Portraits ihrer Familie, Freunde und Bekannten.

Ich lernte sie über Mascha Kaléko kennen, denn um das Netzwerk der Akteure im Querschnitt und damit Kalékos ersten Publikationsort besser kennenzulernen, las ich nicht nur sämtliche Ausgaben des Querschnitts von 1921 bis 1936, sondern auch die im Wallstein Verlag 2012 herausgegebenen Tagebücher von Thea Sternheim, alle fünf Bände wie im Rausch hintereinander weg. Durch die persönliche Beschreibung des künstlerischen wie familiären Umfelds, durch die eingefügte Korrespondenz und die eingeklebten Fotografien und Zeitungsartikel gerät der Forschungsgegenstand zum Greifen nah, und auf den letzten Seiten kam ich im Jahr 1971 sogar in meiner eigenen Kindheit an. Diese Tagebücher haben mein Verständnis der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts stark bereichert. Sie sind in jeder Hinsicht außergewöhnlich, sowohl wegen des beachtlichen Umfangs und des langen Zeitraums von über sechs Jahrzehnten (1903-1971), den sie umspannen, darunter zwei Weltkriege und Exil, als auch aufgrund ihrer formalen Gestaltung. Die Autorin verwendete für die rund 34.000 Seiten stets dasselbe querformatige und gelochte Papier, ihre Handschrift blieb über die sechs Jahrzehnte akkurat und fast kalligrafisch, und die beschriebenen Seiten band sie am Vorabend ihres Geburtstages, also jeweils am 24. November, mit einer Kordel und zwei Kartondeckeln zu Bänden. Dieses Ordnungsprinzip beim Schreiben entspringt dem Wunsch, das politische und familiäre Chaos zu strukturieren.

1922 bis 1924 lebte Thea Sternheim in Dresden in der Villa Waldhof in Wilschdorf, es waren unglückliche Jahre, weil die Ehe mit dem exzentrischen und krankhaft größenwahnsinnigen Dramatiker Carl Sternheim immer mehr zerbrach, ihre Kinder Dorothea (1905-1954) und Klaus (1908-1946) unter der familiären Situation litten und deshalb das Haus früh verließen. Zudem blieb ihr als Rheinländerin die sächsische Kulturmetropole fremd, unter den Dresdner Sezessionisten der Gruppe 1919 verkehrte sie lediglich mit Conrad Felixmüller, selbst Mary Wigman soll Sternheim als »irgendwie deutsche Provinz mit einer leicht sächsischen Nüance« bezeichnet haben. Nach dem Auszug der Kinder zogen Sternheims zurück nach Uttwil in die Schweiz, Thea Sternheim trennte sich 1927 von Carl Sternheim und emigrierte aufgrund ihrer vorausschauenden politischen Haltung bereits 1932 nach Paris, wo sie dank ihrer Freundschaft mit André Gide schnell Zugang zu den französischen Intellektuellenkreisen hatte. Abgesehen von der Internierung in Gurs wohnte sie 30 Jahre lang, zunehmend verarmt, in Paris. Noch mit 80 Jahren übersiedelte sie nach Basel, wo sie 1971 starb. Der Nachlass von Thea Sternheim wird im Deutschen Literaturarchiv Marbach verwahrt, ein Teil der Fotografien befindet sich in Privatbesitz. 2015 wurde in der Universitätsbibliothek Basel erstmalig eine Ausstellung über ihr Leben und Werk gezeigt. Der Ausstellungskatalog »Keiner wage, mir zu sagen: du sollst!« Thea Sternheim und ihre Welt und die 2021 erschienene Biografie Thea Sternheim. Chronistin der Moderne von Dorothea Zwirner (zum Nachhören ein interessantes Interview im Deutschlandfunk Kultur) sind wie die Tagebücher ebenfalls im Wallstein Verlag erschienen.

Thea Sternheim, Tagebücher 1903-1971, hg. von Regula Wyss, 2., durchgesehene Auflage, Göttingen, Wallstein 2011.

 

Julia Franck: Welten auseinander

Erst beim Nachdenken über meine Lesebiografie ist mir aufgefallen, dass sämtliche Bücher, die ich ausgewählt habe, weil sie mich im Laufe meines Lebens tief berührt haben, aus einer deutsch-deutschen Exilerfahrung heraus geschrieben wurden, als Selbstvergewisserung und Überlebensstrategie. So hat mich auch der neue Roman Welten auseinander von Julia Franck inhaltlich und sprachlich stark beeindruckt, schon die ersten Sätze im Prolog nahmen mich gefangen: »Oft liegen unsere Geschichten und unsere Sicht auf die Wirklichkeit Welten auseinander.«
Die 1970 in Ost-Berlin geborene Autorin (oder soll ich besser schreiben: Protagonistin?) erlebte achtjährig die Flucht in den Westen und wohnte, nein, hauste, mit ihrer Hippie-Mutter und drei Schwestern zunächst im Notaufnahmelager und später in einem heruntergekommenen Hof in Norddeutschland, sie lebten von Sozialhilfe, die Kinder waren sich ganz und gar selbst überlassen. Beim Lesen stockte mir der Atem, so unfassbar ist das, was den Mädchen zugemutet wird und wie sie den Alltag bewältigen. Das Besondere an dem Roman ist, dass Franck die asozialen Verhältnisse zwar sehr anschaulich beschreibt, aber ohne Vorwurfshaltung oder Bitterkeit von der seelischen und häuslichen Verwahrlosung erzählt, ja sogar fast zärtliches Verständnis für die Mutter aufbringt, die ihrerseits im Familientrauma gefangen ist, ebenfalls Opfer einer beziehungsunfähigen und selbstsüchtigen Mutter. Die in einer jüdischen Professorenfamilie aufgewachsene Großmutter studierte Bildhauerei, gelang über die Wandervogelbewegung in sozialistische Jugendbünde und überlebte ohne ihre Familie im Exil auf Sizilien. »Sich selbst betrachtete sie nicht als Opfer, sie war eine stolze Kämpferin. Den Arbeiter schlechthin verehrte und mystifizierte sie. Wo in aller Welt und wie sonst konnte eine deutschsprachige, jüdische Künstlerin ihrer Generation die Welt erobern, wenn nicht im Arbeiter- und Bauernstaat? Ihr Umzug 1950 in die neu gegründete Deutsche Demokratische Republik, die von einer sozialistischen Partei angeführt den Antifaschismus für sich reklamierte und sich Marx’ Philosophie bediente, musste ihr vollkommen natürlich erscheinen. Sie wollte Kunst für Arbeiter machen.« Als Verfolgte des Naziregimes standen ihr in der DDR Privilegien zu, die sie allerdings abhängig machten und als Geheime Informantin für die Staatssicherheit arbeiten ließen: »Sie hatte ihren Beruf, ihre Steine, Bildhauersymposien im Elbsandsteingebirge, leitete Töpferzirkel, unternahm Reisen nach Frankreich und zu ihrem Bruder in den Libanon, hatte ihre unzähligen Freunde, die Partei und ihr eigenes aufreibendes Liebesleben – da war für noch mehr Kinder kein Platz.« Der Protagonistin gelingt es im Alter von dreizehn Jahren, ihre Familie und die unhaltbaren Zustände zu verlassen, erneut eine Flucht, diesmal nicht aus, sondern zurück nach Berlin, allerdings in den Westteil der Stadt. Sie kommt zunächst bei Freunden der Mutter, später in einer Kiffer-WG unter und zieht sich immer weiter in ihr Innerstes zurück, indem sie hinter verschlossener Zimmertüre Tagebuch schreibt. In der Schule verschweigt sie ihre Herkunft, besucht die Großmutter im Ostteil der Stadt nur heimlich, wochenends oder in den Ferien. Es kostet sie große Überwindung, in der ersten wirklichen Liebesbeziehung Vertrauen aufzubauen und Liebe zuzulassen. »Beide waren wir in Berlin geboren, er in West und ich in Ost. Unsere Welten und Familien konnten kaum unterschiedlicher sein. Er kam aus einer traditionellen Familie, Mutter, Vater, zwei Kinder. Die Eltern waren kluge und gebildete Menschen, beide Richter. Sie kamen ihrerseits aus ordentlichen und wohlhabenden Verhältnissen, aufgeklärtes Bildungsbürgertum, deutsche Protestanten. Ostern und Weihnachten gingen sie in die Kirche, der eine etwas lieber als der andere. Politisch waren seine Eltern nie einer Meinung, sie wählten entschlossen gegensätzlich. Sie hatten Humor und waren jeder auf seine Weise sehr warmherzig. Stephans familiäre Herkunft, obwohl sie für Deutsche und insbesondere für Westdeutsche meiner Generation konventionell und geradezu typisch erscheinen konnte, demokratisches Selbstverständnis des westlichen Nachkriegsdeutschlands, war mir in vielerlei Hinsicht fremd. Dagegen kam ich aus dem Chaos, Ost, Nord, West, als Nomadin, Flüchtige und fast Waise daher.«

Julia Franck, Welten auseinander, Frankfurt am Main, Fischer 2021.

 

Deutsch-deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik

Als Quintessenz meiner Lesebiografie aus deutsch-deutschen Exil-Lektüren von Herta Müller über Birgit Vanderbeke, Mascha Kaléko, Thea Sternheim bis zu Julia Franck steht deshalb zum Schluss der Band Deutsch-deutsches Literaturexil: Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik. Die von Walter Schmitz und Jörg Bernig herausgegebenen Beiträge über Wolf Biermann, Thomas Brasch, Siegmar Faust, Wolfgang Hilbig, Peter Huchel, Sarah Kirsch, Uwe Kolbe, Reiner Kunze, Hartmut Lange, Monika Maron, Helga M. Novak, Ulrich Schacht sowie Gerhard Zwerenz untersuchen die literarischen Spuren der Umbruchserfahrung, die poetologischen und literatursoziologischen Konsequenzen von Überwachung, Verfolgung, Emigration und Exil. Für die kritischen Autorinnen und Autoren, die blieben, fand sich in den 80er Jahren außerhalb des offiziellen Literaturbetriebs der DDR in originalgrafischen Zeitschriften und Künstlerbüchern eine, wenn auch geringe, Publikationsmöglichkeit. Die Sächsische Landesbibliothek erwarb die Titel offiziell für ihre Grafiksammlung, aktuell sind sie in der Ausstellung »Der gemeinsame Nenner. 30 Jahre Künstlerbuch-Almanach Common Sense und die Grafik- und Künstlerbuchsammlung der SLUB« zu sehen. Der 1989 kurz vor der Wende erstmalig erschienene Künstleralmanach Common Sense steht in dieser Tradition und versammelt in seinen insgesamt 30 Bänden Erstveröffentlichungen von Herta Müller, Jürgen Becker, Marcel Beyer, Volker Braun, Elke Erb, Durs Grünbein und vielen anderen namhaften Dichterinnen und Dichtern.

Deutsch-deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik, hg. von Walter Schmitz und Jörg Bernig, Dresden, Thelem 2009.

Im Rahmen der Ausstellung »Der gemeinsame Nenner. 30 Jahre Künstlerbuch-Almanach Common Sense und die Grafik- und Künstlerbuchsammlung der SLUB« findet am 31. März 2022 eine Lesung mit Durs Grünbein statt.

 

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Biografisches zu Julia Meyer

Julia Meyer studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg/Br. und wurde an der TU Dresden mit einer Arbeit zur Autorschaftsinszenierung der deutsch-jüdischen Dichterin Mascha Kaléko promoviert. Nach einem Volontariat in der Frankfurter Verlagsanstalt arbeitete sie zunächst als Vertriebsleiterin im Göttinger Wallstein Verlag. 1999 wechselte sie zur SAP Deutschland und war dort bis 2009 als Marketing Manager für die Strategie- und Geschäftsfeldentwicklung SAP Media verantwortlich. 2015 kam Julia Meyer als Fachreferentin für Germanistik zur SLUB Dresden. Sie arbeitete seit 2016 zudem im Landesdigitalisierungsprogramm und leitete das Digitalisierungsprojekt »Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel«. Als Wissensmanagerin für den Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelte sie mehrere Kooperationsprojekte mit der TU Dresden, darunter das SLUB TextLab, das für seine innovativen Lehr- und Lernkonzepte mit dem Preis für Zukunftsgestalter 2020 ausgezeichnet wurde. Zuletzt leitete sie die Abteilung Benutzung und Information der SLUB Dresden, seit 1. Februar 2021 ist sie Koordinatorin des Bibliotheksbetriebes und Stellvertretende Generaldirektorin. Julia Meyer arbeitet ehrenamtlich als Mitglied der Facharbeitsgruppe Literatur für die Landeshauptstadt Dresden sowie als Jurymitglied für das Dresdner Stadtschreiberstipendium.