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20.12.2021
Manfred Wiemer

Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Manfred Wiemer

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Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …

Meine Auswahl markiert mir besonders wichtige Lebensabschnitte, prägende Momente mit Büchern oder durch Bücher. Erlesene Bücher verbanden sich mit Erlebnissen, Verflechtungen stellten sich her, oft nicht mehr voneinander zu trennen. Nicht selten wurde ein Buch zum Cliffhanger für ein nächstes. Auf sechs beschränkt ist diese Auswahl ein Verzicht, ein fauler Kompromiss, eine bedingte Kapitulation. (Wie kann die Bibel fehlen? Nie komplett gelesen, nur abschnittsweise, anlassgesteuert, stichwortbezogen.) Was fehlt noch? Der »jugendliche« Einstieg mit Frisch, Böll, Handke, Christa Wolf. Kafka, Beckett und die Absurden, Franzosen und Polen, bei der Armee. Dann haben wir wie benommen Meyrink und Joseph Roth gelesen. Im Krankenhaus vergingen die Tage mit Joyce. Nach Arno Schmidt war ich eine Zeitlang süchtig, habe sein Haus gesucht und bin zuerst im falschen Bargfeld angekommen. Die schmalen Bände mit Bobrowskis Gedichten und Geschichten ziehe ich über die Jahre immer wieder aus dem Regal. Nach Marquez‘ Chronik eines angekündigten Todes wusste ich, dass die Nibelungen nie vorbei sein werden. In fiktiver Nähe fand ich Camus‘ Der Fremde, diese gefrierende Hitze. Dagegen war Proust die passende Lektüre für Zeiten im Mecklenburgischen Grün, ein Kontrast von großem Reiz. Baudelaire und Dante parallel zu lesen ist mein neuestes Abenteuer. Diesmal angeregt durch die »Korrespondenz« einer befreundeten Künstlerin mit dem Wiener Weltgericht des Hieronymus Bosch. Usw. usf., viel zu wenig Amerikaner, ganz zu schweigen von asiatischen und afrikanischen Autoren. Einzelne Namen nennen heißt Namen auslassen, vielleicht wäre es besser, keine Namen zu nennen.

Die Nibelungen / Das Nibelungenlied

Norbert war ein kräftiger Junge, ehrgeiziger Fußballer, mein Klassenkamerad. Einmal hat er mich verprügelt, weil ich ein Tor gegen seine Mannschaft geschossen hatte. Der Sportlehrer stoppte die Tausendmeterzeiten der Mädchen und hatte uns Jungs auf den Kleinfeldplatz hinter dem Pappelhain geschickt. So waren wir unter uns und spielten nach unseren Regeln. Dank meines Tors gewann unsere Mannschaft das Spiel. Das Spiel war unterbrochen, weil Norbert mich verprügelte. Der Sportlehrer kam und erklärte das Spiel für beendet. Am nächsten Tag gingen wir uns aus dem Weg, ich fühlte mich von Norberts Schlägen gedemütigt, er konnte die Niederlage nicht verwinden. Aber irgendetwas musste zwischen uns passieren. Aussprachen oder gar Entschuldigungen sahen die Regeln der Jungs nicht vor. Es verging nicht viel Zeit. Wir sprachen wieder miteinander und taten so, als hätte es das gewonnene bzw. verlorene Spiel nicht gegeben. Ohne darüber zu sprechen, arrangierten wir es vor den nächsten Spielen, dass wir in der gleichen Mannschaft sein konnten. Wir gewannen immer. Einer von uns schoss die Tore, der andere umarmte dann den Schützen. Eines Tages sprach Norbert von Helden. Er hatte ein Buch zu lesen begonnen und eine neue Welt entdeckt. Jeden Tag erzählte er mir begeistert von dem am Abend zuvor Gelesenen. Von Helden schwärmte er: Siegfried, Gunter, Hagen und Dietrich von Bären. Von Bären, das klang ungewöhnlich. Es gab auch Drachen, Zwerge, Schwerter und Tarnmasken. Wir fühlten uns – nunmehr zusammen – stark. Schöne und starke Frauen wurden erobert, alles Königinnen mit unglaublichen Schätzen. Ich erinnere mich, wunderbar geträumt zu haben. Ein paar Monate später lagen auf dem weihnachtlichen Gabentisch Kudrun und Nibelungen und Der Schatz im Silbersee (aus dem Westpaket). Am gleichen Abend musste ich meinen Dietrich von Bären durch Dietrich von Bern ablösen lassen. Eine kleine Enttäuschung. Karl May übrigens schmeckte ab der ersten Zeile süßlich, ich wollte ihn nie lesen.

Eigenartig, Siegfried mochte ich von Anfang an nicht. Dieser Jüngling aus bestem Hause, dieses Strahlen, diese Stärke bar jeder Vorstellung, dazu die fast völlige Unverwundbarkeit, das langweilig Makellose provozierten mich. Was war das für ein Held? Erniedrigend für alle, wie er Gunter bei Brünnhilde »zu Diensten« war. Ich wünschte ihm einen ebenbürtigen Gegner, der ihn in die Schranken weisen und seinen Hochmut brechen würde. Gunter, Giselher, Gernot – diese Namen mochte ich. Siegfried verachtete ich ob seiner Naivität und hoffnungslosen Dummheit, die ihn ins Verderben führen mussten. Es war der Preis für Stärke und Schönheit, so sah ich das. (Ich weiß, welche Deutungen Psychologen zur Hand haben.) Hagen dagegen war klug und hinreichend finster, den ganzen Zauber zu zerstören. Seine List, Kriemhild zur Markierung der einzig verletzlichen Stelle zu bewegen, um Siegfried vor Gefahren schützen zu können, erschien mir perfide, befremdlich, aber irgendwie beeindruckend. Die spätere, fürchterliche Rache der künftigen Witwe preiste er kühl ein. Und beschwor damit ein an Grausamkeit schwer zu übertreffendes Schlachten herauf. Ob ich das etwa »gut« fand? Sympathy for the devil? Vielleicht trifft es das Wort »ungewohnt« am besten. Das strahlend Heldenhafte konnte nicht die Lösung sein. Ich wusste damals noch nicht, dass sich die nationalsozialistische Propaganda der Nibelungensage als Motivationsstück bediente, um Heldentum herauszufordern mit einem in sich vollkommen widersprüchlichen Changieren zwischen den »Helden« Siegfried und Hagen.

Das Dresdner Staatsschauspiel brachte 1984 Die Nibelungen nach Friedrich Hebbel an zwei Abenden auf die Bühne. Wolfgang Engel zeigte in seiner Inszenierung ein Deutsches Trauerspiel als scheinbar unausweichliche Abfolge von Gewalt, schließlich den Untergang eines auf permanenter Drohung, Demagogie und Ideologien aufgebauten Staates. Am Ende der Schlachten und des Schlachtens scheint die pure Zerstörung, auch die Zerstörung Dresdens, auf.

Kudrun und Nibelungen, Deutsche Heldensagen. Zweiter Band, nacherzählt von Heinrich Alexander Stoll, Der Kinderbuchverlag Berlin, 1963. Das Buch ist verlorengegangen, deshalb ersatzweise: Das Nibelungenlied, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1973.

Frieder Burkhardt: Weinberg – Offene Türen im Osten

Zu Beginn der 1970er Jahre wohne ich noch im Dresdner Stadtteil Trachenberge. Für die evangelischen Christen »zuständig« ist hier die Weinbergkirche. Ihr Name verweist auf alte Winzerherrlichkeit und am Ende die Reblaus. Zwischen Sonntagsgottesdienst und der Stillen Stunde am Clavichord wird die alternde Gemeinde durch die Wochen und Jahre geführt. Immerhin lebt in ihr eine, auch hier elbhanggeprägte, Bürgerlichkeit. Sie ist kein Hort der Opposition. Bis im Herbst 1970 ein junger Pfarrer – Frieder Burkhardt – in die Weinbergkirche eingeführt wird. Schnell wird ihm der Titel »Jugendpfarrer« verliehen, durchaus ambivalent. Für viele Immer-schon-da-Kirchgänger ist er ein Störer des friedlichen Gemeindelebens, für die Vertreter des Staates ein zu beobachtender Provokateur. Für die bald in großen Scharen anrückenden Jugendlichen wird er zum »Hoffnungsträger«, zum Verbündeten; sofort spüren wir seine besondere Ausstrahlung. Viel wichtiger ist, dass mit (nicht unter) Frieder Burkhardt eine offene Gemeinschaft entsteht, die Platz und Gehör für jede und jeden bietet. Du kannst der bald deutschlandweit gefeierte Liedermacher sein oder gerade aus dem Knast kommen, der Physikdoktor oder der zum »asozialen Element« gestempelte Arbeitsverweigerer, Wehrdienstverweigerer sowieso. Dein Baustellensächsisch wird gehört wie dein an Rilke geschultes Hoch-Deutsch. Für die Beteiligten (es sind nicht wenige) ist Weinberg eine Zeit lang Heimat. (Und eine ihrer Heimaten bleibt er für viele bis heute.) Weinberg wird zum kollektiv geprägten Synonym für die Suche nach Freiheit, nach einem gelingendem Leben, nach Alternativen zu DDR-bedingtem Zwangsverhalten. Dass wir damit in Widerstand zum »System« gerieten, war folgerichtig. Sicher ist es nicht verfehlt, Wurzeln für die friedliche Revolution von 1989 in (geistigen) Orten wie Weinberg zu finden. Mein Leben wäre wahrscheinlich anders verlaufen ohne diese Zeit, ohne diese Impulse, ohne diese Menschen.

Fünfzig Jahre später nun erscheint Frieder Burkhardts Buch über die Weinberg-Zeit, nicht in erster Linie als Dokumentation, vielmehr als sehr persönlicher Rückblick. Beschrieben wird der (jedenfalls zeitweise) gar nicht so utopische Versuch gelingenden Lebens in einem wahr-losen, verwahrlosten und misstrauischen Umfeld. Jegliche Missionsrhetorik meidend sucht Burkhardt auch überzeugende Antworten, was (uns) »Christsein« damals (und heute!) bedeuten könnte. Argumente für ein »richtiges Leben im falschen«. Überdies bietet das Buch eine der prägnantesten Darstellungen des alltäglichen Lebens in der DDR.

Anfangs ist der Stakkato-Sound des Textes gewöhnungsbedürftig. Schnell aber wird klar: Kurze Sätze, klare Prägnanz, es ist stimmig so. Und es scheint das Skizzenhafte des Rückblicks auf, keine ausgewogen distanzierten Reflexe. Alles immer noch mit Fragezeichen. Die Wort- und Kontextspiele gehören unverwechselbar zum Autor. Das »Beim-Wort-Nehmen« verlässt das Spiel und macht Ernst mit (dem Sprachdiktat) der DDR-Ideologie, den Verschwiemelungen in »Kirchenkreisen« und ganz anders mit den „anarchischen“ Einwürfen der Weinbergler selbst.

Wenn ich an dem Buch etwas zu kritisieren habe, dann den Umstand, dass es – sorry, Sax-Verlag – nicht mit gehöriger Publicity in einem überregional agierenden Verlag erschienen ist. Es ist ja viel mehr als ein präzises Bild einer (vergangenen) Zeit – was schon enorm viel ist. Es weist in die Gegenwart und Zukunft. Manches Detail von damals mag heute angestaubt wirken, (besonders bei den »Weinberglern«) eine ambivalente Nostalgie aufrufen. Der gedankliche und praktische Aufwand, sich die Dinge in die Gegenwart zu holen und – ja: zu leben, dürfte die Interessierten nicht überfordern. Also – ich wünsche dem Buch allergrößte Verbreitung.

Frieder Burkhardt, Weinberg – Offene Türen im Osten. Suche nach gelingendem Leben, Sax-Verlag Markkleeberg, 2020.

 

Georg Büchner: Lenz

Meine Reclam-Ausgabe von 1979 enthält – entgegen üblicher Praxis zu dieser Zeit – weder ein Vor- noch ein Nachwort. Keine Einstimmung, keine Einordnung zu Büchners komplett abgedrucktem Werk. Der DDR-Leser wird mit dem Revoluzzer und Politflüchtling allein gelassen, ungewöhnlich in einer Welt des betreuten Lesens. Außerdem auch kein Hinweis, dass es sich bei diesem Lenz um ein Fragment handelt, das darüber hinaus noch eine verwirrende editorische Geschichte hat und nicht das Original von Büchners Hand darstellt. Ich lese den Text im ausgehenden Winter 1980 also völlig unbefangen, nehme die nicht seltenen Handlungs- und Gedankensprünge, auch offensichtliche Auslassungen als dramaturgische Finesse wahr. Ich habe den Lenz seither wieder und wieder gelesen, den Text streckenweise fast auswendig gekannt. Als ich 1992 auf einer Reise nach Straßburg eine neue Ausgabe (wieder von Reclam) – diesmal nur Lenz – las, stutzte ich schon im ersten Satz: Das Wort »Jänner« fehlte. Nun hieß es: »Den 20. ging Lenz durchs Gebirg«. Die neue, quellen- und überlieferungskritische Ausgabe beinhaltete einen umfangreichen Anhang. Insbesondere Georg Büchners Bruder Ludwig hatte den Text selbst ermächtigt »bearbeitet«. Die neue Ausgabe zeigte die Fehlstellen des Textes, seine vermeintlichen Wunden an. Ich war enttäuscht. Nicht vom fehlenden »Jänner« oder den fehlenden Punkten im letzten Satz des Textes; gerade diese beiden »Änderungen« waren nachvollziehbar. Nein, ich sah den Text als »so gewolltes« Werk, nicht als vom Autor später wieder aufzunehmendes, vorläufiges Fragment oder gar als Skizze, wie im Nachwort anklingt. Geradezu genial fand ich die Verwendung und Verwandlung Pfarrer Oberlins »Bericht über Herrn L……« (im Anhang abgedruckt), den Büchner ganze Passagen lang, oft auch wörtlich, in »horrend unverfrorener Weise« (Christa Wolf) »benutzt«.

Zurück nach 1980. Sich fügen, eine Nische finden, Wege und Auswege suchen, sich einrichten, das Glück im Kleinen bauen. Der Berufseinsteiger, vom Studium der Ökonomie des Binnenhandels in Leipzig 1979 nach Dresden zurückgekehrt, lebt fortan in drei Welten: in seiner bis dato vierköpfigen Familie, als Leitungsassistent in einer Prohliser Kaufhalle für Waren des täglichen Bedarfs und in einem Kreis an-, zuweilen aufsässiger Künstler aller Sparten, auch Lebenskünstlern, zwischen Loschwitz und Pillnitz. Familie und Künstlerkreis sind nah beieinander; zwischen diesen beiden und der Kaufhalle liegt der Strom Elbe, täglich mit der Fähre zwischen Pillnitz und Kleinzschachwitz zu überqueren. Mit den Monaten und Jahren vertieft sich der Strom, diesseits das Leben, jenseits die immer unerträglichere Pflicht. Das Entdecken der »richtigen« Literatur wird, ähnlich wie in den anderthalb Jahren Armeezeit, lebensnotwendig. Die kleine Büchner-Broschüre kaufe ich auf Hinweis eines kundigen Freundes des Hessischen Landboten wegen. »Kannst du glatt auf die DDR beziehen.« Lenz auch, werde ich wenig später wissen.

Was würde sich zwischen »Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg« und »So lebte er hin …« entfalten? Frische Luft, Aufbruch bergan, was das Wandern so ausmacht? Nein, Nässe, Nebel, schwere Äste, alles zieht nach unten. Lapidarer kann ein Einstieg kaum sein. Aufzählung des Faktischen, Elementaren. Diesem Wanderer liegt nichts am Weg. Die Natur weist Lenz ab vice versa. Wo alles nach unten zieht, »war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.« »Auch will er sich in das All wühlen.« (Ankündigung eines chronischen Ausnahmezustands, wird mir erst später klar.) Zwischen Not und Allmachtsphantasie geworfen, erreicht Lenz das Steintal. Dann trifft er auf Menschen. Zuerst in Oberlins Pfarrhaus. Es ist fortan bis zum Schluss eine Geschichte getriebenen Wahns, der immer wieder Abkühlung im Hofbrunnen sucht, was nur in der Nacherzählung komisch klingen mag. Lenz, die religiöse und familiäre Wärme suchend, findend, wieder verlierend und so fort. Immer neues Geschehen führt immer wieder in einen Kreis, dem der sich in jeder Weise scheiternd fühlende Dichter Lenz nicht entweichen kann. Hier muss sich der DDR-Mensch angesprochen fühlen. Man spürt die Nähe dieser Vergeblichkeit, zwischen Einkehr und Unruhe, zwischen Anpassung und Aufbegehren. Am Ende Ankunft in Straßburg: »Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er tat alles wie es die andern taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. So lebte er hin …« Sich fügen, gefügt werden, könnte der Schluss betitelt sein. Dem engen Kreis des Staates DDR entwichen zunehmend die Menschen, zunächst in eine Art inneren Widerstand, in den Westen und am Ende in ein anderes System. (Bar jeder poetischen Be(tr)achtung führt uns das »Lexikon« Wikipedia durch die Welt der Psychologie, als wäre Lenz als Text eine etwas ausgeschmückte Krankengeschichte. Bipolare Störung, Borderline-Störung, manisch-depressive Gemütsverfassung, Schizophrenie, Wahnvorstellungen, Apathie werden aufgezählt.)

1982 inszeniert Wolfgang Engel sein Büchner-Projekt für die Bühnen und Foyers des Dresdner Großen Hauses (jetzt Schauspielhaus). Lenz wird als Dreipersonenstück aufgeführt, in dem Engel die Biografien Jakob Michael Reinhold Lenz‘ und Friedrich Hölderlins miteinander verknüpft und beide Dichter und Theologen als Opfer der gesellschaftlichen Umstände in »geistiger Verrückung« darstellt. Zwar ist Büchners Lenz die Textbasis, im Bühnenbild aber, dessen Bestandteil die Zuschauer sind, werden wir in eine Irrenanstalt geführt, in die Hölderlin (nicht Lenz) zwangsweise verbracht worden war. Vor Beginn der Aufführung wird das Publikum von Krankenschwestern einzeln durch die labyrinthischen Gänge des Schauspielhauses geleitet, im Programmheft von 1982 gibt es eine Wegskizze. Das Gleichnis ist – künstlerisch zugespitzt – nicht schwer zu entschlüsseln: Wir leben im Grunde alle unter Führungsaufsicht (im Maßregelvollzug), zumindest aber in klaustrophobischen Verhältnissen im Land DDR. Und natürlich darf man sich auch die Frage stellen, wo im eigenen Kopf die Gitterstäbe verlaufen.

Sicher war es 2008 ein etwas irres Unternehmen, ins Steintal, nach Fouday und Waldersbach zu wandern, um Spuren von Lenz zu suchen, über Oberlin immerhin war Interessantes zu erfahren. Die verspätete Realitätserkundung und -ernüchterung schadeten dem eigenen Fiktionsgebilde nicht. Ich bin mit Lenz durch die Zeiten gegangen, er hat alle Wendungen überstanden, begleitet, erklärt. Der Text ist ein Szenarium, vor dem alle wesentlichen Stücke des Alltags und des Großenundganzen gespielt wurden und werden. Für mich die (permanente) literarische Entdeckung an sich; keinen Text habe ich öfter gelesen.

Georg Büchner, Dichtungen, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1979; und: Georg Büchner, Lenz, Studienausgabe, Philipp Reclam jun. Stuttgart, 1984,1998/2000.

 

Christina Grummt: Caspar David Friedrich. Die Zeichnungen

Ein flacher, langgestreckter Hügel, dann das Meer als Horizontlinie, eine Küstenlinie begrenzt vorn die Meeresbucht, winzige Bäume und Buschwerk, nichts weiter, kein Haus, kein Mensch, nur noch ein riesiger Himmel, der gänzlich weiß drei Viertel des Blattes einnimmt. Rügenlandschaft mit Fernblick von Stresow über das Reddevitzer Höft nach Mönchgut, 17. Juni 1801 von Caspar David Friedrich auf seiner ersten Rügen-Reise in das Skizzenbuch gebracht. Eine unscheinbare Zeichnung, die man in Christina Grummts zweibändigem Verzeichnis aller Zeichnungen des größten Künstlers der Romantik leicht überblättern kann. Wenn man sich auf die Suche nach den »Quellen« der bedeutendsten Malereien Friedrichs begibt, den ersten Ikonen der Moderne, oder die äußerste Reduktion einer gegenständlichen Kunst, die sich mit dem Blick von heute nahe an die Grenzen zur Abstraktion begibt, kommt man auch an diesem kleinen Blatt nicht vorbei. Der Mönch am Meer, jenes unfassbare Bild, das den Menschen – uns – mit dem Nichts konfrontiert, mag hier wurzeln. Die Silberstiftzeichnungen des Dresdner Malers Wilhelm Müller oder die Blätter Bernd Hahns mit den über die Blattkanten hinaus zu denkenden Waagerechten sind nicht weit entfernt. Wenn dann noch eigene biografische Spuren zum Abgleich der Landschaften – natürliche und geistige – verführen, wird man nicht von dieser und vielen anderen Zeichnungen lassen können.

Ich ließ mir die Rügenlandschaft mit Fernblick von Stresow über das Reddevitzer Höft nach Mönchgut im Dresdner Kupferstichkabinett vorlegen, ebenso das Blatt Arkona vom 22. Juni 1801, das als (quadriertes) »Vor-Bild« für die wundervolle Sepiazeichnung Blick auf Arkona mit aufgehendem Mond anzusehen ist. Vitt als ein Ort alljährlicher Besuche schon seit meiner Kindheit, in den letzten zwanzig Jahren eigentlich nur noch in den Wintermonaten ein geliebtes Ziel. An dieser Uferpartie scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Ebenso in der Klosterruine Heilig Kreuz bei Meißen, in der Friedrich um 1824 einen Pfortendurchgang in zwei Aquarellen detailgetreu festgehalten hat. Bis in Einzelheiten des Mauerwerks oder der Gesimse sind fotografische Vergleiche ergiebig. Man meint, die gleichen Ziegelschrunde zu bemerken. (Hatten die Restauratoren vor ein paar Jahren die Blätter vor sich liegen?) Übrigens, den ältesten Meißner Weinstock finden wir in der Nähe, und im Sommer wird ein köstlicher Riesling ausgeschenkt.

Die beiden Bände von Christina Grummt sind für mich voller Anregungen für eigene Beobachtungen in den (geliebten) Landschaften Rügens, Meißens und der Sächsische Schweiz. Genauso wichtig sind mir die Bände als eine Art Meditationsquelle und als Erkenntnisort der Zusammenhänge zwischen Gegenstand und Geist. Stellen wir uns also einen Winterabend vor, einen Band Friedrich-Zeichnungen unter der genau ausgerichteten Schreibtischlampe, ein gutes Glas Wein, einen Stift, ein paar Zettel … Wer will, kann noch Cage, gregorianische Choräle oder Pärt dazu hören, aber eigentlich macht‘s eher die Stille.

Christina Grummt, Caspar David Friedrich. Die Zeichnungen I. Das gesamte Werk, Verlag C.H.Beck, München, 2011.

 

Anna Seghers: Transit

Weniges an meiner Beschulung ärgert mich heute mehr als der Gebrauch, die Vernutzung von Literatur als Instrument in der Erziehung gefestigter sozialistischer Persönlichkeiten. (Schon dieser Satz weiß nicht so recht, ob er konsequent genug einen Skandal beschreibt.) Zeitgenossen, die den damals vorgeschriebenen Lesekanon und vor allem seine Vermittlung in Schutz nehmen, verweisen auf die Unzulänglichkeit leider gerade meiner Lehrerin. Bei ihnen sei das ganz anders gewesen. Ja, das will ich nicht bestreiten. In meiner – durchaus groben – Erinnerung war der Literaturunterricht zu oft eine Quälerei. An eine der Ausnahmen erinnere ich mich gern. Das Siebte Kreuz von Anna Seghers. Bevor das Buch, dessen Erwerb verpflichtend war (einige Leihexemplare wurden für Kinder geringverdienender Eltern vorrätig gehalten), im Unterricht »behandelt« wurde, stand mein Urteil schon fest: sicher geht es wieder um verfolgte Kommunisten und böse Faschisten, wer am Ende siegen wird ist von vornherein klar, das Übliche, Schema F, langweilig … Doch dann passierte Außerordentliches. Das Buch war einfach spannend! Später werde ich die Komposition des Romans, seine Bezüge zur christlichen Mythologie, die vielen sprachlichen Feinheiten schätzen. Es ist kein Buch, das die Schulmeisterfrage »Was will uns die Autorin sagen?« einfach beantworten lässt.

Jahrzehnte später, 2013, dann Transit von Anna Seghers, »freiwillig« gelesen. Eine zum Text geronnene Flucht, erzwungen aus dem Fluch des deutschen Verfolgungswahns, der den Erzähler namens Seidler, später Weidel, bis an den Rand Europas treibt. Jeden Moment kannst du auffliegen. Es gibt keine Gründe geschützt zu sein. Menschen aller Schattierungen treiben und werden getrieben, unter permanenter Bedrohung. Mancher will dir helfen, und obwohl du keinen Grund findest, warum eigentlich in dieser Welt des Rette-sich-wer-kann, vertraust du ihm blind. Folgst den irrwitzigsten Empfehlungen, sie bewähren sich, während kurz darauf das Naheliegende schroff scheitert. Ausgeliefertsein, Hineingeworfensein in dieses brodelnde Marseille, auch wenn man es bewusst gewählt hatte, wählen musste. Jede Existenz ist unglaublich wertvoll und entwertet in jeder Sekunde. Die Fliehenden sind kafkaesken Situationen ausgesetzt. Undurchschaubare Willkür lässt ihnen ein »Transit« gewähren oder verweigern, es kann verfallen. Die Behörden verhaften nach Belieben, nur Konsulate verheißen Hoffnung. Eine Odyssee zwischen der Cannebiere, dem Panier Viertel und dem Alten Hafen. Anna Seghers komponiert die komplex verwobenen Zusammenhänge der Personen vorzugsweise in knappen Sätzen zwischen Kolportage und Philosophie. »Uraltes frisches Hafengeschwätz …« Es ist zunächst Seghers‘ eigene Geschichte (und die vieler prominenter deutscher Intellektueller). Selbst im mexikanischen Exil angekommen, lässt sie ihren Erzähler in Marseille zurück, dem Tor zur Welt und bald der größten Falle. »Damals hatten alle nur einen einzigen Wunsch: abfahren. Alle hatten nur eine einzige Furcht: zurückbleiben. Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land …«, lässt Seghers ihren Erzähler das sechste Kapitel einleiten. Natürlich musste ich fortgesetzt an das Jahr 1984 denken, an die Freunde, die damals in den Westen gingen. »Laufzettel« waren abzuarbeiten. Vorher warteten sie jahrelang auf ihre »Ausreise« oder mussten über Nacht den legendären Grenzübergang passieren. Für uns andere galt: »Friedrichstraße, zurückbleiben!« Ich weiß, der Vergleich hinkt. 1984 ging es nicht um Leben und Tod. Um Freiheit schon.

2013, meine erste Reise nach Marseille. Die »nördlichste afrikanische Stadt« wird angekündigt, zumindest aber die südlichste Europas. Eine wunderbare Stadt, vielleicht die interessanteste in Europa. Eine krasse Stadt auch, voller Widersprüche. Das farbenprächtige arabische Viertel nahe dem Alten Hafen und die Quartiers Nord, die Banlieus Marseilles. Und der irrsinnig hohe und mit NATO-Draht gesicherte Stahlzaun um das Hafengelände, der so vieles über Europa sagt …

Nachsatz: Transit wurde 2018 von Christian Petzold verfilmt. Petzold verlegt die Handlung in die Gegenwart. Parallelen zu den Flüchtlingsdramen dieser Jahre sind erkennbar beabsichtigt.

Anna Seghers, Transit, Curt Weller & Co. Verlag Konstanz, 1948 (erste deutsche Buchausgabe).

 

Korfu. Auto + Freizeitkarte

Ich möchte Ihnen eine Landkarte gewissermaßen als Buch vorstellen, als mein eigenes, ein Unikat. Die auseinandergefaltete Karte ist eigentlich eher ein Bild, eine Grafik, ein Poster. Hundertzwanzig mal fünfundneunzig Zentimeter, die griechische Insel Korfu, im Maßstab eins zu fünfzigtausend, einschließlich der sie umgebenden Inseln, Wasser, Festland. Wie bei einer Buchseite können Sie die »Lektüre« links oben beginnen. Da stoßen Sie sogleich auf die mit rotem Ausrufezeichen hinweisende steinerne Hauptattraktion der Insel: den Canal d´Amour (bitte selbst nachschlagen). Der nahegelegene Ort wird von Wikipedia zutreffend beschrieben: »Sidari ist stark touristisch orientiert und besteht im Wesentlichen aus einer einspurigen Durchfahrtsstraße, an deren Seiten sich Hotels, Souvenirläden und Tavernen befinden. Sidari wird hauptsächlich von Briten besucht.« Derartige Orte gibt es einige auf Korfu. Sie können aber auch an einer beliebig anderen Stelle »hineinlesen« – und finden dann ausgesprochen verheißungsvolle Namen (wenn Sie mein Faible für den Klang von Worten teilen): Paleokastritsa, Doukades, Agios Mattheos oder Vitalades. Oder Sie suchen den Reiz einer (Stadt-) Landschaft in ihrer Historie: das Welterbe Altstadt Korfu steht bereit. Sie finden Strände, die mit den blauen Schirmchen, die eigentlich auch ganz schön sind, meist aber stark belebt.

Oder ganz anders: Wir fahren seit Jahren nach G. (Ich will, dass es ein Geheimtipp bleibt. In Reiseführern finde ich unter der Rubrik Geheimtipps zuverlässig überfüllte Tavernen, Strände oder Kafenions.) Wir bevorzugen unsere eigenen Entdeckungen. Bei jedem Besuch der Insel finden wir Orte, die wir großzügig als »unsere« bezeichnen. Es ist nicht überraschend, in der Karte tragen sie oft keine Namen, es gibt sie nicht und es bleiben so »unsere« Orte. Die Weite der Adria rings um die Insel, auf meiner Karte mehr als die Hälfte, lädt mich zu umfangreichen Eintragungen ein. Hinweise auf alte Wanderwege, Bergdörfer, magische Orte, auf weniger bekannte Tavernen, wo man Speisen und den Wein vom benachbarten Feld zu sich nimmt, den Fisch aus dem Meer vor der Tür. Es ist mein / unser Tagebuch. Jahr für Jahr kommen neue Orte hinzu, vermerkt mit schwarzem Faserstift, hinein ins hellblaue Ionische Meer.

Korfu. Auto + Freizeitkarte, Freytag & Berndt, Wien, 2006 (mit handschriftlichen Eintragungen MW).

 

Letzten Monat lasen Sie Sechs Bücher aus dem Regal von Roman Rabe

 

Biografisches zu Manfred Wiemer

Zur richtigen Zeit auf »besondere« Menschen zu treffen, ist Geschenk und Privileg. Seit seiner Kindheit in Trachenberge begegnet Manfred Wiemer, 1954 in Dresden zur Welt gekommen, immer wieder »solchen« Menschen, »besonders« in ihrer Herkunft, ihren Ansichten, Berufen, Kompetenzen, »besonders« in ihrer Ausstrahlung, die »Wellenlänge« des Gegenüber zu treffen und zugleich den Frequenzbereich zu erweitern. Das sind sie: Gärtnersohn, Pfarrer, Mitschüler, Lehrerin, Armeefilmvorführer, Maler, Schauspieler, eine Band, Villenbesitzer, Kabarettautor (später Museumsdirektor) mit eigenem Stammtisch, Filmemacher, Kommilitone, Kollegin, Galerist, Kunstvermittlerin … (manche im Plural). … immer wieder Impulse in verschiedenste Richtungen. So ist es fast egal, dass er nach dem Abi an der Kreuzschule, einer Ausbildung zum Fachverkäufer (Prüfung im Bereich Spirituosen) und der anderthalbjährigen Armeezeit »Ökonomie des Binnenhandels« in Leipzig studiert (warum?) und anschließend drei Jahre als Lager-, später Kaufhallenleiter arbeitet. Das »wahre« Leben spielt sich in der Familie und in Künstler(freundes)kreisen ab. Halbwegs in Gleichklang gebracht wird diese Lebensart durch die Aufnahme eines Jobs als Haushaltsauflöser und Schätzer, was frühe Feierabende und Stressfreiheit verheißt (heute wohl ein kaum zu begründender Karriereabriss). 1988 dann die berufliche Wendung zur Bildenden Kunst, als »stellvertretender Leiter« der Neuen Dresdner Galerie (neben dem Kulturpalast), von wo aus er 1989 die händchenhaltenden Insignien der SED abstürzen, Demonstranten von Polizeischlägern verfolgt sieht, wenig später den Bundeskanzler vor der Frauenkirchruine dröhnen hört. Als 1991 das städtische Kulturamt (personell neu) aufgebaut wird, lässt er sich auf eine Probezeit ein, das eigentliche Ziel ist eine eigene Galerie. (Man will nicht Beamter werden.) Das Kulturamt aber bietet erstaunlich große Gestaltungsräume, großartige Leute lernt man »nebenbei« kennen und äußerst spannende Dienstreisen lassen den elbtalgedimmten Blickwinkel deutlich erweitern. Selbst eine veritable Kunstmesse kann aufgebaut werden, die erste in den »neuen Bundesländern«. So geht es fast zwangsläufig weiter in diesem Amt, zwar zunehmend gezügelt und administrativ orientiert, aber immer mit neuen Herausforderungen. Ab 2005 leitet Manfred Wiemer das Amt für Kultur und Denkmalschutz, nur an wenigen Tagen betritt er, wie er sagt, das Kulturrathaus ungern. Ende 2019 scheidet er aus dem Amt, wunderbare Momente des Abschieds sind noch möglich. Dann überfällt ein Virus das Land, versetzt (auch) die Kultur in den so nie gekannten Zustand eines künstlichen Komas. »Ab jetzt werde ich wandernd, reisend, Musik hörend, lesend und diskutierend neue Gefilde suchen. Rückblickend will ich meine früheren Begegnungen mit Menschen, Bildern, Landschaften, Theater- und Musikstücken, Büchern, ihre Bezüge zueinander, ihr Geflecht erkunden und beschreiben. Meine Lesebiografie soll dazugehören und noch viele Ergänzungen finden.«