Sechs wichtige Bücher aus dem Regal von Heinz Weißflog (c) privat
Heinz Weißflog vor einem Bild von Wieland Richter (c) Wieland Richter
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14.06.2021
Heinz Weißflog

Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Heinz Weißflog

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Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …

Literatur als existentielles Erlebnis zwischen Fiktion und Erfahrung

Es gibt Bücher, die mich sofort überwältigt haben, die ich aber nur einmal las. Die anderen brauchten Geduld und fesselten doch. Sie wurden mir zu wahren Freunden und begleiten mich bis heute. Ein spannendes Buch, das durch einen geschickten Plot die Sinne fesselt und Unterhaltung schafft, vergisst man bald wieder wie einen kurzen Rausch. Ich gebe nicht viel auf die Fiktion, auf das Ausgedachte, das in vielen Romanen virtuelle Fäden spinnt, wenn es nicht wirklich erfahren wurde oder erfahrbar ist. Man merkt es dem Buch an, ob ihr Autor das Erzählte selbst durchlebt hat. Zwar, die Geschwister Brontë, in ihrer abgeschiedenen Welt, schufen etwas Unwiederbringliches, indem sie einen fiktiven Kosmos erdachten, wo sie im Schreiben, um sich abzuschirmen gegen ihre existentiellen Nöte, Vereinsamung, Krankheit und Trauer sublimierten. Das erzählerische Talent ist das Eine, die Erfahrung das Andere. In diesem Falle wird das Defizit der Erfahrung durch das Talent ausgeglichen. Erzählt wird aus Lust und Freude an der Sprache. Neben dem Sprachvermögen aber zählt in der Literatur das Erfahrene gleichviel mehr, der Raum des seelischen Gedächtnisses. Mich haben immer Bücher interessiert, die an meinen inneren Menschen appellierten, die mir das Labyrinth des Seelischen offenbarten, die mir halfen, mich zu orientieren.

Abgeirrt vom rechten Wege: Die Göttliche Komödie von Dante

Dantes Göttliche Komödie (geschrieben zwischen 1302 und 1321) ist eine traumatische Vision. Sie halluziniert das christliche Weltgericht. Dante, in persona der Protagonist expressis verbis, schaut auf einer einwöchigen Pilgerfahrt (in der Karwoche) durch die drei Reiche des Jenseits die Apokalypse der menschlichen Seele. Das Buch fiel mir als 15-Jähriger in einer Löbtauer Buchhandlung in die Hände, eine Schwarz-Weiße Reclam-Ausgabe in der Übersetzung von Karl Witte, einem deutschen Romanisten und Dante-Kenner des 19. Jahrhunderts und persönlichen Freund des sächsischen König Johann, der unter dem Pseudonym Philalethes eine eigene Übersetzung schuf. Unter dessen Schirmherrschaft gründeten er und andere sächsische Intellektuelle 1865 in Dresden die Deutsche Dante-Gesellschaft. Das aus 14.233 Versen bestehende Epos – eine Wanderung durch Hölle (Inferno), Fegefeuer (Purgatorio) und Paradies (Paradiso) – folgt ikonografisch dem mittelalterlichen Weltbild der Scholastik des freiheitsliebenden Thomas von Aquin. Aber es ist vor allem, neben der authentischen Personnage aus lebenden und verstorbenen Zeitgenossen sowie der antiken römischen Mythologie, eine auf Allegorien beruhende Terzinendichtung, in der sich Dante als Schauender und Sinnsucher offenbart. Dante vollzog eine Gesellschaftsanalyse und stellte ihre Akteure in den Zusammenhang zum religiösen Weltbild. Das ganz Eigene verbindet er so synthetisch zu einer literarischen Form, zu einer Klassifikation der seelischen Werte in der aufsteigenden Florentiner Gesellschaft, die sich im Bau der drei Jenseitsreiche wiedererkennen lässt. Das eigene Schicksal, die Verbannung aus Florenz und die Brandmarkung als Dissident, ist so innig mit dem Gesamtsystem der Ereignisse in der italischen Welt verbunden, das die Göttliche Komödie in allen Facetten repräsentativ wiederspiegelt. Etwas hat mich immer an Dantes Werk fasziniert: Seine Aktualität. Zwar sind seine konkreten Umstände und Schauplätze historisch, aber die menschliche Qualität, die in ihnen ausgesprochen wird, ist bis heute gültig und hoch brisant. Nicht nur die Romantik rezipierte die Göttliche Komödie begeistert. Das 20. Jahrhundert mit dem Holocaust und den beiden Weltkriegen überbietet in seiner Grausamkeit alle Vorstellungen, die Dante in der Hölle beschrieb. So ist auch Arno Schmidts fiktiver Brief an das Reichssicherheitshauptamt/Abteilung Lager an einen Herrn Dante zu verstehen (Die Wundertüte). Auch in der pandemischen Gegenwart finden sich immer mehr aktuelle Bezüge zum Inferno, das völkerweit und global sich vollzieht. Schließlich besteht alle archaische Vorstellungskraft, die wir heute noch in uns tragen, aus allen Elementen dantescher Mystik, gewissermaßen im Kollektiv-Unbewussten verankert und füllt die Seele jedes Menschen aus. Deshalb ist die Göttliche Komödie ein Seelendrama, ein Lehrgedicht von der Seele und den rechten Umgang mit ihr, das ihr ihren Weg weist.

Meine einsame Jugend mit Sartre

Angeregt durch die Lektüre französischer Gegenwartsliteratur (auf den Spuren des Nouveau Roman) und eigenen literarischen Versuchen stieß ich auf Jean Paul Sartres Roman Der Ekel, der den literarischen Existentialismus vorbereiten half. Antoine Roquentins fiktives Tagebuch bestätigte mich in meiner einsamen Jugend auf lustvolle und dramatische Weise. Das »Buch der absoluten Einsamkeit« erschütterte mich tief und bahnte mir den Weg durch die spießig-enge DDR. Ich, der ich mich als Außenseiter begriff, war unendlich beglückt. Da gab es im fernen Frankreich ein Herz, mit dem das meine im gleichen Takt schlug. Vor allem aber war der Roman ein sprachliches Erlebnis. Ich schrieb damals nach der Lektüre in mein Tagebuch: »Um zur eigentlichen Sprache zurückzukehren, die das Pathos verachtet, die in kurzen, knappen Sätzen den Leser alles mitteilen kann: Spott, Ironie, Anteilnahme, Absurdität, Wärme, eben ein Schicksal aus dem Munde des Dichters erzählt und wie gut erzählt!« Immer wieder habe ich darin gelesen, wenn sich auch die Perspektive von Mal zu Mal änderte, verschob und sich anders fokussierte. Für den Protagonisten des Romans verliert das eigene Leben plötzlich an Selbstverständlichkeit. Seine seelische Krise ist die Sinnkrise einer ganzen Generation. Seine Geliebte stößt ihn von sich, dem Autodidakten, einem der wenigen, mit denen er spricht, fühlt er sich intellektuell überlegen. Der Kellnerin, selbst einsam wie er, begegnet er nur auf der sexuellen Ebene. So vereinsamt er, scheitert über einer wissenschaftlichen Recherche an einem historischen Thema. Die Leere füllt Roquentin mit Beobachtungen, die zu einem Zeitbild werden. Das Tagebuch wird zum dialogischen Gegenüber. Auch politisch-philosophisch ändern sich seine Ansichten radikal, vor allem seine Einstellung zum modernen Humanismus: »Gut und nur gut sein, heißt allein ein Gott oder ein Pharisäer sein«, schrieb William Blake in seiner Schrift Das immerwährende Evangelium. Der Weg aus meiner Einsamkeit, das begriff ich erst später, bestand in der Hinwendung zur wirklichen literarischen Arbeit, in der alle Ströme der Gedanken zusammenfließen, die durch eine alles erfassende Neugier und ein echtes Interesse am Dasein beflügelt werden.

Literatur der Reflexion: Das Buch der Unruhe von Fernando Pessoas

Vom Schock des Einsamseins bei Sartre gelangte ich nach langer Zeit zur stilleren und tieferen Reflexion, indem ich analysierte und darüber las und schrieb. Die ständige Auseinandersetzung mit der Problematik der Angst (vielleicht klinisch sauber gesagt der Phobie) schliff mich ab und trug zu einer gewissen Anästhesie und Resilienz bei, die mir half, weiterzuleben. Nietzsche nannte das die »Überwindung«. In dieser ständigen, auch schriftlich fixierten Selbstanalyse, einem Hören in sich hinein, begegnete ich schließlich Fernando Pessoas Buch der Unruhe, in dem Intimes und Kosmisches, eine scharfe Beobachtung von Weltinnen- und Außenräumen zusammenfließen. Man kann sich den Blick über die Dächer von Lissabon vorstellen, vom Kontor aus, in dem der Erzählende als Hilfsbuchhalter arbeitete, dankbar seinem Chef, glücklich und froh über diesen kargen Broterwerb, der es ihm ermöglichte, frei und unabhängig zu denken und über das Leben philosophieren. Die Schilderungen des wechselnden Himmels über der Stadt, die Sicht auf das Meer und seine atmosphärischen Erscheinungen, aber auch die starken Eindrücke auf kurzen Dienstreisen, die in die Umgebung führten, inspirierten ihn zu einem Buch aus nummerierten Kapiteln, in denen er konzentrierte Psychogramme über das Dasein und dessen Deutungen abgibt. Die Einsamkeit, so begriff ich, der ich auch Pascal gelesen hatte, ist keine Schande, kein pathologischer Zustand, sondern ein positives Medium des Wachstums geistiger Kräfte, die auf ihre Weise in die Seele zurückfließen und sie stärken und selbständig machen. Vor allem aber stieß ich auf dem Weg durch das Buch auf eine besondere, knappe aber analysierende Art des Erzählens, die wie Aphorismen oder Sentenzen gebaut sind und eine Zeitlosigkeit vorgeben, die das Buch neben die großen Bücher der Weltliteratur stellen. Wie Sartre ist auch Pessoa ein Melancholiker gewesen, der wie besessen um den Sinn des Daseins grübelte und dabei selbst über die Grübelei entzückt war. Pessoa verbindet die fast malerisch genauen Naturbeschreibungen mit seiner seelischen Gestimmtheit, mit dem Fluss der Gedanken, der die eigene Einsamkeit hinter der spirituellen Kraft des Kosmos zurücktreten lässt und schließlich von ihr getragen wird. In meiner eigenen Einsamkeit begriff ich, das eine kosmologische Orientierung in meinem Fühlen und Denken zum Unisono mit mir und der Welt führt.

Gewaltig endet so das Jahr: Lyrik von Georg Trakl

Wenn man Georg Trakl seinen Lieblingsdichter nennt, kommt man leicht in Verdacht, dem Trinker und Drogensüchtigen zu huldigen. Zieht man das Problematische dieses Dichterlebens ab, so bleibt ein fest gefügtes, kompaktes Werk aus Gedichten, in denen die Farben des Malers leuchten, der Genuss des Weines und der herbstliche Rauch der Feuer lebendig werden. Immer ist bei Trakl das Gute in der heimlichen Natur verborgen, im säuselnden Wind, in den Bäumen, am Fluss, am Weiher – und das Grausame wird zur Metapher der Zeit um den Ersten Weltkrieg, in dem Trakl als Apotheker den Giftschrank einer Einheit verwaltete, sich ab und zu zum eigenen Bedarf in ihm bediente. Da ist auch das intime Verhältnis zu seiner Schwester Grete, das ihn in den Augen der Frömmler zum Dekadenten macht, ihn aber als Suchenden nach ein wenig Verstandensein und Liebe ausweist. Die finsteren Kanonaden der Krieges begleiteten ein erschreckendes Leben im Lazarett, in dem Trakl Dienst tat. Wenn es einen Ort gibt, an dem Trakl heute noch lebendig ist, so ist es Salzburg, das ich 1991 besuchte: die Gegend um die Getreidegasse und den Waagplatz, wo heute des Dichters gedacht wird. Trakls Ausstrahlung auf den lyrischen Expressionismus ist groß, wenn nicht entscheidend. Der Frühvollendete (er starb wohl an einer Überdosis) ist einer der Maler unter den Dichtern, dem Blau, Braun und Purpur seine liebsten Farben waren. In seinen Gedichten mischt sich der süße Geruch des Blutes mit den herbstlichen Feuern, dem toten Vater, der in der Kammer liegt, wo der Sohn um ihn wacht. Düsternis und dunkle Farben schwingen hier fast harmonisch miteinander. Das Unglück, in dem Trakl zum Dichter wuchs, befeuert ihn zum Schönen, das nie verklärt wird, sondern immer im Leben steht. Die Vernichtung in ihm und um ihn herum macht ihn zu einem Positiven, dem die Dichtung Halt und Widerstand bietet bis zuletzt, in seiner apokalyptischen Vision von Grodek: »Oh stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre/Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger/Schmerz,/Die ungebornen Enkel«. Trakl lehrte mich, das von einem in unglücklichen Umständen geschriebenen düsteren Gedicht durchaus ein wichtiger, positiver Impuls zum eigenen Schreiben  ausgehen kann.

In meiner Kammer kniet das Universum: Lyrik von Nelly Sachs

Der schwedische Schriftsteller und Kritiker Olof Lagercrantz schrieb im Nachruf auf den Tod von Nelly Sachs, der Nobelpreisträgerin von 1966: »[…] und zu zerschellen am Übermaß an Leid wird eine Erfahrung für immer mehr Menschen. Nelly Sachs gehört zu den Dichtern, die wir in der Zukunft am allermeisten brauchen«. Ich las den Gedichtband, der von Hilde Domin herausgegeben wurde, in einem Atemzug. Das unsägliche Leid der Schoa, dass die jüdische Dichterin erfasste, das Exil in Stockholm und die zunehmende Isolierung durch das Alter, gingen in ihre grandiosen Gedichte mit ihren blockhaften Metaphern ein, die nur mit Paul Celans Werk vergleichbar sind. Ihre erschütterte Sprache (die durch das Schwedische eine neue Dimension bekam) sind Epitaphien auf jüdisches Leid, gleichermaßen auf das Leid aller Anderen, Fremden. Die dicht mit der jüdischen Tradition verbundene Lyrik entwirft ein Seinsbild der Erinnerung an Verwandte, Freunde und Bekannte in den Lagern, aber auch an alles unbekannte Leid. Im Atelier eines guten Freundes fand ich an die Wand gepinnt jene schlichten, seherischen Verse: »In meiner Kammer / wo mein Bett steht / ein Tisch ein Stuhl / der Küchenherd / kniet das Universum wie überall / um erlöst zu werden / von der Unsichtbarkeit – / Ich mache einen Strich / schreibe das Alphabet.« Hier wird eine Dichterin aktiv, die das Alltägliche in ihre Dichtung hineinnimmt, abgesehen vom »sprachlichen Gegenpol« (Hilde Domin) zu »Völker der Erde«, einem Poem von globaler Ansprechbarkeit. Geist und Spiritualität gehören fest zusammen und dienen der Erhaltung, das Offensichtliche wie das Unsagbare, die Zeichen des Menschlichen sind. Aus der genügsamen Enge der Küche bricht sich die Poesie Bahn in die ferne, überall anwesende Welt des verborgenen Gottes, für jeden erreichbar, der sich Mühe macht, sich für ihn zu öffnen. Nelly Sachs hat mit ihrer Dichtung viele junge Verehrer/innen angezogen, die zu ihr nach Stockholm pilgerten, aber auch jene wie mich, die von der sensiblen Sprachmächtigkeit überwältigt wurden allein durch die Lektüre eines kleinen unscheinbaren Gedichtbandes aus der Bibliothek Suhrkamp. Was die Sachs lehrt, ist Größe in einer sich schützenden Selbstgenügsamkeit, die Rücknahme alles Unwesentllichen in einer erschütternden Metapher, die über die Zeit dauert.

Philippe Jaccottet: Der Spaziergang unter den Bäumen – die Poesie des Wirklichen

In einer Zeit der Rekonvaleszenz verbrachte ich meine Tage als Hilfsgärtner in einem Botanischen Garten. Die Offenbarung der Natur war ein langsamer, schmerzvoller Prozess. Der Genuss des Gartens wurden vorerst getrübt durch die Pflichterfüllung im Dienst an den Pflanzen, durch harte, schweißtreibende Erdarbeit. Erst später, nach meiner Entlassung, besuchte ich den Garten regelmäßig als normaler Gast und interessiert Schauender, was die eigentliche Genesung brachte. Plötzlich interessierte mich das Licht, das auf die Dinge fällt, seine besondere Fähigkeit zur Transparenz, die das Areal in eine bestimmte Grundstimmung hüllt und ein rätselhaftes Dahinter verspricht. Langsam kam ich ins Staunen. Der Flügel einer Libelle mit seinen vielfältigen Facetten oder jede x-beliebige Pflanze führten mich weg vom evolutionären Materialismus zur Annahme eines intelligenten Kosmos, in dem eine spirituelle Urkraft verborgen wirkt. Durch eine Malerfreundin stieß ich auf ein Buch von Philippe Jaccottet mit dem Titel Der Spaziergang unter den Bäumen. Der Band ist jedoch keine Ermunterung, sich mit der noch jungen Wissenschaft der Promenadologie zu beschäftigen, sondern ein Anruf an den Menschen, der seine Inspiration unter den Bäumen empfängt. Im Dialog von zwei Personen, dem »Einen« und einem »Anderen«, wird der Baum zum Gleichnis für das Geistige in der Natur. Der rätselhafte Text des in der Provence lebenden Schweizer Dichters (er verstarb in diesem Jahr 96-jährig) dreht sich um die geheime Kraft des Wirklichen, die keines Pathos bedarf. Das Holz des Baumes, aber auch die Äste und Zweige in ihrer Kahlheit bedürfen im Frühjahr des Lichts, um zu erwachen und ihre Botschaft an den Menschen zu versenden. Licht und Baum gehen ein Bündnis ein. Um diese Botschaft geht es Jaccottet, und ich empfing sie irgendwann vor oder nach der Lektüre dieses Buches, in dem es vor allem um die Dichtung geht, »diesen Schlüssel, den wir immer wieder verlieren müssen«. Das Licht ist das elementare Energetum, durch das alle Dinge sichtbar gemacht werden und ihre Wirklichkeit erfahren. In diesem Sinne sind alle Gedichte von Jaccottet, aber auch seine lyrische Prosa, immer sehr nahe am Wirklichen, einfach, karg, fast schlicht, wenn er Blumen oder Landschaften beschreibt, die in ihrer Vergänglichkeit blühen und vergehn und gerade dadurch schön sind. Der Zauber von Natur und Landschaft liegt bei Jaccottet im Einfachen, in einer genauen Beobachtung und im rechten, den Dingen angemessenem Wort, ohne Schwarmgeisterei oder Überhöhung. So tritt der Eindruck vor die Metapher, die Schilderung vor die Reflexion. Vergleiche mit dem Seelischen schöpfen ihre Anmut aus einem schlichten, naturnahen Empfinden, in denen die Dinge genauso wichtig genommen werden wie die Worte.

Es könnten hier noch eine Reihe weitere Bücher genannt werden, die mich menschlich, aber auch in meinem eigenen Schreiben beeinflusst haben. Oft ist es eine visuelle Sprache, die mich fasziniert und bis heute auf mein eigenes Schreiben Einfluss hat. In meiner journalistischen Arbeit und in der Auseinandersetzung mit Bildender Kunst fließt sehr viel davon ein, so dass meine Texte eher einer literarischen Qualität verpflichtet sind. Die Analyse und das Interpretieren von Bildern üben eine magische Kraft auf meine eigene literarische Kreativität aus. Bilder und Natur (das Atmosphärische) sind die Hintergründe, auf denen sich die Entstehung meiner Prosa und Lyrik vollzieht.

 

Letzten Monat lasen Sie Sechs Bücher aus dem Regal von Stephan Zwerenz.

Heinz Weißflog (*1952 in Dresden) studierte nach seiner Militärzeit in den siebziger Jahren Ethnologie an der Universität Leipzig und arbeitete danach als Museumsassistent bei den Kunstsammlungen Dresden. Seit dieser Zeit schreibt er auch Kunstrezensionen (damals für die Tageszeitung Die Union). 1985 kündigte er seine Stelle aus politischen Gründen. Es folgten Zeiten, in denen er in verschiedenen Brotberufen arbeitete oder arbeitslos war. Von 1989 bis 1993 war er Hilfsgärtner im Botanischen Garten. Ab 1993 arbeitete er dann als Kunstjournalist bei den Dresdner Neuesten Nachrichten, später auch für die SAX sowie verschiedene Literaturzeitschriften (u.a. Ostragehege). Er schreibt Gedichte und Prosa, sowie Essays über Kunst und Literatur, Kataloge und Kunstbücher.