Sechs Bücher aus dem Regal von Stephan Zwerenz
Stephan Zwerenz (c) Philipp Baumgarten
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07.05.2021
Stephan Zwerenz

Die Lesebiografie: Sechs Bücher aus dem Regal von Stephan Zwerenz

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Unsere Lektüre prägt unsere Persönlichkeit. In der Reihe »Die Lesebiografie« schreiben Menschen aus dem Kulturbetrieb über Bücher, die sie beeindruckt und geformt haben, und zeigen sechs Werke aus ihrem Regal, mit denen sie eine besondere Zeit ihres Lebens verbinden. Gute Literatur wirkt in uns lange nach, sie verbindet Menschen in ihren Empfindungen und begleitet sie manchmal ein Leben lang …

Entgegen dem Großteil meiner Vorgänger*innen in dieser Reihe ist es mir nicht sonderlich schwergefallen, eine Auswahl aus den zahlreichen Büchern zu treffen, die mich im Laufe meines Lebens maßgeblich prägten. Das mag sicher damit zusammenhängen, dass mir diese Aufgabe nicht gänzlich unbekannt ist. Tatsächlich wiederhole ich dieses Gedankenexperiment in unregelmäßigen Abständen schon seit einigen Jahren.

Im Laufe meines Philosophie- und Germanistikstudiums machte ich die Erfahrung, dass es möglich ist, sein komplettes Weltbild innerhalb weniger Monate grundlegend zu verändern, wenn man es nur zulässt. Ich empfand das als ungeheuer faszinierend und untersuchte von da an regelmäßig, wann es bei mir mal wieder soweit war. Ich fragte mich, was wohl der Auslöser dafür sein konnte, und in den meisten Fällen waren es neben den zahlreichen Erfahrungen, die ich machte, vor allem die Bücher, die mich die Welt mit anderen Augen sehen ließen. Allerdings sind dabei nicht nur die Werke an sich der Auslöser für den Perspektivwechsel gewesen, sondern das gesamte Umfeld, in dem ich mich zu dieser Zeit bewegte, die Dinge, mit denen ich mich beschäftigte und die Menschen, die ich traf. Das Buch selbst schien dabei stets wie ein Schlüssel zu funktionieren, der sozusagen die »Pforten der Wahrnehmung« zur richtigen Zeit öffnete.

Sicher hätte man in dieser Liste das ein oder andere Buch hinzunehmen oder weglassen können. Ich selbst sehe auf meine Auswahl und frage mich, weshalb eigentlich viele meiner Lieblingsautorinnen und Autoren darin gar nicht vorkommen. Gerade jene, denen ich den Großteil meiner Lesezeit widmete und die mir in Gedanken zu wahren Freunden geworden sind, fehlen. Was ist da los? Wo sind Kafka oder Kleist? Dostojewski, Hesse und Nietzsche? Wo sind Foucault, Sartre und Camus? Noch nicht einmal Jorge Luis Borges oder Heinz von Foerster sind dabei. Endlos könnte ich dieses Suchspiel weitertreiben und gleichwohl würde doch immer nur ein unvollständiges Mosaik entstehen, das verschwommen und unscharf bleibt.

Aus den trüben Erinnerungen tauchen stattdessen immer wieder ein paar Werke auf, die mir wie Handläufe Orientierung in meiner geistigen Entwicklung gaben. Sie zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie etwa in ihrem Genre besonders brillieren oder dass die Handlung oder die darin vorkommenden Charaktere einen besonderen Eindruck auf mich gemacht hätten. Ich glaube, der entscheidende Unterschied ist die Reaktion, die das Werk in mir auslöste.

Robert Shea und Robert Anton Wilson: Die Illuminatus!-Trilogie

Die Auseinandersetzung mit den Illuminatus!-Bänden haben tatsächlich meine Begeisterung für Literatur erst wirklich geweckt. Im Alter von 16 Jahren habe ich noch nicht sonderlich viel gelesen. Dafür habe ich gerade mit dem Kiffen angefangen, mich mit verschiedenen Religionen auseinandergesetzt, exzessiv Rockmusik aus den 60er und 70er Jahre gehört und mich plötzlich für Politik interessiert. Es war im Jahr 2003, alle redeten von 9/11, dem globalen Terrorismus, dem Untergang der westlichen Welt. Georg W. Bush jr. hatte dem Irak den Krieg erklärt und das Internet war endlich bis in die ostdeutsche Provinz vorgedrungen, in der ein paranoider Jugendlicher die Nächte damit verbrachte, Verschwörungstheorien im Internet nachzujagen.

Auf der Suche nach neuem Input – also quasi ganz kurz vor der großen Erkenntnis, die mich dazu befähigte endlich alle offenen Geheimnisse restlos aufzudecken – bin ich schließlich auf den absoluten Klassiker der Verschwörungsliteratur gestoßen: Illuminatus! von Robert Shea und Robert Anton Wilson aus den 70er Jahren. Das Ausrufezeichen im Titel verriet bereits, dass es sich hierbei um kein normales Buch handelte. Im Klappentext wurden die Leser*innen explizit dazu angehalten, selbst zu denken und nach Erleuchtung zu suchen.

Das klang vielversprechend für einen Roman und schon auf den ersten Seiten wurde ich von einer gewissen Euphorie gepackt, die sich mit Verwirrung und Verunsicherung mischte. Die Autoren änderten mitten im Satz einfach das komplette Erzählsystem. Dann plötzlich wieder ein paar Einschübe von verschiedenen anderen Handlungssträngen, die mit den vorangegangenen Charakteren ganz offensichtlich überhaupt nichts zu tun hatten (zum Beispiel die Geschichte eines Eichhörnchens, das im Central Park um einen Baum rannte). Ich konnte es nicht glauben. Ich las die ersten Seiten wieder und wieder, weil ich dachte, ich hätte irgendetwas nicht verstanden. Aber genau das gehörte zum Konzept des Buches. Und plötzlich kam die Erkenntnis: Ein Lächeln ging über meine Lippen und ich begriff, dass Literatur auch Spaß machen und trotzdem intellektuell sein konnte. Und sogar mehr als das: Das war Anarchie, das war Freiheit, das war Rock’n’Roll.

Da wurde mal eben von der dritten Person Gegenwart plötzlich in die erste Person Präteritum gewechselt. In dem einen Moment wird ein LSD-Trip beschrieben, im nächsten Moment wird eine Handlung erzählt, die bereits 300 Jahre zurückliegt und ein abstruses Ritual merkwürdiger Sektenmitglieder schildert. Im Laufe des Buches tauchte eine unvorstellbare Anzahl von fiktiven und realen Charakteren und Ereignissen auf. Man brauchte ein Lexikon, um die Masse an Anspielungen zu verstehen. Orte, Personen und Handlung hatten keine zusammenhängende Bedeutung mehr in diesem nicht enden wollenden Flimmern rauschhafter Halluzinationen. Oder standen sie nicht vielmehr in einer Beziehung, die ich nur noch nicht begriff? Alles musste hinterfragt werden. Nichts galt als selbstverständlich.

Dadurch wurde ich plötzlich zum aufmerksamen und wissbegierigen Vielleser. Ich wollte ja schließlich alles begreifen und recherchierte Hintergründe, las jede Seite so aufmerksam wie möglich, bis ich wirklich jeden noch so wirren Gedanken für mich begreifen konnte. Dazu musste man aber erst einmal verstehen, in welcher Zeitebene man sich gerade befand. Tatsächlich wussten das die Autoren oftmals selber gar nicht. Es war eigentlich auch völlig egal, wenn man die Intention hinter dem Werk einmal begriffen hatte. Den Autoren ging es nämlich darum, Verschwörungstheorien als das zu behandeln, was sie wirklich sind, nämlich meist völlig abstruse aber spannende Geschichten. Das Resultat ist eine durchgeknallte Melange aus Science-Fiction, Fantasy, Esoterik, Krimi, Polit-Thriller und einer ordentlichen Portion Trash.

Natürlich war ich am Anfang auch der paranoide Leser, der die Verschwörung des geheimnisumwobenen Illuminatenordens aufdecken wollte. Ich suchte überall in meiner Umgebung nach Verbindungen und Zusammenhängen. Ich bezweifelte scheinbar selbstverständliche geschichtliche Fakten und fing an das Weltgeschehen, die Religionen, aber auch meine eigenen Wahrnehmungen kritisch zu hinterfragen und skeptisch zu beleuchten. Das völlig überraschende an dem Werk ist aber das Ende (keine Angst: man kann nicht wirklich spoilern!). Alles läuft darauf hinaus, dass man Verschwörungstheorien selbst hinterfragen muss und diese Wahnvorstellungen nicht leichtgläubig mit der Wahrheit verwechseln darf. Denn gerade diese paranoiden Erzählungen und Ideologien schieben sich über die Realität und lenken somit von den echten Verschwörungen ab. Wenn man die Geschehnisse in der Welt wirklich begreifen wolle, müsse man sich erst einmal über dessen Komplexität bewusstwerden. Das ist die Erleuchtung am Ende des Buches, die auch mich die Welt mit anderen Augen sehen ließ.

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

Die größte literarische Entdeckung während meines Studiums war definitiv Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Nahegebracht hatte mir dieses Werk der großartige Klaus Schuhmacher, ein dandyhafter Ästhet, der sich in seiner Rolle als Germanistikprofessor einmal selbst als »Verführer« bezeichnete. Dieser setzte kurz vor seiner Emeritierung sein Lieblingswerk auf den Lehrplan, das er uns in einem Sonderseminar unbedingt noch einmal nahebringen wollte.

Um in Musils Gedankenwelt einzusteigen, zeichnete er zunächst Dreiecke, Kreise und Vierecke an die Tafel, die die unmögliche Verortung von Österreichs Identität darstellen sollte. Die könne man jedoch mit euklidischer Geometrie gar nicht erfassen, meinte er dann. Zum Glück sei Musil aber ein begnadeter Ingenieur gewesen und war dementsprechend auch mit imaginären Zahlen vertraut. Ich wäre in diesem Moment gern an seiner Stelle gewesen und hätte in all die nichtssagenden Gesichter blicken wollen. Unbeeindruckt und mit ungebremster Leidenschaftlichkeit führte er seine Gedanken weiter aus. Anschließend ließ er eine nicht enden wollende Liste herumgehen mit einer groben Einteilung von Motiven, die wir in Musils Werk entdecken konnten. Jeder einzelne Punkt stellte dabei ein Thema für eine mögliche Seminararbeit dar. Bereits da deutete sich die Unerschöpflichkeit dieses Werkes an, die ich an dieser Stelle nicht ansatzweise wiedergeben kann.

Das faszinierendste an diesem Mammutprojekt war für mich, dass es Musil gelungen ist, die Möglichkeiten des Romans neu auszuloten und dabei die Komplexität der stofflichen und nicht-stofflichen Welt spürbar zu machen. Seine Art zu erzählen und zu denken unterscheidet sich von allem, was ich vorher und auch danach gelesen habe. Seine Reflexionen scheinen aus anderen Sphären zu stammen. Der Erzähler schwebt förmlich durch einen Kosmos von Möglichkeiten und Wirklichkeiten. Er lässt uns eins werden mit der scheinbaren Widersprüchlichkeit des Daseins. Seine Kapitel sind eigenständige Essays, die mit wissenschaftlicher Präzision und zugleich schriftstellerischer Eleganz die Geheimnisse des menschlichen Lebens untersuchen. Dabei gelingt es ihm immer wieder neue Perspektiven zu eröffnen, um sie sogleich wieder zu verwerfen. Seine Reflexionen sind einfach überirdisch. Ich würde Der Mann ohne Eigenschaften gern wieder und wieder lesen.

Charles Bukowski: Gedichte

In meinem Freundeskreis war während meines Studiums Charles Bukowski ziemlich angesagt, könnte man sagen. Ich war zwar lange Zeit interessiert, auch mal was von ihm zu lesen. Es sollten aber noch ein paar Jahre ins Land ziehen, bis ich mich an den »Dirty Old Man« heranwagte. Ich wusste ja noch nicht, was mir entging. Zunächst glaubte ich, dass da ein alter Mann nur von seinen Saufabenteuern schwärmte und davon erzählte, wie er sich mit Prostituierten vergnügte. Was war ich naiv!

Vor allem in seinen Gedichten zeigt sich Bukowskis wahres Genie. Er ist ein Meister der Verdichtung. Aus seinen Texten spricht die Weisheit eines Mannes, der auch die untersten Schichten der Gesellschaft erlebt hat. Sein Ton ist zwar meistens ziemlich rau, dennoch urteilt er nicht von oben herab über die sogenannten Parias. Vielmehr ist sein Blick einfühlsam und voller Verständnis für die verhängnisvollen Situationen, in die sich die meisten Menschen, über die er schreibt, scheinbar selbst hineinmanövriert haben. Bei genauerer Betrachtung deckt Bukowski blinde Flecken in der Gesellschaft auf. Von zwischenmenschlichen Miseren bis zur Entblößung des an sich selbst krankenden American Dream thematisiert er alles, was das Leben hergibt und so grotesk erscheinen lässt. Dabei gelingt es ihm in nur wenigen Sätzen Persönlichkeiten lebendig und detailliert herauszuarbeiten, die im gescheiterten Kampf des gesellschaftlichen Aufstiegs eigentlich niemals eine realistische Chance hatten.

Seine eigene Lebensweise und Ansichten würden manche sicher als asozial bezeichnen. Man muss sich nichts vormachen: Er war ein trauriger Säufer, der einen frustrierenden Job nach dem anderen aufgab, um anschließend an der Theke über den Sinn des Lebens nachzudenken oder dem Arschloch von Barkeeper eine reinzuhauen. Im Grunde wohnen seinen Geschichten aber etwas Heiliges inne. Sie holen uns zurück in die Realität und offenbaren der Leserschaft die Bedeutsamkeit des Alltäglichen. Jede Kleinigkeit ist es wert, darüber zu berichten, jeder Mensch wert über ihn zu schreiben. Er gibt denen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden, nämlich den Ausgebeuteten, den Armen, den Traurigen und Verrückten, den Hoffnungslosen, den einfachen Menschen. Und er zeigt ihre vergeblichen Bemühungen aus dem Elend zu entkommen, Frieden zu finden und ein paar kurze Momente des Glücks zu erleben, bevor sie am nächsten Tag wieder auf der Arbeit erscheinen müssen, die sie hassen. Trotz der ganzen Tragik in seinen Geschichten bleibt am Ende doch immer ein Gefühl seliger Hoffnung übrig.

Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen

Es gibt viele lesenswerte Bücher über die Shoa, die die Entsetzlichkeit der nationalsozialistischen Massenmorde eindringlich darstellen. Als ich Eichmann in Jerusalem las, ist mir persönlich aber zum ersten Mal das volle Ausmaß dieser organisierten Verbrechen wirklich bewusstgeworden. Dieser ganze Apparat, den sich die Nazis erdacht und umgesetzt haben, hat Arendt auf erschreckend anschauliche Art und Weise dargestellt.

In meiner Erinnerung wurde uns das Konzentrationslager im Schulunterricht immer als etwas »Fertiges«, beinahe Steriles präsentiert, so als hätte es derartige Einrichtungen schon immer gegeben. Bei der Lektüre von Arendts Buch ist mir aber mehr und mehr bewusstgeworden, dass eine ganze Gesellschaft dazu nötig war, um diese schreckliche Erfindung hervorzubringen. Architekten, Banker, Ingenieure, Transportunternehmen, Politiker, Intellektuelle, Händler, Industrielle, Ärzte, Soldaten, Bauarbeiter, Investoren, Polizisten und Behörden arbeiteten gemeinsam daran, ein ganzes Volk zu vernichten, nachdem sie ihre Besitztümer unter sich aufteilten, sie versklavten und selbst ihre toten Körper als Bausubstanz verwendeten.

Das Grauen hinter einem Akt bürokratischer Ordnung und Arbeitsteilung zu verstecken, bezeichnete Hannah Arendt mit dem Begriff der »Banalität des Bösen«. Ich nahm ihn fortan als das eigentlich Dämonische an dieser Vernichtungsmaschinerie wahr. Mir waren zur Zeit der Lektüre bereits das Milgrim- und auch das Stanford-Prison-Experiment, sowie das Buch LTI von Victor Klemperer bestens vertraut, weshalb ich in der »Banalität des Bösen« eben keine Entschuldigung der Täter sah, so wie es viele Kritiker Arendt später vorwarfen. Vielmehr beschreibt sie meiner Meinung nach sehr deutlich, wie die Nazis Sprache und psychologische Effekte der Bürokratie nutzten, um sich selbst von jeglicher Schuld freizusprechen und alle Zweifel an den eigenen Handlungen auszuräumen. Sie taten dies mit Kalkül, um ihrer fanatischen Ideologie bis in die letzte Konsequenz zu folgen.

Durch Arendts scharfsinnige Analysen, aber auch durch die stilistische Vermischung aus Psychogramm, Verhandlungsbericht, präziser geschichtlicher Aufarbeitung und politischer Theorie entsteht ein lebendiges Bild von den Drahtziehern, aber auch von den Mitläufern in diesem Apparat, der über ganz Europa hinweg agierte. Und auch wenn sich Arendt bei der Einschätzung Eichmanns irrte, ist der Begriff von der »Banalität des Bösen« keineswegs falsch, da er den Befehlsapparat und die Mechanismen des Holocaust ausgezeichnet beschreibt (Zur Erklärung: Eichmann hatte sich als willenloser Beamter inszeniert, der nicht aus freien Stücken handelte. Dass sein Auftreten eine geschickte Täuschung war, ging aus den Aufzeichnungen von Avner Less hervor, der ihn 275 Stunden lang verhörte.) Eichmann in Jerusalem ließ mich auf die Vergangenheit und die Gegenwart Deutschlands mit anderen Augen blicken.

Michael Meinicke: Ostkreuz

Die DDR war für mich lange Zeit ein Buch mit sieben Siegeln. Ich hatte bis auf wenige Erzählungen meiner Eltern und ein paar Fotografien kein Bild von diesem Kapitel unserer jüngsten Geschichte. Selbst im Geschichtsunterricht wurde die DDR in meiner Schulzeit überhaupt nicht thematisiert. Im Studium lernte ich dann den Schriftsteller Michael Meinicke kennen. Mein guter Freund Philipp Baumgarten organisierte eine Lesung für ihn und Hadayatullah Hübsch. Hübsch aber starb kurz vor der Lesung, weshalb der Gedenkabend, der daraus wurde, leider unter einem sehr traurigen Vorzeichen stand. Allerdings redete sich Michael Meinicke mit dem Künstler Eckhard Kempin in eine Art Rausch, in dem lebendige Geschichten über die Underground-Kultur-Szene der DDR vor meinem inneren Auge entstanden. Mittlerweile sind zehn Jahre vergangen, wir sind gute Freunde und seine Geschichten nehmen einfach kein Ende. Viele davon hat er in Büchern verarbeitet.

Meinickes Ostkreuz war für mich schon eine Art Erweckungserlebnis. Nicht nur die plastische Darstellung des Lebensgefühl der DDR-Gegenkultur wirkte rauschhaft auf mich, auch der flotte Erzählstil im Stil der Beat Generation inspirierte mich nachhaltig. Jeder Satz hatte Rhythmus und donnerte wie ein rollender Güterzug über die Seiten. Doch anders als etwa in Jack Kerouacs On the Road endete die Freiheit in Meinickes Buch an den Schlagstöcken der Volkspolizei. Als er 24 war, wurde er für zwei Jahre ins Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen gesperrt. Er hatte sieben Gedichte geschrieben, die dem Regime als »staatsfeindlich« erschienen. Nach der Haft wollte er seinem Land schlussendlich den Rücken kehren, durfte es aber auf legalem Weg nicht verlassen. Deshalb floh er im Kofferraum eines kleinen Ford nach West-Berlin.

Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht

Tatsächlich habe ich das Grundlagenwerk der zweiten Welle des Feminismus eines Tages auf der Straße gefunden. Ich hatte von dem Titel bereits in einem Seminar über Gender Studies gehört und wollte es deshalb unbedingt lesen. Bis zur Lektüre hat es dann doch noch einige Jahre gedauert. 900 Seiten Theorie lesen sich schließlich auch nicht so schnell weg. Was ich dann vorgefunden habe, hat mich wirklich zutiefst beeindruckt. Vor allem die Quellenarbeit von Beauvoir, die Dichte an Stoff, die gewaltige Brandbreite an kulturwissenschaftlichen Perspektiven, die lebensweltliche Nähe und die Unmittelbarkeit des Themas und ihrer Beschreibungen zogen mich sofort in ihren Bann. Wenn Beauvoir zum Beispiel die Darstellung der Frau in den Büchern männlicher Autoren untersucht, dann beschränkt sich ihre Analyse nicht auf ein einzelnes Buch, sondern sie schöpft aus dem kompletten Werk der Autoren, kennt ihre Lebensgeschichten scheinbar auswendig und weiß ihre Beweggründe historisch präzise einzuordnen. Dabei erklärt sie vermeintlich beiläufig zeitgeschichtliche Gepflogenheiten und öffnet Exkurse in die letzten 2000 Jahre Kulturgeschichte. Ich habe mich beim Lesen die ganze Zeit gefragt: Wo nimmt diese Frau ihr ganzes Wissen eigentlich her? Es mutet schon beinahe unheimlich an.

Überdies hat mir das Buch eine neue Perspektive auf die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft geschenkt. Als Mann, der noch in den letzten Atemzügen der DDR geboren wurde und sein Leben lang in Ostdeutschland gelebt hat, wirkt die Gleichberechtigung der Frau schon fast als etwas Selbstverständliches. Ich hatte lange Zeit nur eine dunkle Ahnung davon gehabt, wie tief diese Ungerechtigkeit in Wirklichkeit war, wie anders die Zustände noch vor ein paar Jahren aussahen und wie die Ungleichheit auch heute noch keineswegs verschwunden ist.

Nach der Lektüre von Das andere Geschlecht ist mir die Härte und die Mühsal dieses Kampfes, den Frauen um Gleichberechtigung führen mussten, erstmals wirklich spürbar geworden. Gleichzeitig wuchs in mir das Unverständnis darüber, wie Männer es fertigbringen konnten, Frauen über Jahrtausende auf so unmenschliche Art und Weise zu unterdrücken und ihnen jegliche Möglichkeit zur freien Selbstbestimmung nehmen konnten. Ich wünsche mir sehr, dass sich mehr Männer zu feministischen Themen positiv äußern. Schließlich geht es hier um das Wohl ihrer Schwestern, ihrer Mütter, ihrer Partnerinnen, Töchter, Freundinnen und Kolleginnen. Ich verstehe nicht mehr, warum manche Männer so tun, als würde sie das Problem der Geschlechtergerechtigkeit nichts angehen.

Simone de Beauvoir endet ihr Buch mit zwei Sätzen, mit denen auch ich an dieser Stelle enden will: »Es ist Aufgabe des Menschen, dem Reich der Freiheit inmitten der gegebenen Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Damit dieser höchste Sieg errungen werden kann, ist es notwendig, daß Männer und Frauen über ihre natürlichen Unterschiede hinaus unmißverständlich ihre Brüderlichkeit behaupten.«

Letzten Monat lasen Sie Sechs Bücher aus dem Regal von Andrea O’Brien.

Stephan Zwerenz (*1987 in Gotha) studierte Literatur- und Kulturwissenschaften, sowie Philosophie in Dresden. Er ist seit 2010 als freier Schriftsteller, Künstler und Kurator tätig. Als Gründungsmitglied des Hole of Fame in Dresden gestaltet er in erster Linie das Literaturprogramm, kuratiert und organisiert dort aber auch andere Veranstaltungen wie etwa Konzerte, Ausstellungen, Vorträge, Workshops und genreübergreifende Projekte. Zur Zeit arbeitet er vor allem als freier Journalist, Kolumnist und Dramaturg in Dresden.